Entscheidungsdatum
10.06.2021Norm
Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1Spruch
W261 2238176-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER sowie die fachkundige Laienrichterin Dr.in Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , vertreten durch den KOBV – Der Behindertenverband für Wien, NÖ & Bgld., gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 17.11.2020, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird ersatzlos behoben.
Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" in den Behindertenpass liegen vor.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin ist seit 28.07.2020 Inhaberin eines Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 50 von Hundert (in der Folge v.H.).
2. Am 28.07.2020 stellte die Beschwerdeführerin, bevollmächtigt vertreten durch den KOBV- Der Behindertenverband für Wien, NÖ & Bgld. (in der Folge: „KOBV“ genannt), beim Sozialministeriumservice (in der Folge „belangte Behörde“ genannt) einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29 b Straßenverkehrsordnung (StVO) (Parkausweis), der entsprechend dem von der belangten Behörde zur Verfügung gestellten und von der Beschwerdeführerin ausgefüllten Antragsformular auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gilt und legte eine Reihe von ärztlichen Befunden vor.
3. Die belangte Behörde holte in weiterer Folge ein Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 22.10.2020 erstatteten Gutachten vom selben Tag stellte die medizinische Sachverständige fest, dass die Beschwerdeführerin an einer Kniegelenksprothese rechts sowie Abnützungserscheinungen des linken Kniegelenks, Bewegungseinschränkungen beider Hüftgelenke, degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und Hypertonie mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 von Hundert (v.H.) leide, jedoch die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass aus medizinischer Sicht nicht vorlägen.
4. Die belangte Behörde übermittelte das genannte Gutachten der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 23.10.2020 im Rahmen des Parteiengehörs und räumt ihm die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben.
5. Die Beschwerdeführerin, vertreten durch den KOBV, machte mit einem Schreiben vom 09.11.2020 von diesem Recht Gebrauch und führte aus, dass nicht berücksichtigt worden sei, dass die Beschwerdeführerin mindestens eine Stützkrücke benötige, um überhaupt gehen zu können. Das linke Knie sei schwer beschädigt, sie leide an chronischen Schmerzen. Erschwerend käme auch noch die Polyneuropathie an den unteren Extremitäten hinzu. Die Beschwerdeführerin müsse orthopädische Schuhe mit einem hohen Absatz tragen. Es sei ihr nicht zumutbar, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen. Es werde beantragt, eine neuerliche Überprüfung durchzuführen.
6. Die befasste medizinische Sachverständige führte über Ersuchen der belangten Behörde in deren Stellungnahme vom 16.11.2020 ergänzend aus, dass keine neuen Befunde nachgereicht worden seien, und das Vorbringen der Beschwerdeführerin keine neuen Erkenntnisse aufweise. Höhergradige Einschränkungen der Gehfähigkeit hätten bei der medizinischen Untersuchung nicht objektiviert werden können. Das Vorliegen einer Polyneuropathie sei befundmäßig nicht ausreichend belegt.
7. Die belangte Behörde informierte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 17.11.2020 darüber, dass ihr ein Behindertenpass mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H. und den Zusatzeintragungen: „Der Inhaber/die Inhaberin kann Fahrpreisermäßigungen nach dem Bundesbehindertengesetz in Anspruch nehmen“ und „Der Inhaber/die Inhaberin des Passes ist TrägerIn einer Prothese“, ausgestellt werde.
8. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17.11.2020 wies die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gemäß §§ 42 und 45 BBG ab.
Darüber hinaus führte die belangte Behörde anmerkend aus, dass über den Antrag auf Ausstellung eines § 29b-Ausweises nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht abgesprochen werde, da die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass nicht vorliegen würden.
Die belangte Behörde schloss dem genannten Bescheid die ergänzende Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen vom 16.11.2020 in Kopie an.
9. Die belangte Behörde übermittelte der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 20.11.2020 den Behindertenpass.
10. Gegen den Bescheid vom 17.11.2020 erhob die Beschwerdeführerin, vertreten durch den KOBV, fristgerecht die gegenständliche Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.
Darin brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, dass die medizinische Sachverständige nicht ausreichend auf die chronischen Schmerzzustände eingegangen sei. Die Beschwerdeführerin leide an einer Claudicatio spinalis, welche mit starken Schmerzzuständen einhergehe. Infolge dieser Gesundheitsschädigung sei die Gehstrecke eingeschränkt und es seien schmerzbedingte Pausen notwendig. Zudem habe die Beschwerdeführerin kaum Kraft in den Beinen und benötige aufgrund der Sturzgefahr mindestens eine Stützkrücke. Es sei ihr nicht möglich, in ein öffentliches Verkehrsmittel ein- oder auszusteigen. Die Beschwerdeführerin schloss der Beschwerde einen weiteren medizinischen Befund an.
11. Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 29.12.2020 vor, wo dieser am selben Tag einlangte.
12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.12.2020 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach die Beschwerdeführerin österreichische Staatsbürgerin ist, und ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.
13. Das Bundesverwaltungsgericht ersuchte mit Schreiben vom 29.01.2021 eine Fachärztin für Unfallchirurgie/Orthopädie und Ärztin für Allgemeinmedizin um Erstellung eines Sachverständigengutachtens auf Basis einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin.
14. In deren medizinischen Sachverständigengutachten vom 30.04.2021 (eingelangt beim BVwG am 19.05.2021), basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 11.03.2021, kommt diese zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass es der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Behinderungen nicht mehr zuzumuten ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
15. Das Bundesverwaltungsgericht informierte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 20.05.2021 über das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens und räumte dieser die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.
16. In deren Stellungnahme vom 01.06.2021 brachte die Beschwerdeführerin, vertreten durch den KOBV, vor, dass die medizinische Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen sei, dass ihr die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei, und sie um beschleunigte Ausstellung eines positiven Erkenntnisses ersuche.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Die Beschwerdeführerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die Beschwerdeführerin hat ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland und besitzt einen Behindertenpass.
Der Beschwerdeführerin ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar.
Art und Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin:
Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut.
Größe 166 cm, Gewicht 80 kg, Alter: 76 a
Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen Thorax: symmetrisch, elastisch, Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA HAT rein, rhythmisch. Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz. Integument: unauffällig.
Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:
Linkshänderin. Der Schultergürtel steht horizontal, symmetrische Muskelverhältnisse. Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden. Sämtliche Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Schultern, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig. Nacken- und Schürzengriff sind endlagig eingeschränkt durchführbar.
Becken und beide unteren Extremitäten:
Freies Stehen sicher möglich, Zehenballenstand und Fersenstand beidseits mit beidseitigem Anhaften und ohne Einsinken kurz durchführbar. Der Einbeinstand ist mit beidseitigem Anhalten möglich. Die tiefe Hocke ist nicht möglich. Beinachse zeigt eine mäßige Varussteflung des linken Kniegelenks. Symmetrische Muskelverhältnisse mit mäßiger Verschmächtigung beidseits. Beinlange nicht ident, links -2 cm. Die Durchblutung ist ungestört, keine Ödeme, beidseits Varizen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Beschwielung ist in etwa seitengleich.
Hüftgelenk beidseits: Narbe bei Hüfttotalendoprothese beidseits, kein Stauchungsschmerz, Beugeschmerzen und Rotationsschmerzen.
Kniegelenk rechts: Narbe bei Knietotalendoprothese, mäßige Umfangsvermehrung, keine Überwärmung, Patella verbacken, stabil, endlagige Beugeschmerzen.
Kniegelenk links: mäßige Varusstellung, Umfangsvermehrung und Konturvergröberung, geringgradige Überwärmung, Patella verbacken, Krepitation und Bewegungsschmerzen.
Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Hüften S beidseits 0/90, IR/AR 5/0/20, Knie beidseits 0/5/110, Sprunggelenke und Zehen sind seitengleich frei beweglich. Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 40 0 möglich.
Wirbelsäule:
Schultergürtel und Becken stehen horizontal in etwa im Lot, regelrechte Krümmungsverhätnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, deutlich Hartspann, Klopfschmerz über der gesamten LWS.
Aktive Beweglichkeit:
HWS: in allen Ebenen frei beweglich.
BWS/LWS: FBA: nicht durchgeführt, Rotation und Seitneigen 20 0, Lasegue beidseits negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mitteliebhaft auslösbar.
Gesamtmobilität — Gangbild:
Kommt selbständig gehend mit Freizeitschuhen ohne Einlagen und ohne Längenausgleich mit einer Unterarmstützkrücke, das Gangbild ist verlangsamt, Nachstellschritt rechts, Schrittlänge links nicht ganz eine Fußlänge, Spur geringgradig verbreitert, leicht vorgeneigt, Gehen mit einer Krücke möglich, teilweise mit Anhalten, behäbig und verlangsamt, Richtungswechsel mit Anhalten. Das Aus- und Ankleiden wird selbständig im Sitzen durchgeführt.
Status psychicus: Allseits orientiert; Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb unauffällig; Stimmungslage ausgeglichen.
Die Beschwerdeführerin hat folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
- Kniegelenksprothese rechts, Abnützungserscheinungen linkes Kniegelenk
- Hüftotalendoprothese beidseits
- degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie beidseits
- Hypertonie
- Polyneuoropathie-Syndrom
Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel:
Im Zusammenwirken führen die Abnützungserscheinungen im Bereich der Hüft- und Kniegelenke bei Zustand nach Prothesenimplantation bzw. fortgeschrittenen Abnützungserscheinungen des linken Kniegelenks, auch unter Anbetracht des fortgeschrittenen Alters und der mäßigen muskulären Schwäche, zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Funktionen der unteren Extremitäten.
Die Beschwerdeführerin leidet dauerhaft an Schmerzen, welche zu maßgeblichen funktionellen Einschränkungen führen. Gangbildbeeinträchtigungen und Gehleistungsminderung erschweren das Erreichen und Benützen öffentlicher Verkehrsmittel maßgeblich.
Das Überwinden von Niveauunterschieden ist erheblich erschwert. Das Fortbewegen und die Sitzplatzsuche im öffentlichen Verkehrsmittel ist erheblich erschwert.
Es liegt eine erhebliche Erschwernis vor, größere Entfernungen von 300 bis 400 Metern zurückzulegen.
Zumutbare therapeutische Optionen und Kompensationsmöglichkeiten liegen nicht vor.
Dies ist ein Dauerzustand.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zu den allgemeinen Voraussetzungen, dem Wohnsitz der Beschwerdeführerin im Inland und zum Behindertenpass ergeben sich aus dem diesbezüglich unbedenklichen, widerspruchsfreien und unbestrittenen Akteninhalt.
Die Feststellungen zu Art, Ausmaß und Auswirkungen der Funktionseinschränkungen auf die Zumutbarkeit zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gründen sich – in freier Beweiswürdigung – in nachstehend ausgeführtem Umfang auf die vorgelegten und eingeholten Beweismittel:
Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie/Orthopädie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 30.04.2021, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 11.03.2021, ist schlüssig und nachvollziehbar, es weist keine Widersprüche auf. Es wird auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen. Auch wird zu den Auswirkungen der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel eingehend Stellung genommen und nachvollziehbar ausgeführt, dass es der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Erkrankungen und Funktionseinschränkungen nicht möglich und zumutbar ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Damit bestätigt die medizinische Sachverständige das Vorbringen der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde. Das genannte medizinische Sachverständigengutachten wurde den Parteien des Verfahrens im Rahmen des Parteiengehörs zur Stellungnahme übermittelt und blieb unbestritten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
1. Zur Entscheidung in der Sache:
Der Vollständigkeit halber wird zunächst darauf hingewiesen, dass mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 17.11.2020 der Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gemäß §§ 42 und 45 Bundesbehindertengesetz idgF BGBl I Nr. 100/2018 (in der Folge kurz BBG) abgewiesen wurde. Verfahrensgegenstand ist somit nicht die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung, sondern ausschließlich die Prüfung der Voraussetzungen der Vornahme der beantragten Zusatzeintragung.
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:
§ 42 (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
…
§ 45 (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
…
§ 47 Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpass und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“
§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, idg F BGBl II Nr. 263/2016 lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:
„§ 1 ….
(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:
1. …….
2. ……
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d
vorliegen.
(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(6)……“
In den Erläuterungen zu § 1 Abs. 2 Z 3 zur Stammfassung der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II Nr. 495/2013 wird unter anderem - soweit im gegenständlichen Fall relevant - Folgendes ausgeführt:
"Zu § 1 Abs. 2 Z 3 (neu nunmehr § 1 Abs. 4 Z. 3, BGBl. II Nr. 263/2016):
…
Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.
…
Erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit betreffen vorrangig cardiopulmonale Funktionseinschränkungen. Bei den folgenden Einschränkungen liegt jedenfalls eine Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor:
- arterielle Verschlusskrankheit ab II/B nach Fontaine bei fehlender therapeutischer Option
- Herzinsuffizienz mit hochgradigen Dekompensationszeichen
- hochgradige Rechtsherzinsuffizienz
- Lungengerüsterkrankungen unter Langzeitsauerstofftherapie
- COPD IV mit Langzeitsauerstofftherapie
- Emphysem mit Langzeitsauerstofftherapie
- mobiles Gerät mit Flüssigsauerstoff muss nachweislich benützt werden..."
Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).
Bei der Beurteilung der zumutbaren Wegstrecke geht der Verwaltungsgerichtshof von städtischen Verhältnissen und der durchschnittlichen Distanz von 300 bis 400 Metern bis zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels aus (vgl. das Erkenntnis vom 27. Mai 2014, Zl. Ro 2014/11/0013).
Wie oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt – auf die diesbezüglichen Ausführungen wird verwiesen -, wurde im eingeholten Sachverständigengutachten vom 30.04.2021, beruhend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 11.03.2021, nachvollziehbar bestätigt, dass im Fall der Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass vorliegen. Mit dem Vorliegen der bei der Beschwerdeführerin objektivierten aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen vermag diese, wie in ihrer Beschwerde richtig angeführt, die Überschreitung der Schwelle der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im Sinne der Bestimmung des § 1 Abs. 4 Z 3 der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen darzutun.
Da festgestellt worden ist, dass die dauernden Gesundheitsschädigungen ein Ausmaß erreichen, welches die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass rechtfertigt, war spruchgemäß zu entscheiden und der angefochtene Bescheid ersatzlos zu beheben.
Die belangte Behörde wird der Beschwerdeführerin einen neuen Behindertenpass mit der beantragten Zusatzeintragung auszustellen haben.
2. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung
Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde, auf das über Veranlassung des Bundesverwaltungsgerichtes eingeholte medizinische Sachverständigengutachten, das auf einer persönlichen Untersuchung beruht und welches auf alle Einwände und vorgelegten Befunde der Beschwerdeführerin in fachlicher Hinsicht eingeht, und welchem die Parteien des Verfahrens im Rahmen des eingeräumten Parteiengehörs nicht substantiiert entgegengetreten sind. Die strittige Tatsachenfrage, genauer die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin und damit verbunden die Frage der Zumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sind einem Bereich zuzuordnen, der von einem Sachverständigen zu beurteilen ist. Das Ergebnis dieser Begutachtung war, dass der Beschwerde Folge zu geben ist. All dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird. Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht entgegen.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behindertenpass Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2238176.1.00Im RIS seit
20.08.2021Zuletzt aktualisiert am
20.08.2021