Entscheidungsdatum
28.06.2021Norm
BFA-VG §9Spruch
L510 2227987-1/28E
Schriftliche Ausfertigung des in der Verhandlung am 22.03.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. AGREITER Zeno, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.12.2019, Zl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.03.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass gemäß § 55 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage beträgt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
1. Die beschwerdeführende Partei (bP), ein türkischer Staatsangehöriger, reiste ca. Ende Juni 2013 im Rahmen der Familienzusammenführung in das österreichische Bundesgebiet ein. Mit 01.07.2013 meldete sie sich erstmalig im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz an und ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufrecht gemeldet.
Am 05.07.2013 wurde ihr erstmals von der Bezirkshauptmannschaft XXXX ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz erteilt, welcher in den Folgejahren jährlich verlängert wurde, zuletzt von 05.07.2018 bis 05.07.2021.
Am 30.07.2013 ging sie erstmals ein Beschäftigungsverhältnis im Bundesgebiet ein und war bis dato bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt, bezog in dieser Zeit jedoch auch Arbeitslosengeld sowie Notstands- und Überbrückungshilfe.
Am XXXX 2017, rechtskräftig mit XXXX 2017, wurde die bP vom LG XXXX , GZ: XXXX , wegen des Vergehens der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von sechs Wochen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.
Am XXXX 2019 wurde über die bP vom LG XXXX , GZ: XXXX , wegen des Verdachtes der Schlepperei nach § 114 FPG die Untersuchungshaft verhängt.
Mit Schriftsatz vom 24.05.2019 wurde ihr vom BFA schriftlich Parteiengehör gewährt, wobei sie darüber informiert wurde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot geplant ist und ihr die Möglichkeit eingeräumt wurde, binnen einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung, eine Stellungnahme dazu abzugeben.
Mit handgeschriebenem Schriftsatz vom 27.05.2019 gab die bP eine Stellungnahme hierzu ab.
Am XXXX 2019, rechtskräftig mit XXXX 2019, wurde die bP vom LG XXXX , GZ: XXXX , wegen der Verbrechen der Schlepperei nach §§ 114 Abs 1, 114 Abs 2, 114 Abs 3 Z 1 und Z 2, 114 Abs 4 1.Fall FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit der Verurteilung wurde auch die Probezeit zur Verurteilung durch das LG XXXX auf fünf Jahre angehoben.
Am 25.11.2019 wurde sie in der Haftanstalt seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen.
„…
F: Haben Sie einen Vertreter für das gegenständliche Verfahren bzw. einen Zustellbevollmächtigten?
A: Nein, habe ich nicht. Bei Gericht hatte ich einen aber vor dem BFA nicht.
Erklärung:
Gegen Sie liegt eine rk. Verurteilung des LG XXXX sowie eine rk. Verurteilung des LG XXXX vor und derzeit verbüßen Sie, die gegen Sie verhängte Freiheitsstrafe in der JA XXXX . Aufgrund Ihrer Straffälligkeit wird vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nun geprüft, ob gegen Sie aufenthaltsbeendend Maßnahmen zu erlassen sind. Haben Sie das verstanden?
A: Ja, ich habe das verstanden.
Erklärung:
Sollten gegen Sie aufenthaltsbeendende Maßnahmen erlassen und diese gegen Sie durchsetzbar werden, sind Sie zur fristgerechten Ausreise verpflichtet. Die Behörde kann Ihre Ausreise auch mit Zwangsmaßnahmen durchsetzen, wenn die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint oder auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, Sie würden Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen (Abschiebung). Daher wird nach Abschluss des Verfahrens über eine aufenthaltsbeendende Maßnahme im Falle einer daraus resultierenden Ausreiseverpflichtung geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Abschiebung bzw. eine Sicherungsmaßnahme gegeben sind. Sie werden darauf aufmerksam gemacht, dass die Behörde im Falle des Vorliegens einer Fluchtgefahr Sicherungsmaßnahmen erlassen kann, um Ihre fristgerechte Ausreise sicherzustellen.
A: Ja, ich habe auch das verstanden.
F: Wie ist die Verständigung mit der hier anwesenden Dolmetscherin?
A: Mit der Dolmetscherin kann ich mich einwandfrei verständigen. Sprachliche Probleme oder Verständigungsschwierigkeiten liegen keine vor.
F: Gibt es für Sie gegen die hier anwesende Dolmetscherin irgendwelche Einwände?
A: Nein, ich habe keine Einwände.
Erklärung: Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können.
Frau XXXX wird mit mündlichem Bescheid gemäß § 39a Abs. 1 iVm §§ 52 und 53 AVG in diesem Verfahren als Dolmetscherin bestellt und beeidet. Über die damit verbundenen Pflichten wurde sie manuduziert.
Die Dolmetscherin wird ersucht bei Mehrfachbedeutungen eines Wortes nicht eigenmächtig eine Bedeutung zu wählen, sondern beide bzw. alle anzugeben oder zumindest auf diesen Umstand hinzuweisen und bei Unklarheiten nachzufragen.
F: Welche Sprachen sprechen Sie?
A: Meine Muttersprache ist Kurdisch.
F: Sprechen Sie noch andere Sprachen?
A: Ich spreche auch Türkisch und Deutsch.
F: In welcher Sprache unterhalten Sie sich mit Ihren Angehörigen in Österreich?
A: In der Familie rede ich Kurdisch. Außerhalb der Familie rede ich Türkisch. Mit den Kindern reden wir auch Deutsch.
F: Fühlen Sie sich physisch und psychisch in der Lage der Einvernahme zu folgen?
A: Ja, es geht mir gut. Ich kann Angaben machen.
F: Befinden Sie sich derzeit in ärztlicher oder medikamentöser Behandlung, leiden Sie aktuell an irgendwelchen Erkrankungen?
A: Seit ich in der JA bin habe ich Ohrenschmerzen und verwende Ohrentropfen. Ich war deshalb vor einer Woche in der Klinik in Innsbruck und der Arzt sagte, dass ich ein Loch in beiden Trommelfellen habe. Ich habe das bereits seit 7 oder 8 Jahren, durch den Stress in der JA ist das aber schlimmer geworden und ich muss das operieren lassen. Das kann nun 2 oder 3 Monate dauern.
F: Verfügen Sie über Personaldokumente?
A: Ja, ich habe hier meinen Pass, meine E-Card, der Führerschein.
F: Welche Staatsbürgerschaft besitzen Sie?
A: Ich bin türkischer Staatsangehöriger.
F: Unter welchen Lebensumständen haben Sie in der Türkei gelebt?
A: Eigentlich ging es mir gut. Ich habe in Antalya im Tourismus gearbeitet und habe
dort auch meine Gattin kennengelernt. Ende Juni 2013 kam ich dann nach
Österreich.
F: Warum haben Sie Ihre Heimat verlassen?
A: Ich habe geheiratet und bin zu meiner in Österreich lebenden Gattin gezogen.
Meine Gattin ist österreichische Staatsbürgerin. F: Welchen Beruf haben Sie in Ihrer Heimat ausgeübt?
A: Ich habe in einem Hotel gearbeitet. Ich habe Zimmerservice gemacht.
F: Was haben Sie im Monat verdient?
A: Das waren ca. 750 türkische Lira. Das war im Jahr 2009.
F: Verfügen Sie über sonstiges erwähnenswertes Vermögen?
A: Ich habe ein Haus in der Türkei gemeinsam mit meinem Bruder. Wir haben das Haus letztes Jahr gekauft und es steht leer. Wir wollten das Haus selbst bewohnen, wenn wir in der Türkei waren. Ich habe auch Schulden vor Gericht. Ich muss da € 21.000,-- bezahlen. In Graz habe ich auch einen Kredit in der Höhe von € 100.000,-- laufen. Ich habe dort eine Wohnung gekauft.
F: Sind Sie oft in der Türkei?
A: Jedes Jahr 2 oder 3 Wochen. Wenn ich mit der ganzen Familie in die Türkei fahre, ist es nicht gut bei den Verwandten zu übernachten. Darum haben wir das Haus gekauft.
F: Wer kümmert sich um dieses Haus, wenn Sie nicht in der Türkei sind?
A: Das macht mein Vater.
F: Haben Sie in Ihrem Heimatland derzeit Angehörige, wenn ja, geben Sie eine
Erklärung dazu ab, in welchem Verwandtschaftsgrad Sie zu diesen Personen
stehen?
A: Ja, mein Vater meine Mutter, eine jüngere Schwester. Meine Mutter ist nun aber ein Pflegefall. Ein Bruder und eine Schwester von mir sind in der Schweiz und ein Bruder in Holland. Der andere Bruder ist in Italien.
F: Haben Sie bislang eine Ehe geschlossen?
A: Ja, ich bin standesamtlich und traditionell geheiratet. Das war am 06.07.2013.
F: Wie sind die vollständigen Personendaten Ihrer Gattin?
A: Meine Gattin heißt XXXX , geb.: XXXX , und ist österreichische Staatsangehörige.
F: Haben Sie Kinder?
A: Ja, ich habe 3 Kinder.
F: Wie sind die vollständigen Personendaten Ihrer Kinder?
A: Sie heißen XXXX und sind österreichische Staatsangehörige.
F: Wo leben Ihre Frau bzw. Ihre Kinder derzeit?
A: Sie leben an der Adresse XXXX . Nachdem ich in die JA XXXX kam, ist meine Familie wieder in die Steiermark gezogen. Vorher haben wir in Tirol zusammengelebt.
F: Haben Sie noch Freunde oder Bekannte in der Heimat?
A: Ja, habe ich schon. Meine 2 Tanten leben auch noch in der Türkei.
F: Haben Sie Kontakt zu Ihren Freunden und Bekannten?
A: Vor meiner Inhaftierung hatte ich noch Kontakt. Meine Tante hat immer meine kranke Mutter besucht und ich habe dann nachgefragt wie es der Mutter geht.
F: Hatten Sie, Abgesehen von Ihrer Anmeldebescheinigung nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes, in Österreich jemals einen gültigen Aufenthaltstitel zur Begründung eines legalen Aufenthaltes?
A: Nein, hatte ich nicht.
Vorhalt:
Den Aufzeichnungen des Bundesamtes ist zu entnehmen, dass Sie vom LG XXXX wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung gem. § 15 StGB § 83 (1) StGB rechtskräftig verurteilt wurden. Darüber hinaus wurden Sie vom LG XXXX wegen des Verbrechens der Schlepperei gem. §§ 114 FPG, rechtskräftig verurteilt. Aufgrund dieser Umstände wird vom Bundesamt nun die Erlassung eines Einreiseverbotes für das Schengengebiet geprüft. Wollen Sie sich dazu äußern?
A: Mein Anwalt bei Gericht meinte, dass die Verurteilung kein Problem mit meinem Aufenthalt machen würde. Ich habe 3 Jahre Haft bekommen. Vielleicht kann ich nach 2/3 rausgehen. Mein Anwalt meinte auch, dass ich Mitte Jänner 2020 einen Antrag auf elektronisch überwachten Hausarrest stellen kann. Ich könnte dann wieder in die Steiermark gehen und dort arbeiten.
Erklärung:
Dem Fremden wird erläutert, dass bei einer derartigen Verurteilung ein Einreiseverbot für das Schengengebiet erlassen werden kann.
F: Wollen Sie dazu etwas sagen?
A: Was soll ich sagen. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich werde mich auch nicht gegen Gesetze wehren.
F: Spricht Ihrer Ansicht nach etwas dagegen, wenn Ihre Familie mit Ihnen in der Türkei leben würde?
A: Ich habe hier ein geregeltes Leben. Meine Kinder besuchen in Österreich die Schule. Ich kann das meinen Kindern nicht antun nur weil ich einen Fehler gemacht habe.
Angaben zum Privat- und Familienleben:
F: Wann sind Sie in Österreich eingereist?
A: Das war Ende Juni 2013.
F: Haben Sie Österreich seit Ihrer Einreise jemals wieder verlassen?
A: Nein, ich war lediglich für 3 Wochen, höchstens für einen Monat in der Türkei. Ich habe dort meine kranke Mutter besucht.
F: Wie sieht Ihr Alltag in der JA aus?
A: Ich verbüße derzeit die Strafhaft. Ich habe angesucht, dass ich in der Küche arbeiten kann. Ich war ja Pizzakoch. Der Antrag ist aber erst in Bearbeitung.
F: Sind Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich einer legalen Beschäftigung nachgegangen?
A: Ja, ich habe in einem Sägewerk gearbeitet. Mitte 2014 habe ich dann bei einem Autoersatzteillager gearbeitet. Das war bis 2016. Danach habe ich in einer Fa. Für Beschläge für Fenster und Türen gearbeitet. 2017 habe ich ein halbes Jahr in einer Pizzeria in XXXX als Koch gearbeitet. In Jänner 2018 habe ich in einem Hotel im XXXX als Küchenhilfe gearbeitet.
F: Sind Sie gegenüber jemandem unterhaltspflichtig?
A: Nein, bin ich nicht. Ich muss aber meine Familie versorgen. Das kann ich derzeit nicht, darum macht das der Staat derzeit.
F: Haben Sie in Österreich einen Deutschkurs besucht und können Sie dafür Beweismittel in Vorlage bringen?
A: Ja, ich habe 2 Monate einen Kurs besucht. Das war in Graz als ich arbeitslos war.
F: Haben Sie einen abgeschlossenen Deutschkurs mit mindestens dem Niveau A2? Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?
A: Ja, ich habe einen solchen Abschluss. Ich spreche auch recht gut Deutsch.
F: Verfügen Sie über einen Schulabschluss, der der allgemeinen Universitätsreife entspricht oder haben Sie einen Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule?
A: Ich habe in der Türkei die Pflichtschule (4 Jahre Volks- und 4 Jahre Hauptschule) absolviert. Sonst habe ich keine Schule besucht.
F: Haben Sie in Österreich eine Schule, Kurse oder sonstige Ausbildungen absolviert? Wie war das Ergebnis, bzw. was resultierte daraus?
A: Nein, habe ich nicht.
F: Sind Sie Mitglied in einem Verein oder in einer Organisation?
A: Nein, auch das nicht.
F: Können Sie irgendwelche sonstigen Gründe namhaft machen, die für Ihre Integration in Österreich sprechen?
A: Die Lebensverhältnisse in Österreich gefallen mir sehr gut. Ich verdiene besser als in der Türkei und bekomme regelmäßige mein Gehalt. Es gibt sehr gute Sozialleistungen und auch die Krankenfürsorge ist gut. Man ist frei und kann machen was man will.
F: Haben Sie, abgesehen von Ihrer Gattin und den Kindern, nahe Verwandte oder Familienangehörige in Österreich?
A: In Linz leben 2 Onkel mütterlicherseits. Mehrere Cousins und Cousinen sind auch noch in Österreich.
F: Sind Sie bereit, im Fall einer negativen Entscheidung freiwillig auszureisen?
A: Natürlich, ich würde freiwillig gehen. Ich habe das Gefängnis ja nun erlebt und will nie wieder in Haft kommen.
F: Was würden Sie nach Ihrer Haftentlassung tun, wenn derzeit bestehendes Aufenthaltsrecht entzogen wird?
A: Ich müsste mit meiner Gattin sprechen. Ich möchte schon hierbleiben aber es macht wenig Sinn, wenn meine Kinder auch in die Türkei gehen müssten. Ich habe darüber auch noch nicht nachgedacht. Ich habe in Österreich Familie.
F: Die Befragung wird hiermit beendet. Wollen Sie zu Ihrem Verfahren sonst noch etwas vorbringen, was Ihnen von Bedeutung erscheint?
A: Ich möchte sagen, dass meine Familie in Vordergrund steht. Ich glaube auch, dass es gut für die Kinder ist, wenn ich in Österreich bleiben kann.
F: Hatten Sie während dieser Befragung irgendwelche Probleme?
A: Nein, ich hatte keine Probleme.
F: Haben Sie alles verstanden bzw. konnten Sie der Vernehmung ohne Probleme folgen?
A: Ja, ich habe alles verstanden und konnte der Vernehmung ohne Probleme folgen.
F: Haben Sie die Dolmetscherin während der gesamten Befragung einwandfrei verstehen können?
A: Ja, ich konnte die Dolmetscherin sehr gut verstehen und habe alles verstanden. Anmerkung: Die Niederschrift wird dem Fremden von der Dolmetscherin rückübersetzt.
F: Entsprechen die soeben rückübersetzen Angaben der Wahrheit und wurde alles richtig protokolliert?
A: Ja, mir wurden meine Angaben rückübersetzt, diese entsprechen der Wahrheit und es wurde alles richtig aufgenommen.
Mit Ihrer Unterschrift bestätigen Sie, dass Ihnen die Niederschrift übersetzt wurde und die Angaben stimmen. Haben Sie das verstanden?
A: Ja.“
…„
Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid des BFA vom 20.12.2019 wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs 4 FPG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 52 Abs 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 und 4 FPG wurde gegen sie ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Gem. § 55 Abs 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt. (Spruchpunkt IV). Einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).
Mit Verfahrensanordnung vom 23.12.2019 wurde der bP ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
2. Mit Schriftsatz der Vertretung vom 15.01.2020 wurde fristgerecht Beschwerde eingebracht.
3. Mit Erkenntnis des BVwG vom 10.02.2020, GZ: L529 2227987-1/2Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
4. Am 30.03.2020 und 28.09.2020 langten beim Bundesverwaltungsgericht E-Mails der damaligen Ehegattin der bP ein, wo diese ihr Familienleben schilderte.
5. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.20021 wurde die Rechtssache der GA L510 neu zugewiesen.
6. Am 08.04.2021 wurde vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt. Neben der bP wurde auch die Ex-Gattin als Zeugin einvernommen.
Im Zuge der Beschwerdeverhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet. Gemäß §§ 52 Abs 4 und Abs 9, 46, 53 Abs 3 FPG 2005 idgF wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 55 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage. Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
7. Mit Schriftsatz der Vertretung vom 25.03.2021 wurde fristgerecht die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:
Die Identität der bP steht fest, sie führt den im Spruch angeführten Namen und das dort genannte Geburtsdatum. Die bP ist in XXXX in der Türkei geboren und türkischer Staatsbürger. Sie reiste im Juni 2013 im Rahmen einer Familienzusammenführung in Österreich ein. Mit 01.07.2013 meldete sie sich erstmalig im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz an und ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufrecht gemeldet.
Am 30.07.2013 ging sie erstmals ein Beschäftigungsverhältnis im Bundesgebiet ein und war bis dato bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt, bezog in dieser Zeit jedoch auch Arbeitslosengeld sowie Notstands- und Überbrückungshilfe. Nur einmal arbeitete die bP durchgehend länger als ein Jahr in Österreich, in der Zeit zwischen 27.07.2015 und 19.08.2016.
Am 05.07.2013 wurde ihr erstmals von der Bezirkshauptmannschaft Liezen ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz erteilt, welcher in den Folgejahren jährlich verlängert wurde, zuletzt von 05.07.2018 bis 05.07.2021.
Die bP spricht Kurdisch sowie Türkisch und kann sich auch auf Deutsch verständigen.
Die bP ist gesund.
Die bP war bis zum 22.02.2021 mit der österreichischen Staatsbürgerin XXXX , geb. XXXX , verheiratet. Der Ehe entstammen drei gemeinsame Söhne, wobei das Sorgerecht der Mutter der Kinder zukommt. Der jüngste Sohn wurde im XXXX 2019 geboren. Von ihrer Einreise Ende Juni 2013 bis zum Jänner 2019 lebte die bP mit ihrer Ex-Gattin bzw. ihrer Familie in einem gemeinsamen Haushalt. Im Jänner 2019 verließ die bP ihre Familie aufgrund eines Streites und zog zu einem Freund. Da die bP vor ihrem Auszug die letzten zwei oder drei Monatsmieten nicht mehr bezahlt hatte, musste ihre Ex-Gattin die gemeinsame Wohnung räumen und ist in die Steiermark gezogen. Die bP und ihre Kinder haben kein gutes Verhältnis zueinander. Die Ex-Gattin der bP möchte diese nicht mehr sehen. Zum Entscheidungszeitpunkt hatte die bP keinen Kontakt zu ihrer Ex-Gattin oder ihren Kindern und unterstützt diese auch nicht finanziell. Die Ex-Gattin der bP bezieht Mindestsicherung sowie Kindergeld und Familienbeihilfe und erhält Unterhaltsvorschüsse.
Die bP hat in Österreich darüber hinaus private und familiäre Anknüpfungspunkte. Zwei Onkel der bP leben in Linz. Mit diesen steht sie in Kontakt und besuchte sie vor ihrer Inhaftierung ca. alle zwei Monate. Des Weiteren leben drei Cousins der bP in Vorarlberg sowie weitschichtige Verwandte in Graz, mit welchen die bP nicht in Kontakt steht. In Europa leben weitere Familienangehörige der bP, darunter ein Bruder und eine Schwester in der Schweiz, ein Bruder in Italien sowie ein weiterer Bruder in den Niederlanden. Die bP hat einen Freundeskreis in Österreich. Ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis bzw. ein besonderes Naheverhältnis besteht zu keinem der Verwandten, Freunde oder Bekannten.
In der Türkei leben ihr Vater und ihre jüngere Schwester sowie ein Onkel, drei Tanten und mehrere Cousins und weitere weitschichtige Verwandte. Mit ihrer Schwester hat die bP regelmäßigen Kontakt, mit ihrem Vater nur ab und zu. Vor ihrer Inhaftierung hatte die bP auch noch telefonischen Kontakt zu ihrer Tante. Ihre Schwester ist verheiratet und lebt in Konya. Die bP wurde in der Türkei geboren und besuchte dort vier Jahre lang die Volksschule und vier Jahre lang die Hauptschule. Anschließend war sie in der Landwirtschaft tätig, wo sie auf der Landwirtschaft ihrer Familie arbeitete. Die bP arbeitete in der Türkei auch am Bau und als Fliesenleger. Bis zu ihrer Inhaftierung verbrachte die bP jedes Jahr 2-3 Wochen lang ihren jährlichen Urlaub bei ihrer Familie in der Türkei. Zuletzt reiste die bP im Jahr 2018 in die Türkei um ihre kranke Mutter zu besuchen
Die bP wurde mit Urteil des LG XXXX vom XXXX 2017 unter der Zahl XXXX wegen des Vergehens der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 6 Wochen unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren rechtskräftig verurteilt (RK 25.07.2017).
Am 29.03.2019 wurde über sie vom LG XXXX unter der Zahl XXXX wegen des Verdachtes der Schlepperei nach § 114 FPG die Untersuchungshaft verhängt.
Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX 2019 unter der Zahl XXXX wurde die bP wegen des Verbrechens der Schlepperei nach
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (2), 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (3) Z 2, 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (3) Z 2, 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (3) Z 2, 114 (4) 1. Fall FPG
§§ 114 (1), 114 (3) Z 1, 114 (3) Z 2, 114 (4) 1. Fall FPG
zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3 Jahren rechtskräftig verurteilt (RK 27.09.2019). Mit dieser Verurteilung wurde auch die Probezeit zur Verurteilung durch das LG XXXX , auf 5 Jahre angehoben.
Sie wurde für schuldig befunden, im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit mehreren anderen Personen am XXXX und anderen Orten seit zumindest 12.05.2018 bis 27.03.2019 gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung die rechtwidrige Einreise von Fremden, die zum Aufenthalt in und zur Durchreise durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder Nachbarstaaten Österreichs nicht berechtigt waren, mit dem Vorsatz gefördert zu haben, sich oder einen Dritten durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, indem sie die Ein- bzw. Durchreise von Italien über Österreich und weiter nach Deutschland von näher bezeichneten Fremden, die über keine gültigen Reisedokumente verfügten, in bzw. durch Mitgliedstaaten der Europäischen Union förderte.
Bei der Strafbemessung war das Zusammentreffen einer Vielzahl von Verbrechern sowie die einschlägige Vorstrafenbelastung als erschwerend zu werten. Mildernde Strafbemessungsgründe lagen keine vor.
In der Zeit von 2018 bis 2019 wurde die bP im Bezirk XXXX wegen 3 Delikten verwaltungsstrafrechtlich rechtskräftig bestraft.
Die bP war während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet von 28.03.2019 bis 26.03.2021 inhaftiert. In der Justizanstalt XXXX arbeitete sie ca. 40 Stunden in der Woche in dem Produktionsbetrieb XXXX und erhielt hierfür 74 Euro in der Woche. Zum Entscheidungszeitpunkt verbüßte sie noch ihre Haftstrafe in der Justizanstalt XXXX .
1.2. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Ausreise in die Türkei aus in ihrer Person gelegenen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen individuellen Gefährdung oder Bedrohung ausgesetzt wäre oder dort keine hinreichende Existenzgrundlage vorfinden würde.
1.3. Zur aktuellen Lage in der Türkei (auszugsweise):
Politische Lage
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020), wobei das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde (DFAT 10.9.2020; vgl. bpb 9.7.2018).
Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).
Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZEMitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt.
Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von
nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019).
?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören“, bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen.
Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von „Treuhändern“ anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020). [siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülenoder Hizmet-Bewegung]
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Zugriff 20.10.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren
Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht.
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SD 29.6.2016, AJ 12.12.2016). Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Dort sind die Spannungen besonders groß und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen (EDA 28.12.2020). Die Regierung setzte die inneren und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und in Syrien sowie innerhalb des Landes fort (USDOS 24.6.2020; vgl. EC 6.10.2020). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen (EDA 28.12.2020).
Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe fast 5.200 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 10.12.2020. Im Jahr 2020 wurden bis zum 10.12.2020 311 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020 (ICG 20.12.2020).
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 8.10.2020). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A????r? (AA 28.12.2020a).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 28.12.2020).
Quellen:
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoECommDH 19.2.2020; vgl. EC 6.10.2020, USDOS 11.3.2020). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr.
7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019).
Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten „Rule of Law Index“ rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert).
Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien „Grundrechte“ mit 0,32 (Rang 123 von 128) und „Einschränkungen der Macht der Regierung“ mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für „Ordnung und Sicherheit“ mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der