TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/6 W222 2240643-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2021
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Entscheidungsdatum

06.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch


W222 2240643-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch seine Richterin Mag. Obregon als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx in 1090 Wien, Pulverturmgasse 4/2/R01, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.02.2021, 1273976903/210144185, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 01.02.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 02.02.2021 wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen. Hiebei gab er zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, sein Vater sei Anhänger der Alkali Daal Partei. Da es ein politisches Problem zwischen dieser und der Kongresspartei gebe, versuche man, „uns“ politisch zu schaden. Der BF sei von Anhängern der Kongresspartei mit dem Tod bedroht worden. Da sein Leben in Indien nicht mehr sicher sei, habe der BF fliehen müssen. Das seien alle Fluchtgründe.

Am 17.02.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er soweit wesentlich folgendes zu Protokoll (sprachliche Unzulänglichkeiten im Original):

„ . . .

LA: Liegen Befangenheitsgründe oder sonstige Einwände gegen eine der anwesenden Personen vor?

VP: Nein.

LA: Welche Sprache ist Ihre Muttersprache und welche Sprachen sprechen Sie sonst noch?

VP: Meine Muttersprache ist Punjabi, ich spreche sonst noch ein wenig Hindi.

LA: Wie ist die Verständigung mit dem hier anwesenden Dolmetscher?

VP: Gut.

LA: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht?

Wurden Ihnen diese jeweils rückübersetzt und korrekt protokolliert?

VP: Ja.

LA: Möchten Sie Beweismittel oder Dokumente vorlegen, welche für Ihr Verfahren von Relevanz sind?

VP: Nein.

LA: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, die Einvernahme durchzuführen?

VP: Ja.

LA: Stehen Sie derzeit in ärztlicher Behandlung bzw. nehmen Sie Medikamente?

VP: Nein, es geht mir gut und ich bin nicht in Behandlung.

LA: Werden Sie im gegenständlichen Verfahren anwaltlich vertreten?

VP: Nein.

LA: Möchten Sie zu den von Ihnen im Zuge der Erstbefragung gemachten Angaben, insbesondere zu Ihrer Person oder vorgelegten Dokumenten etwas berichtigen?

VP: Ich habe die Wahrheit gesagt, aber ich möchte meinen Fluchtgrund heute näher ausführen.

Anm.: Der AW wird darauf hingewiesen, dass er im weiteren Verlauf der EV Gelegenheit dazu haben wird.

LA: Wann sind Sie erstmals in Österreich eingereist?

VP: Genau kann ich mich nicht mehr erinnern, es war aber zu der Zeit, als ich den Asylantrag stellte.

LA: Haben Sie seit Ihrer ersten Einreise Österreich verlassen, waren Sie seither jemals wieder in Ihrem Heimatland?

VP: Nein.

Auff.: Nennen Sie Ihren Familienamen, Ihren Vornamen, Ihr Geburtsdatum und Ihren Geburtsort, nennen Sie Ihre Daten so, wie Sie von Ihnen in Ihrem Herkunftsland im Rechtsverkehr, damit sind Behörden, öffentliche Ämter und auch Schulen gemeint, verwendet wurden!

VP: Ich heiße XXXX , geb. XXXX , StA. Indien.

LA: Wo genau haben Sie bis zu Ihrer Ausreise aus Ihrem Herkunftsland gelebt?

VP: In Indien, in der Provinz Punjab, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , Hausnummer XXXX . Es handelt sich um ein Einfamilienhaus. Ich habe seit ca. zehn Jahren an dieser Adresse gewohnt. Davor habe ich zwar im selben Dorf aber in einem anderen Haus gewohnt.

LA: Mit wem haben Sie jeweils an den genannten Adressen im Heimatland gelebt?

VP: Mit meinen Eltern, einem meiner Brüder und einer meiner Schwestern. Ich habe insgesamt aber zwei Brüder und drei Schwestern. Der zweite Bruder hat früher auch mit uns zusammen gelebt, ist jetzt aber ausgezogen. Meine beiden anderen Schwestern sind verheiratet und leben bei ihren Männern.

LA: Wann genau haben Sie Ihren Heimatort verlassen und wann sind Sie aus Ihrem Herkunftsland ausgereist?

VP: Am 20.01.2020 habe ich Indien verlassen, einen Tag davor habe ich mein Heimatdorf verlassen.

LA: Verfügen Sie derzeit über identitätsbezeugende Dokumente?

VP: Nein.

LA: Waren Sie jemals im Besitz eines eigenen Reisepasses, wenn ja, wann und von wem wurde dieser ausgestellt, wo befindet sich dieser Pass jetzt?

VP: Ja, ich hatte einen indischen Reisepass, ausgestellt vom Passamt XXXX , wann genau das war, weiß ich aber nicht mehr. Dieser Pass wurde mir aber vom Schlepper abgenommen und ich habe diesen nicht mehr zurückbekommen.

LA: Leben noch Angehörige im Herkunftsland? Nennen Sie mir bitte alle persönlichen Daten, Ihre Beziehung zu den Angehörigen und deren wohnhaft.

VP: Ja, mein Vater, meine Mutter, meine zwei Brüder und meine drei Schwestern leben nach wie vor im Heimatland. Meine Schwestern sind verheiratet, eine lebt in XXXX , eine in XXXX und die dritte lebt in XXXX , meine beiden Brüder leben in XXXX . Meine gesamten Verwandten mütterlicher- und väterlicherseits befinden sich in Indien.

LA: Haben sie noch Kontakt zu Ihren Angehörigen in Ihrem Herkunftsland?

VP: Nein, seit ich in Österreich bin, habe ich keinen Kontakt mehr mit ihnen.

LA: Warum nicht?

VP: Ich habe hier kein Handy und nichts.

LA: Wie hatten Sie vor Ihrer Einreise nach Österreich Kontakt mit der Familie?

VP: Damals hatte ich noch ein Handy, aber der Schlepper hat mir alles abgenommen.

LA: Bis wohin sind Sie mit dem Schlepper gereist?

VP: Ich kann mich nur an Moskau erinnern. Wir sind nach Moskau geflogen und danach bin ich schlepperunterstützt mit LKWs nach Österreich gereist.

LA: Dabei hatten Sie Ihren Reisepass und alles andere noch mit?

VP: Bis Moskau schon, danach nicht mehr.

LA: In der EB gaben Sie an, ein Jahr lang über unbekannten Länder unterwegs nach Österreich gewesen zu sein. Demnach hatten Sie ein Jahr lang schon keinen Kontakt mehr zu Ihrer Familie?

VP: Nein, ich habe erst seit drei Monaten gar keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ab und zu hatte ich die Möglichkeit, sie anzurufen, aber danach nicht mehr. Ich habe auch hier versucht, sie zu kontaktieren, aber ich habe es nicht geschafft.

LA: Warum nicht?

VP: Ich weiß nicht, vielleicht haben sie eine andere Nummer. Es hat keiner abgehoben.

LA: Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Angehörigen im Herkunftsland?

VP: Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander.

LA: Womit bestreiten Ihre Angehörigen im Herkunftsland deren Lebensunterhalt?

VP: Wir kommen über die Runden. Nachgefragt gebe ich an, dass mein Vater Anhänger der Alkali Dal Partei ist. Er bekommt ein wenig Geld dafür, aber aufgrund der unruhigen Situation ist es schwierig. Meine Mutter ist nicht berufstätig, aber meine Brüder arbeiten. Sie unterstützen uns aber nicht finanziell.

LA: Wo haben Sie bis zu Ihrer Ausreise gewohnt?

VP: An der oben angeführten Adresse im Haus meiner Eltern.

LA: Welchen Beruf haben Sie erlernt?

VP: Gar keinen.

LA: Welche Ausbildung haben Sie?

VP: Ich habe 10 Jahre lang die Grundschule besucht.

LA: Wo waren Sie in der Schule? Können Sie die genaue Adresse nennen?

VP: In meinem Heimatdorf XXXX . Sie hieß XXXX .

LA: Welchen Beruf hat Ihr Vater und wo genau arbeitet er?

VP: Er arbeitet für die Alkali Dal Partei, er unterstützt diese. Nachgefragt, was er genau macht, gebe ich an, dass, wenn Personen zu ihnen kommen, er diese Personen den anderen Personen vorstellt. Er war stets bereit für die Partei, wenn es zu Streitereien kam oder zu sonstigen Anliegen.

LA: Wann haben Sie wo in welcher Funktion gearbeitet?

VP: Ich habe gar nicht gearbeitet.

LA: Konnten Sie mit diesem Verdienst Ihren Lebensunterhalt bestreiten?

VP: Ich habe zum Lebensunterhalt meiner Familie nichts beigetragen, mein Vater hat die ganze Familie erhalten.

LA: Sind Sie vorbestraft?

VP: Nein, ich bin nicht vorbestraft, aber ich hatte ein politisches Problem.

LA: Wurden Sie jemals von Behörden in Ihrem Heimatland erkennungsdienstlich behandelt?

VP: Nein.

LA: Waren Sie jemals im Gefängnis oder in Polizeihaft?

VP: Nein.

LA: Gehörten Sie jemals selbst einer politischen Partei an?

VP: Nein, nur mein Vater.

LA: Hatten Sie jemals persönlich Probleme mit heimatlichen Behörden bzw. werden Sie von heimatlichen Behörden – etwa Polizei, Militär oder sonstigen Behörden – offiziell in Ihrer Heimat gesucht, besteht ein Haftbefehl gegen Sie?

VP: Nein.

LA: Haben Sie in Ihrem Heimatland jemals aus eigenem Antrieb, d. h. von sich aus eine Sicherheitsdienststelle, Polizeidienststelle oder Staatsanwaltschaft oder Gericht aufgesucht? Haben Sie jemals eine solche Einrichtung aufgesucht, weil Sie von diesen Behörden etwas benötigt haben?

VP: Nein.

LA: Gehörten Sie jemals einer bewaffneten Gruppierung an? (bei pos. Antwort: Funktion, Dauer, Position, Tätigkeiten, Gründe des Beitritts, ideologischer Inhalt, Sitz der Gruppierung)

VP: Nein.

LA: Warum stellen Sie einen Asylantrag? Nennen Sie Ihre Fluchtgründe!

VP: Da mein Vater politisch aktiv ist und ich sein Sohn bin, habe ich meinen Vater bei politischen Veranstaltungen immer begleitet und unterstützt. Anhänger der Gegenpartei bedrohten meinen Vater und mich. Sie sagten meinem Vater, dass er entweder die Partei verlassen soll oder wir ermordet werden. Mir sagten sie ebenso, dass ich mich nicht mehr politisch engagieren soll. Sie bedrohten mich mit dem Tod. Es gab ein oder zwei Anschläge auf mich, ich hatte große Angst um mein Leben. Ich wollte mein eigenes Leben nicht mehr riskieren. In Indien hätte ich mich nicht verstecken können, da diese Leute ein großes Netzwerk haben.

LA: Warum haben Sie nicht einfach aufgehört, Ihren Vater zu begleiten? Dann hätten Sie doch die Forderungen der Gegenpartei erfüllt und man hätte Sie in Ruhe gelassen?

VP: Sie hätten mich dennoch weiterhin belästigt. Sie haben meinem Vater gesagt, dass er die Partei verlassen soll. Mein Vater würde das aber nicht tun, also hätten sie mich weiterhin belästigt.

LA: Wann genau gab es Anschläge auf Sie? Bitte schildern Sie diese genau!

VP: Es waren vier bis fünf Angreifer. Sie kamen bewaffnet auf mich zu und attackierten mich. Der Vorfall ereignete sich in XXXX , ich konnte vom Vorfallsort flüchten.

LA: Wann genau war das?

VP: Zwei bis drei Monate vor meiner Ausreise aus Indien.

LA: War das das einzige Mal, dass Sie persönlich bedroht wurden?

VP: Ja.

LA: Wer genau hat Sie bedroht?

VP: Die Kongress-Partei. Nachgefragt, woher ich das weiß, gebe ich an, dass ich sie kenne. Mein Vater ist Anhänger der Alkali-Partei und sie waren Anhänger der Kongress-Partei.

LA: Bitte geben Sie die Namen Ihrer Angreifer an.

VP: Ich kenne sie nicht. Aber ich weiß, dass sie von der Kongress-Partei geschickt wurden.

LA: Haben Sie diese Personen angezeigt?

VP: Nein.

LA: Warum nicht?

VP: Weil eine Anzeige nichts gebracht hätte. Sie hätten die Polizei bestochen und ich hätte noch mehr Schwierigkeiten bekommen.

LA: Warum glauben Sie, dass jemand nach Ihnen suchen würde, wenn Sie in eine andere große Stadt etwas weiter entfernt von Ihrem Heimatdorf ziehen würden?

VP: Sie haben ein riesiges Netzwerk, man hätte mich schon irgendwie entdeckt. Das ist einfach für eine Partei.

LA: Warum ist Ihr Vater weiterhin in Indien aufhältig und passiert ihm nichts, Sie mussten aber ausreisen?

VP: Weil sie meinem Vater gesagt haben, dass ich getötet werde.

LA: Warum hat Ihr Vater nicht aufgehört, für die Partei tätig zu sein, um Ihr Leben zu schützen?

VP: Er hat gesagt, dass er die Politik nie verlassen kann. Er ist seit Jahren mit der Politik tief verbunden.

LA: Welche Funktion hat Ihr Vater in der Alkali Dal Partei und seit wann hatte er diese inne?

VP: Wenn wir z.B. neue Mitglieder für die Partei bekommen haben, hat mein Vater sie aufgeklärt und den anderen Parteiangehörigen vorgestellt. Er hat das seit glaube ich 20 Jahren gemacht, genau weiß ich es aber nicht.

LA: Wie viele Parteiangehörige hat die Alkali Dal?

VP: Sehr viele, ich kann Ihnen keine Zahl nennen.

LA: Neue Mitglieder wurden von Ihrem Vater all diesen Mitgliedern vorgestellt, Ihr Vater kennt diese alle?

VP: Ja, kann man so sagen.

LA: Welche Funktion haben Sie in der Alkali Dal Partei und seit wann?

VP: Ich war die Unterstützung meines Vaters, ich begleitete ihn immer. Ich hatte keine eigene Funktion. Ich habe meinen Vater seit ca. einem Jahr vor der Ausreise begleitet.

LA: Haben Sie sonst Probleme, außer den geschilderten, in Ihrem Heimatland?

VP: Nein.

LA: Welche Probleme erwarten Sie im Falle Ihrer Rückkehr in Ihre Heimat?

VP: Ich fürchte um mein Leben, ich wurde mit dem Tod bedroht. Man würde mich ermorden.

LA: Dem Bundesamt liegen schriftliche Feststellungen zur Lage in Indien vor. Wollen Sie in diese schriftlichen Feststellungen zu Indien samt den darin enthaltenen Quellen Einsicht nehmen und eine Kopie davon ausgefolgt bekommen?

VP: Nein, ich spreche ja kein Deutsch.

Vorhalt: Sie haben am 10.02.2021 eine Verfahrensanordnung des Bundesamtes gem. § 29/3/5 AsylG 2005 übernommen, in welcher Ihnen mitgeteilt wurde, dass beabsichtigt ist Ihren Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen. Sie haben nunmehr Gelegenheit, zur geplanten Vorgehensweise des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Stellung zu nehmen. Wollen Sie diesbezüglich etwas angeben?

VP: Dann können Sie mich gleich hier ermorden, was soll ich noch sagen.

LA: Wovon bestreiten Sie in Österreich Ihren Lebensunterhalt?

VP: Ich bin in der Grundversorgung.

LA: Sind oder waren Sie in Österreich jemals berufstätig?

VP: Nein.

LA: Sind Sie in Österreich Mitglied in Vereinen oder Organisationen?

VP: Nein. Nach meiner Ankunft in Österreich wurde ich gleich hierher gebracht.

LA: Haben Sie in Österreich Kurse oder Ausbildungen absolviert?

VP: Nein.

LA: Wie gut sprechen Sie Deutsch?

VP: Ich spreche gar kein Deutsch.

Anm.: Die Frage muss übersetzt werden und der AW antwortet auf Punjabi.

LA: Welche Sprache sprechen Sie am besten?

VP: Punjabi.

LA: Haben Sie in Österreich Verwandte?

VP: Nein.

LA: Leben Sie mit einer sonstigen Person in einer Familiengemeinschaft oder in einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft, wenn ja, beschreiben Sie diese Gemeinschaft?

VP: Nein.

LA: Ich beende jetzt meine Befragung. Möchten Sie sonst noch irgendwelche Angaben machen?

VP: Ich bitte Sie, dass Sie meinen Aufenthalt hier genehmigen. Sonst habe ich alles gesagt, danke.

LA: Haben Sie alles verstanden, konnten Sie sich konzentrieren und der Einvernahme folgen?

VP: Ja.“

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.02.2021 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 20005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien ab (Spruchpunkt II.), es erteilte ihm einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG 2005 nicht (Spruchpunkt III.), erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1–3 FPG betrage die Frist für die freiwillige zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.)

Begründend führte das BFA hinsichtlich der konkreten Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes unter anderem aus:

„Befragt nach Ihrem Fluchtgrund gaben Sie an, Ihr Heimatland verlassen zu haben, weil Ihr Vater seit ca. 20 Jahren Mitglied der Partei Alkali Dal wäre und auch für die Partei gearbeitet hätte und Sie ihm seit ca. einem Jahr vor Ihrer Ausreise aus Indien bei der Erfüllung seiner Aufgaben behilflich gewesen wären. Sie wären daraufhin von Mitgliedern der Kongress-Partei bedroht worden, Sie sollten aufhören, Ihren Vater zu unterstützen, sonst würde man Sie umbringen. Vier oder fünf bewaffnete Personen, welche von der Kongress-Partei geschickt worden wären, hätten Sie etwa zwei oder drei Monate vor Ihrer Ausreise aus Indien in XXXX attackiert, doch hätten Sie vom Vorfallsort flüchten können. Die Kongress-Partei hätte Ihrem Vater damit gedroht, Sie umzubringen, wenn er seine Tätigkeit für die Alkali Dal nicht einstellen würde. Sie hätten sich in Indien nirgendwo verstecken können, da die Kongress-Partei über ein großes Netzwerk verfügt und man Sie überall finden hätte können. Sie hätten den Vorfall in XXXX auch nicht bei der Polizei angezeigt, da die Kongress-Partei die Polizei ohnehin nur bestochen hätte und Sie noch mehr Probleme bekommen hätten. Im Falle einer Rückkehr in Ihr Heimatland würden Sie um Ihr Leben fürchten, man würde Sie ermorden.

. . .

Sie beschreiben im gegenständlichen Verfahren lediglich eine drohende Verfolgung durch Privatpersonen bzw. angeblich von der Kongress-Partei gesandte Personen, jedoch ergibt sich im Verfahren keinesfalls mangelnder Schutzwille oder mangelnde Schutzfähigkeit des Staates Indien. Sie führten vielmehr an, niemals Anzeige gegen die Sie bedrohenden Personen erstattet zu haben, sodass der indische Staat erst gar nicht die Möglichkeit hatte, Sie zu schützen.

Überdies stellen sich Ihre Ausführungen sehr vage und oberflächlich dar. Sie konnten nicht einmal nachvollziehbar erklären, welche Aufgabe Ihr Vater genau in der Partei innehat und inwiefern Sie ihn dabei unterstützen müssten. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass Sie keinerlei genauere Angaben über die Alkali Dal-Partei machen konnten, Sie konnten nicht einmal eine grobe Mitgliederanzahl nennen. Weiters ist für das Bundesamt nicht nachvollziehbar, warum die Kongress-Partei ausgerechnet an Ihnen Interesse haben sollte, wo Sie selbst nicht einmal Mitglied der Alkali Dal-Partei gewesen sind. Auch Ihr Vater hatte keinerlei höhere Funktion in der Alkali Dal-Partei, sodass auch an ihm kein besonderes Interesse seitens der Kongress-Partei glaubhaft ist.

Die von Ihnen vorgebrachte persönliche Bedrohung in XXXX durch ‚vier oder fünf‘ bewaffnete Personen, welche Ihrer Meinung nach von der Kongress-Partei beauftragt worden wären, schilderten Sie ebenfalls sehr oberflächlich. Sie konnten nicht einmal ein exaktes Daum zu diesem Vorfall nennen, obwohl es sich nach allgemeinem Verständnis um eine traumatische und einschneidende Erfahrung handeln hätte müssen, sollten Sie tatsächlich bedroht worden sein. Sie konnten auch nicht näher darlegen, wie Ihnen die Flucht aus dieser Situation gelungen wäre.

. . .

Aus den Länderinformationen zu Indien ergibt sich, dass sich die politische Opposition frei betätigen kann. Die Wahlen zu den Gemeindeversammlungen, Stadträten und Parlamenten auf bundesstaatlicher wie nationaler Ebene sind frei, gleich und geheim. Sie werden – ungeachtet von Problemen, die aus der Größe des Landes, verbreiteter Armut bzw. hoher Analphabetenrate und örtlich vorkommender Manipulationen resultieren – nach Einschätzung internationaler Beobachter korrekt durchgeführt. Behinderungen der Opposition kommen insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene vor, z.B. durch nur eingeschränkten Polizeischutz für Politiker, Vorenthalten von Genehmigungen für Wahlkampfveranstaltungen, tätliche Übergriffe durch Anhänger anderer Parteien. Derartige Vorkommnisse werden von der Presse aufgegriffen und können von den politischen Parteien öffentlichkeitswirksam thematisiert werden. Sie ziehen in der Regel auch Sanktionsmaßnahmen der unabhängigen und angesehenen staatlichen Wahlkommission (‚Election Commission of India‘) nach sich (AA 23.9.2020).

Aus den vorzitierten Länderinformationen ergibt sich demnach, dass Ihnen in Indien im Falle einer tatsächlichen Bedrohung durch Mitglieder der Kongress-Partei Schutz und Hilfe offenstehen.

Für das Bundesamt ist daher darüber hinaus vom Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative auszugehen, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass es in Indien kein geordnetes Meldewesen gibt. Sie konnten nicht glaubhaft begründen, wie Sie in einer beliebigen anderen Stadt in Indien gefunden werden sollten.“

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien. Am 01.02.2021 hat der Beschwerdeführer im Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Er gehört der Religionsgemeinschaft der Sikh an und ist ledig. Er verfügt über eine zehnjährige Schulbildung und hat in Indien nie gearbeitet. Der Beschwerdeführer spricht Punjabi. In Indien leben nach wie vor seine Eltern und seine 5 Geschwister. Im Bundesgebiet verfügt der Beschwerdeführer über keinerlei Familienangehörige, er lebt auch nicht in einer Lebensgemeinschaft. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache beherrscht, einer regelmäßigen, legalen Beschäftigung nachgeht, sich sozial engagiert oder hier Freunde gefunden hat. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland aus den von ihm genannten Gründen verlassen hat.

Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Indien wird Folgendes festgestellt:

COVID-19:

Letzte Änderung: 22.10.2020

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).

Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinische Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).

Politische Lage:

Letzte Änderung: 23.10.2020

Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 5.10.2020; vgl. AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).

Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 8.2020a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 9.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 9.2020a).

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 8.2020a).

Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).

Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 8.2020a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).

Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).

Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 7.2020). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 8.2020a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 7.2020).

Sicherheitslage:

Letzte Änderung: 06.11.2020

Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 8.2020a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 7.2020). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 7.2020).

Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020) und der und im von separatistischen Gruppen bedrohten Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (SATP 8.10.2020). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).

Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 4.3.2020). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 511 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).

Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).

Indien und Pakistan:

Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).

Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).

Indien und China:

Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Zusammenstöße entlang der „Line of Actual Control (LAC)“, der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin forderten am 15.6.2020 in den ersten Vorfällen seit 45 Jahren mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr als 3.400 Kilometer langen Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 7.2020).

Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 7.2020).

Indien und Bangladesch

Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 8.2020a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 7.2020).

Indien und Sri Lanka:

Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 8.2020a).

Punjab:

Letzte Änderung: 23.10.2020

Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).

Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015).

Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders als im übrigen Indien dar. Jüngste Berichte internationaler Menschenrechts-NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch), aber auch jene des US State Department enthalten keine gesonderten Informationen zum Punjab (ÖB 9.2020).

Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).

Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Per 13.10.2020 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 13.10.2020).

In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).

Rechtsschutz / Justizwesen:

Letzte Änderung: 05.11.2020

In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020).

Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).

Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 23.9.2020). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020).

Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).

In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).

Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public Safety Act) ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).

Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).

Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 9.2020).

Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).

Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).

Sicherheitsbehörden:

Letzte Änderung: 05.11.2020

Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 7.2020) und untersteht den Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 7.2020).

Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 7.2020; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).

Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die „Beschützerin der Nation“, aber nur im militärischen Sinne (BICC 7.2020). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 23.9.2020; vgl. BICC 7.2020). Paramilitärischen Einheiten werden als Teil der Streitkräfte, vor allem bei internen Konflikten eingesetzt, so in Jammu und Kaschmir sowie in den nordöstlichen Bundesstaaten. Bei diesen Einsätzen kommt es oft zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen (BICC 7.2020).

Den Sicherheitskräften, sowohl der Polizei, den paramilitärischen Einheiten als auch dem Militär, werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei ihren Einsätzen in den Krisengebieten des Landes nachgesagt (BICC 7.2020).

Für den Einsatz von Streitkräften - vor allem von Landstreitkräften - in Unruhegebieten und gegen Terroristen wird als Rechtsgrundlage der „Armed Forces Special Powers Act“ (AFSPA) zur Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ herangezogen (USDOS 11.3.2020). Das Gesetz gibt den Sicherheitskräften in „Unruhegebieten“ weitgehende Befugnisse zum Gebrauch von Gewalt, zu Festnahmen ohne Haftbefehl und Durchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl (AA 23.9.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020). Das Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten (Unlawful Activities Prevention Act, UAPA) gibt den Behörden die Möglichkeit, Personen in Fällen im Zusammenhang mit Aufständen oder Terrorismus festzuhalten (USDOS 11.3.2020). Den Sicherheitskräften wird weitgehende Immunität gewährt (AA 23.9.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020).

Im Juli 2016 ließ das Oberste Gericht in einem Zwischenurteil zum AFSPA in Manipur erste Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes erkennen. Der Schutz der Menschenrechte sei auch unter den Regelungen des AFSPA unbedingt zu gewährleisten. Das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz wurde im April 2018 für den Bundesstaat Meghalaya aufgehoben, im Bundesstaat Arunachal Pradesh auf acht Polizeidistrikte beschränkt und ist seit April 2019 in drei weiteren Polizeidistrikten von Arunachal Pradesh teilweise aufgehoben. Unverändert in Kraft ist es in folgenden als Unruhegebiete geltenden Staaten: Assam, Nagaland sowie in Teilen von Manipur. Für den Bundesstaat Jammu & Kashmir existiert eine eigene Fassung (AA 23.9.2020).

Die unter anderem auch in den von linksextremistischen Gruppen (sogenannten Naxaliten) betroffenen Bundesstaaten Zentralindiens eingesetzten paramilitärischen Einheiten Indiens unterstehen zu weiten Teilen dem Innenministerium (AA 23.9.2020). Dazu zählen insbesondere die National Security Guard (NSG), aus Angehörigen des Heeres und der Polizei zusammengestellte Spezialtruppe für Personenschutz, auch als „Black Cat“ bekannt, die Rashtriya Rifles, eine Spezialtruppe zum Schutz der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen bei inneren Unruhen und zur Bekämpfung von bewaffneten Rebellionen, die Central Reserve Police Force (CRPF) - die Bundesreservepolizei, eine militärisch ausgerüstete Polizeitruppe für Sondereinsätze - die Border Security Force (BSF - Bundesgrenzschutz) als größte und am besten ausgestattete Miliz zum Schutz der Grenzen zu Pakistan, Bangladesch und Myanmar. Sie wird aber auch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in anderen Landesteilen eingesetzt. Die sogenannten Assam Rifles sind zuständig für Grenzverteidigung im Nordosten - die Indo-Tibetan Border Force (ITBP) werden als Indo-Tibetische Grenzpolizei, die Küstenwache und die Railway Protective Force zum Schutz der nationalen Eisenbahn und die Central Industrial Security Force zum Werkschutz der Staatsbetriebe verantwortlich (ÖB 9.2020). Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden (AA 23.9.2020).

Die Grenzspezialkräfte („Special Frontier Force“) unterstehen dem Büro des Premierministers. Die sogenannten Grenzspezialkräfte sind eine Eliteeinheit, die an sensiblen Abschnitten im Grenzgebiet zu China eingesetzt werden. Sie agieren im Rahmen der Geheimdienste, des sogenannten Aufklärun

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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