TE Vwgh Beschluss 2021/7/28 Ra 2020/03/0164

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Veröffentlicht am 28.07.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E1E
E3R E05204020
E3R E05205000
E6B
E6O
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
59/04 EU - EWR

Norm

B-VG Art130
B-VG Art133 Abs4
EURallg
VwGG §28 Abs3
VwGG §30
VwGG §30 Abs2
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §22
12010E278 AEUV Art278
12010E279 AEUV Art279
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art52 Abs1 lita
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art52 Abs1 litb
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV Art50 Abs1
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV Art50 Abs2
62014CO007801 Kommission / ANKO
62015TO0235 Pari Pharma / EMA
62017CO0441 Kommission / Polen

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger und die Hofräte Dr. Lehofer und Mag. Samm als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revision des Dr. S A in I, vertreten durch die Battlogg Rechtsanwalts GmbH in 6780 Schruns, Gerichtsweg 2, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom 28. Oktober 2020, Zl. LVwG-460-2/2020-R9, betreffend Zurückweisung von Anträgen in Angelegenheiten nach der RAO, den Beschluss gefasst:

Spruch

1. Die Revision wird zurückgewiesen.

2. Die Anträge auf „Erlassung einer Maßnahme des sofortigen und vorläufigen Rechtsschutzes wegen Anspruchs auf vorläufige Zahlungen, Leistungen und Vorschüsse gemäß Art. 50 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 883/2004“ und auf Einholung einer Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) werden zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber stellte mit den unmittelbar an das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg gerichteten Eingaben vom 27. April 2020 und vom 21. Mai 2020 Anträge auf Zuerkennung vorläufiger Leistungen und Vorschüsse für näher genannte Zeiträume ab dem Jahr 2013 gemäß Art. 50 Abs. 1 und 2 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung, idF auch: DVO) bzw. (im Schriftsatz vom 21. Mai 2020) auf Erlassung einer Maßnahme des sofortigen und vorläufigen Rechtsschutzes wegen seines Anspruchs auf solche Leistungen durch Zuerkennung monatlicher vorläufiger Zahlungen in näher genannter Höhe.

2        Er machte u.a. geltend, er sei als Rechtsanwalt länderübergreifend tätig gewesen und habe Versicherungszeiten in Österreich, Liechtenstein, der Schweiz und Chile erworben. Er habe am 20. September 2012 beim zuständigen Träger (der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer) die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitsrente beantragt. Diese sei eine Leistung nach Art. 3 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (Grundverordnung, idF auch: GVO). Die Vorarlberger Rechtsanwaltskammer hätte die übrigen Träger von der Antragstellung verständigen und Erhebungen tätigen müssen, was aber grob schuldhaft unterlassen worden sei. Zudem hätte die Behörde das Verfahren verzögert und nur über Teilzeiträume entschieden.

3        Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes werde auf Unionsrecht gestützt; die dafür nach der (näher dargestellten) Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Verwaltungsgerichtshofs erforderlichen Voraussetzungen lägen vor, wie der Revisionswerber mit näherer Begründung geltend machte.

4        Der Revisionswerber sei sorgepflichtig für eine Gattin sowie zwei (2015 und 2017 geborene) Kinder und benötige die vorläufigen Zahlungen zur Deckung seines Lebensunterhaltes und der Lebensunterhaltung seiner Angehörigen. Sein Vermögen sei aufgrund langjähriger einkommensloser Zeiten insolvenzverfangen.

Er lebe seit mehr als 7 Jahren ohne geregeltes, zumindest das Existenzminimum abdeckendes Einkommen und sei der Obdachlosigkeit (Verlust des Eigenheims im anhängigen Konkursverfahren) und dem sozialen Untergang ausgesetzt. Der Kindergarten für die beiden minderjährigen Kinder koste EUR 439,--. Seine Gattin sei ohne Beschäftigung und habe aufgrund der COVID-19-Pandemie eine am 1. März 2020 angetretene Beschäftigung verloren. Eine Folgebeschäftigung sei aufgrund der Wirtschaftssituation für einen langen Zeitraum nicht zu erwarten.

5        Das Verwaltungsgericht wies diese Anträge ebenso wie den Antrag auf Einholung einer Vorabentscheidung beim EuGH mit dem in Revision gezogenen Beschluss gemäß § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 VwGVG jeweils als unzulässig zurück.

6        Dem legte es im Wesentlichen Folgendes zu Grunde:

Der am 21. Mai 1966 geborene Revisionswerber sei österreichischer Staatsbürger, verheiratet und habe zwei Kinder. Seinen Angaben nach sei seine Ehegattin arbeitslos; er selbst befinde sich seit 2010 in medizinischer Behandlung und sei seit September 2012 berufsunfähig. Er habe bei mehreren inländischen und ausländischen Trägern Versicherungszeiten erworben.

Er habe zunächst nur für näher genannte Zeiträume befristet eine Altersrente erhalten. Zuletzt sei ihm für den Zeitraum ab Anfang März 2019 bis Ende Februar 2020 eine befristete sowie ab 1. März 2020 eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension zuerkannt worden.

Über die nun in den Schriftsätzen vom 27. April 2020 und vom 21. Mai 2020 gestellten Anträge sei kein Bescheid erlassen worden.

7        Einer inhaltlichen Entscheidung über diese Anträge stehe, soweit sie sich auf Zeiträume bezögen, über die mit rechtskräftigem Beschluss vom 28. Jänner 2015 (gleichfalls betreffend einen Antrag auf Zuerkennung vorläufiger Zahlungen gemäß Art. 50 DVO) abgesprochen worden sei, das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Sache entgegen. Die Anträge seien aber auch aus weiteren Gründen zurückzuweisen:

Da kein Bescheid einer Verwaltungsbehörde vorliege und es sich bei der Eingabe vom 27. April 2020 um keine Beschwerde handle, lägen die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 lit. a LVwG-G nicht vor. Mangels gesetzlicher Grundlage für „Anträge in sonstigen Angelegenheiten“ sei auch eine Zuständigkeit gemäß § 2 Abs. 4 lit. c LVwG-G auszuschließen. Der Antrag auf Zuerkennung einer vorläufigen Leistung sei daher als unzulässig zurückzuweisen.

Zudem sei das Verwaltungsgericht nicht zuständig, über einen Antrag nach Art. 50 DVO zu entscheiden. Sofern es sich um eine „Leistungssache“ (§ 354 ASVG) handle, sei das örtlich zuständige Arbeits- und Sozialgericht als zuständiges innerstaatliches Gericht anzusehen.

Für die mit Schriftsatz vom 21. Mai 2020 beantragte Erlassung einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes wegen des Anspruches auf vorläufige Zahlungen, Leistungen und Vorschüsse nach Art. 50 DVO sei das Verwaltungsgericht - als Gericht, welches nicht zur Entscheidung in der Hauptsache berufen sei - ebensowenig zuständig.

Die gestellten Anträge seien daher zurückzuweisen gewesen.

8        Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben, in eventu ihn dahin abzuändern, dass die beantragten Leistungen zuerkannt würden.

9        Mit der Revision verbunden ist der an den Verwaltungsgerichtshof gerichtete „Antrag auf Erlassung einer Maßnahme des sofortigen und vorläufigen Rechtsschutzes wegen Anspruchs auf vorläufige Zahlungen, Leistungen und Vorschüsse gemäß Art. 50 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 für die Zeit ab dem 1. November 2013“. Unter einem wird ein Antrag auf Einholung einer Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV beim EuGH mit näher genannten Fragen insbesondere zur Auslegung der DVO und der GrC gestellt.

10       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Auf Beschlüsse der Verwaltungsgerichte ist Art. 133 Abs. 4 B-VG sinngemäß anzuwenden (Art. 133 Abs. 9 B-VG).

11       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

12       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

13       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst Folgendes vor:

Es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Frage, welche innerstaatliche Behörde für die Zuerkennung von Ansprüchen nach Art. 50 DVO - wie sie der Revisionswerber geltend gemacht habe - zuständig sei; gleichfalls fehle es an einer Rechtsprechung zur Frage, welche Behörde für die Zuerkennung von - ebenso vom Revisionswerber geltend gemachten - einstweiligen Ansprüchen kraft primärem Unionsrecht zuständig sei.

Weiters macht die Revision geltend, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu den Konsequenzen der unvollständigen Aktenvorlage durch die belangte Behörde: Wären die Akten vollständig vorgelegt worden, hätte sich ergeben, dass keine Versicherungszeitenauskunft von anderen Mitgliedstaaten eingeholt worden sei bzw. dass die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 50 DVO vorlägen.

Schließlich verstoße die Auffassung des Verwaltungsgerichts, sein Beschluss vom 28. Jänner 2015, mit dem vom Revisionswerber geltend gemachte Ansprüche auf vorläufige Zahlungen gemäß Art. 50 DVO zurückgewiesen wurden, entfalte Teilrechtskraft, gegen die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs, weil mit dem genannten Beschluss Anträge nicht ab-, sondern zurückgewiesen worden seien und sich zudem der Sachverhalt in relevanter Weise geändert habe.

14       Mit diesem Vorbringen wird nicht dargelegt, dass der Verwaltungsgerichtshof bei Entscheidung über die vorliegende Revision eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu lösen hätte.

15       Der Revisionswerber hatte in seinen verfahrenseinleitenden Anträgen an das Verwaltungsgericht im Wesentlichen geltend gemacht, der iSd DVO zuständige „Träger“, also die zuständige Behörde der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer, habe über von ihm gestellte Anträge betreffend Berufsunfähigkeitspension nach der RAO zu Unrecht gar nicht bzw. nur über Teilzeiträume entschieden. Wäre der Träger rechtskonform vorgegangen, hätte über die Anträge innerhalb weniger Wochen entschieden werden können, was nicht geschehen sei. Bis zur Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension wäre ihm iSd Art. 50 DVO ein Vorschuss zu leisten gewesen, was gleichfalls unterblieben sei. Mangels klarer gesetzlicher Festlegung, welche „Behörde“ in einer derartigen Konstellation angerufen werden könne, würde der Anspruch (auf Zuerkennung vorläufiger Leistungen nach Art. 50 DVO bzw. auf einstweilige Zuerkennung solcher Leistung im Wege unmittelbarer Anwendung von Unionsrecht) vom Revisionswerber nicht nur bei dem seiner Auffassung nach zuständigen Arbeits- und Sozialgericht geltend gemacht, sondern auch beim Verwaltungsgericht, das zudem bereits in der Vergangenheit über Renten entschieden habe.

16       Das angerufene Verwaltungsgericht hat - wie oben dargestellt - seine Zuständigkeit verneint und demgemäß die bei ihm gestellten Anträge als unzulässig zurückgewiesen.

17       Die von der Revision eingangs der Zulässigkeitsbegründung aufgeworfene Frage nach der Zuständigkeit für den Zuspruch vorläufiger Zahlungen und Vorschüsse nach Art. 50 DVO wird von dieser Bestimmung - in Zusammenspiel mit der Grundverordnung - selbst beantwortet.

18       Sie lautet:

„Artikel 50

Vorläufige Zahlungen und Vorschüsse

(1) Stellt ein Träger bei der Bearbeitung eines Leistungsantrags fest, dass der Antragsteller nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften Anspruch auf eine autonome Leistung nach Artikel 52 Absatz 1 Buchstabe a der Grundverordnung hat, so zahlt er diese Leistung ungeachtet des Artikels 7 der Durchführungsverordnung unverzüglich aus. Diese Zahlung ist als vorläufige Zahlung anzusehen, wenn sich das Ergebnis der Bearbeitung des Antrags auf den gewährten Betrag auswirken könnte.

(2) Geht aus den verfügbaren Angaben hervor, dass der Antragsteller Anspruch auf eine Zahlung eines Trägers nach Artikel 52 Absatz 1 Buchstabe b der Grundverordnung hat, so zahlt dieser Träger ihm einen Vorschuss, dessen Höhe weitestgehend dem Betrag entspricht, der aufgrund des Artikels 52 Absatz 1Buchstabe b der Grundverordnung wahrscheinlich festgestellt wird.

(3) Jeder nach Absatz 1 oder 2 zur Zahlung der vorläufigen Leistungen oder eines Vorschusses verpflichtete Träger unterrichtet hiervon unverzüglich den Antragsteller, wobei er diesen ausdrücklich auf den vorläufigen Charakter dieser Maßnahme und auf alle verfügbaren Rechtsbehelfe nach seinen Rechtsvorschriften aufmerksam macht.“

19       Gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. c der DVO gelten im Sinne dieser Verordnung die Begriffsbestimmungen der Grundverordnung, also der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (GVO).

20       Die GVO definiert den „Träger“ in Art. 1 lit. p bis r: Danach bezeichnet der Ausdruck

p)   „Träger“ in jedem Mitgliedstaat die Einrichtung oder Behörde, der die Anwendung aller Rechtsvorschriften oder eines Teils hiervon obliegt;

q)   „zuständiger Träger“:

i)   den Träger, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Leistungen versichert ist,

oder

ii)  den Träger, gegenüber dem die betreffende Person einen Anspruch auf Leistungen hat oder hätte, wenn sie selbst oder ihr Familienangehöriger bzw. ihre Familienangehörigen in dem Mitgliedstaat wohnen würden, in dem dieser Träger seinen Sitz hat,

oder

iii) den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger,

oder

iv)  bei einem System, das die Verpflichtungen des Arbeitgebers hinsichtlich der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Leistungen betrifft, den Arbeitgeber oder den betreffenden Versicherer oder, falls es einen solchen nicht gibt, die von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichnete Einrichtung oder Behörde;

r)   „Träger des Wohnorts“ und „Träger des Aufenthaltsorts“ den Träger, der nach den Rechtsvorschriften, die für diesen Träger gelten, für die Gewährung der Leistungen an dem Ort zuständig ist, an dem die betreffende Person wohnt oder sich aufhält, oder, wenn es einen solchen Träger nicht gibt, den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger;

21       Ausgehend von dieser auch iSd der DVO maßgeblichen Begriffsbestimmung ist der - gegebenenfalls zur Leistung vorläufiger Zahlungen und Vorschüsse nach Art. 50 Abs. 1 und 2 DVO verpflichtete - „Träger“ jedenfalls nicht das Verwaltungsgericht, sondern jene Stelle („Einrichtung oder Behörde“), die nach den nationalen Vorschriften den Leistungsantrag zu bearbeiten und zu prüfen hat, ob der Antragsteller Anspruch auf eine autonome Leistung nach Art. 52 Abs. 1 lit. a der GVO oder auf eine anteilige Leistung nach Art. 52 Abs. 1 lit. b der GVO hat, während dem Verwaltungsgericht vor dem Hintergrund von Art. 130 B-VG nur gegebenenfalls die Zuständigkeit zukommt, insoweit im Beschwerde- oder im Säumnisweg zu entscheiden. Die Verneinung seiner Zuständigkeit zur unmittelbaren inhaltlichen Entscheidung durch das Verwaltungsgericht entspricht also der insoweit eindeutigen Rechtslage.

22       Die Verneinung der Zuständigkeit, im Wege einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes (also nach Art einer einstweiligen Verfügung) Leistungen nach Art. 50 DVO („vorläufige Zahlungen und Vorschüsse“) zuzusprechen, hat das Verwaltungsgericht damit begründet, Zweck einer solchen Maßnahme sei die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schon vor der Entscheidung in der Hauptsache, weshalb es - als in der Hauptsache nicht zuständig - auch für die Erlassung einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zuständig sei.

23       Im Revisionsfall kann dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung zutrifft oder ob in einer Konstellation wie der von der Revision geltend gemachten ein Verwaltungsgericht in unmittelbarer Anwendung des Unionsrechts zur Erlassung einer vorläufigen Maßnahme nach Art einer einstweiligen Verfügung (vgl. VwGH 29.10.2014, Ro 2014/04/0069) zuständig wäre.

24       Ebensowenig muss - regelmäßig aber Voraussetzung für die Erlassung einer einstweiligen Anordnung mit der Wirkung, dem Antragsteller eine Rechtsposition vorläufig einzuräumen, die ihm auf Grundlage einer möglicherweise dem Unionsrecht widersprechenden nationalen Rechtsvorschrift verweigert wurde (vgl. etwa VwGH 4.10.2013, 2013/10/0171) - abschließend geklärt werden, ob der Revisionswerber den in den Anträgen vom 27. April 2020 und 21. Mai 2020 an das Verwaltungsgericht geltend gemachten Anspruch zuvor bei der zuständigen Stelle, dem „Träger“, geltend gemacht und ihm dort die Einräumung der angestrebten Rechtsposition verweigert wurde, was auch zeitraumbezogene Kongruenz der geltend gemachten Ansprüche erfordert.

25       Der Revisionswerber stützt den von ihm geltend gemachten Anspruch auf Erlassung einer Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes ausdrücklich auf unmittelbare Anwendung des Unionsrechts. Vor diesem Hintergrund ist es angezeigt, dazu folgende Grundsätze, wie sie vom Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 5. September 2018, Ra 2018/03/0056, dargestellt wurden, in Erinnerung zu rufen:

„Der EuGH hält in seiner im Anwendungsbereich des Unionsrechtes - wie hier - relevanten Rechtsprechung (aufbauend auf Art. 160 seiner Verfahrensordnung [‚Anträge auf Aussetzung oder einstweilige Anordnungen‘]) fest, dass Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, sowie den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung dem ersten Anschein nach rechtfertigenden Sach- und Rechtsgründe anführen müssen (vgl. dazu und zum Folgenden EuGH [Große Kammer] 20.11.2017, C-441/147 R, Europäische Kommission gegen Republik Polen, Rz 28 ff, mwH). Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - dazu zählt, wie vorliegend relevant, die Aussetzung der Vollziehung der zu überprüfenden Entscheidung sowie weiters die Erlassung einer einstweiligen Anordnung - zuständige Richter darf diesen nur dann gewähren, wenn die Notwendigkeit der Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht (fumus boni iuris) und ferner dargetan ist, dass sie dringlich in dem Sinne ist, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wieder gut zu machenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung der Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten muss. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vor. Diese Voraussetzungen bestehen kumulativ, sodass der Antrag auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht erfolgreich sein kann, wenn eine von ihnen fehlt.

...

Da die Voraussetzung des fumus boni iuris nach der Rechtsprechung des EuGH jedenfalls dann erfüllt ist, wenn im Stadium des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes eine bedeutsame rechtliche oder tatsächliche Kontroverse besteht, deren Entscheidung (im Sinn einer summarischen Prüfung) sich nicht sofort aufdrängt, sodass das Rechtsmittel dem ersten Anschein nach nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt (vgl. EuGH [Große Kammer] 20.11.2017, C-441/17 R, Europäische Kommission gegen die Republik Polen, Rz 31, mwH), läuft diese Voraussetzung in einer Konstellation wie der vorliegenden prinzipiell auf den auch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu § 30 VwGG gegebenen Standard hinaus, wonach im Provisorialverfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die Rechtmäßigkeit der bekämpften Entscheidung und damit die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels nicht weiter maßgebend sind (vgl. dazu VwGH 25.8.2017, Ra 2017/03/0069; VwGH 11.10.2005, AW 2005/13/0040), es sei denn, die angefochtene Entscheidung wäre offenkundig rechtswidrig (vgl. etwa VwGH 10.7.2017, Ra 2017/08/0058).

Aus dem genannten Maßstab folgt bezüglich des drohenden schweren und nicht wieder gut zu machenden Schadens ein Gebot zur ausreichenden Konkretisierung und Glaubhaftmachung, wie es sich grundsätzlich auch aus § 30 Abs. 2 VwGG ergibt. Damit ist schon in einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konkret darzulegen, aus welchen tatsächlichen Umständen sich der behauptete schwere und nicht wieder gut zu machende Schaden ergibt, es sei denn, dass sich nach Lage des Falles die Voraussetzungen für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ohne weiteres erkennen lassen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH [verstärkter Senat] 25.2.1981, 2680/80, VwSlg. 10.381 A; VwGH 23.6.2017, Ra 2017/03/0063). Auch nach der Rechtsprechung des EuGH hat nämlich eine Partei, die einen solchen Schaden geltend macht, diesen nachzuweisen; auch wenn insoweit keine absolute Gewissheit des Schadenseintritts erforderlich ist, sondern eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt, ist eine antragstellende Partei gleichwohl verpflichtet, die Umstände nachzuweisen, die einen solchen Schaden erwarten lassen (EuGH [Große Kammer] 20.11.2017, C-441/17 R, Europäische Kommission gegen die Republik Polen, Rz 44). Die antragstellende Partei muss konkrete Angaben machen, die es dem entscheidenden Gericht erlauben, die genauen Auswirkungen abzuschätzen, die in Ermangelung der beantragten Maßnahme wahrscheinlich eintreten würden (vgl. Borchart in Lenz/Borchart, EU-Verträge Kommentar6, 2012, Art. 278,279 AEUV, Rz 17 uH auf unionsrechtliche Rechtsprechung).

Auf dieser Grundlage sind bezüglich eines geltend gemachten wirtschaftlichen Schadens auch die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse einer antragstellenden Partei konkret anzugeben (vgl. etwa VwGH 20.4.2015, Ra 2015/03/0020, mwH), zumal nur dann beurteilt werden kann, dass ohne die Gewährung eines einstweiligen Rechtsschutzes die antragstellende Partei vor dem Ergehen der abschließenden Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache andernfalls in eine Lage geriete, die ihre finanzielle Lebensfähigkeit bzw. ihre wirtschaftliche Existenz bedrohen könnte, oder dass ihre Marktanteile ernsthaft irreparabel beeinträchtigt werden könnten (vgl. dazu den Beschluss des Vizepräsidenten des EuGH 8.4.2014, C-78/14 P-R, Anko, Rz 26 ff; vgl. auch den Beschluss des Präsidenten des Gerichts, 1.9.2015, T-235/15 R, RSEMA, Rz 102), so wie dies der Maßstab des schweren und nicht wieder gut zu machenden Schadens erfordert (vgl. dazu etwa Pache in Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg), Europäisches Unionsrecht2, 2018, Art. 278 AEUV, Rz 23; Wegener in Calliess/Ruffert (Hrsg), EUV/AEUV5, 2016, Art. 278, 279 AEUV, Rz 23; Gaitanides in von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg), Europäisches Unionsrecht7, 2015, Art. 279 AEUV, Rz 33; Stoll/Rigod in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg), Das Recht der Europäischen Union, Band III, Art. 279 AEUV, Rz 22 (2013); Lengauer/Richter in Mayer/Stöger (Hrsg), Kommentar EUV, AEUV, Art 278, 279 AEUV, Rz 40 (2012); Borchart, aaO, Rz 24).“

26       Das Vorbringen des Revisionswerbers in seinem Schriftsatz vom 21. Mai 2020, mit dem er die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt hat, referiert im Wesentlichen zutreffend die nach der eben dargestellten Judikatur dafür notwendigen Voraussetzungen (zusammengefasst: Notwendigkeit der Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht; Dringlichkeit).

27       Es genügt aber inhaltlich dem danach anzulegenden Maßstab nicht: Die Dartuung der Dringlichkeit - Notwendigkeit zur Abwendung eines drohenden schweren und nicht wieder gutzumachenden Schadens - erfordert in einer Konstellation wie der vorliegenden eine ausreichende Konkretisierung und Glaubhaftmachung durch Angabe der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse, um beurteilen zu können, ob der Antragsteller ohne Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor Ergehen der abschließenden Entscheidung in der Hauptsache in eine Lage geriete, die seine finanzielle Lebensfähigkeit bzw. die wirtschaftliche Existenz bedrohen könnte.

28       Der Revisionswerber macht allerdings nahezu ausschließlich abstrakte Angaben zu einem befürchteten schweren und nicht wieder gut zu machenden Schaden geltend, indem er ausführt, er lebe schon jahrelang ohne genügendes Einkommen, seine Gattin sei arbeitslos und er sei der Obdachlosigkeit sowie dem „sozialen Untergang“ ausgesetzt. Er beziffert nur die Kosten für den Kindergarten seiner beiden Kinder und konkretisiert seine wirtschaftlichen Verhältnisse nicht näher, sodass nicht festgestellt werden kann, dass er in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht wäre. Schon insoweit wird von ihm die Dringlichkeit der Zuerkennung einer vorläufigen Leistung nicht glaubhaft gemacht.

29       Hinzu tritt Folgendes: Ausgehend von den insoweit nicht bekämpften Feststellungen des Verwaltungsgerichts war dem Revisionswerber für den Zeitraum von Anfang März 2019 bis Ende Februar 2020 eine befristete Berufsunfähigkeitspension und für den Zeitraum ab 1. März 2020 eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension zuerkannt worden. Auch deshalb ist nicht ersichtlich, dass der Revisionswerber ohne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht wäre.

30       Lagen aber die inhaltlichen Voraussetzungen für die vom Revisionswerber im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht begehrte Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht vor, wurde er durch die Zurückweisung seiner Anträge nicht in Rechten verletzt, weshalb eine abschließende Klärung der Zuständigkeitsfrage entbehrlich ist und die Revision von der Lösung der insoweit aufgeworfenen Rechtsfrage nicht „abhängt“ (vgl. VwGH 15.9.2020, Ro 2020/16/0028, mwN).

31       Gleiches gilt für den geltend gemachten Verfahrensmangel der unvollständigen Aktenvorlage, weil dessen Relevanz für den Verfahrensausgang nicht dargetan wird, sowie für den behaupteten Verstoß gegen - noch dazu nicht näher konkretisierte (vgl. zu den diesbezüglichen Anforderungen etwa VwGH 28.1.2021, Ra 2020/03/0138) - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs durch Bejahung einer Teilrechtskraft des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 28. Jänner 2015. Stellt sich nämlich selbst ausgehend vom Vorbringen des Revisionswerbers die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes im Ergebnis als inhaltlich richtig dar, kommt einem in den Ausführungen zur Zulässigkeit angesprochenen Verfahrensmangel keine Relevanz zu, sodass die Revision auch nicht von der Lösung dieser geltend gemachten Rechtsfrage abhängt (vgl. etwa VwGH 2.9.2015, Ra 2015/02/0114, mwN).

32       Nach dem Gesagten werden in der Revision keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

33       Zur Erlassung einer Maßnahme des sofortigen und vorläufigen Rechtsschutzes - nach Art einer einstweiligen Verfügung - wegen eines allfälligen Anspruchs auf vorläufige Zahlungen nach Art. 50 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 883/2004 ist der Verwaltungsgerichtshof aus den im Beschluss vom 29. Oktober 2014, Ro 2014/04/0069, dargelegten Erwägungen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 und 9 VwGG verwiesen wird, nicht zuständig. Im Übrigen gilt das oben zur mangelnden Konkretisierung der behaupteten „Dringlichkeit“ Gesagte auch hier.

34       Die diesbezüglichen Anträge des Revisionswerbers sind daher nach § 34 Abs. 1 VwGG wegen Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zurückzuweisen.

35       Ebenfalls zurückzuweisen war der Antrag, der Verwaltungsgerichtshof möge an den EuGH einen Antrag auf Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV zu näher bezeichneten Rechtsfragen des Unionsrechts stellen: Ein Rechtsanspruch auf Einholung einer Vorabentscheidung kommt dem Revisionswerber nicht zu (vgl. VwGH 8.9.2011, 2011/03/0111). Im Übrigen sind die von der Revision insoweit formulierten Fragen - die außerdem nicht im Rahmen der Zulässigkeitsausführungen geltend gemacht wurden - für die bei der zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision vorzunehmenden Beurteilung, ob iSd Rechtsprechung des EuGH bei unmittelbarer Anwendung des Unionsrechts vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren gewesen wäre, nicht relevant.

36       Mangels Relevanz sieht sich der Verwaltungsgerichtshof schließlich auch nicht veranlasst, beim Verfassungsgerichtshof einen von der Revision angeregten Normenprüfungsantrag hinsichtlich näher bezeichneter Bestimmungen der Satzung der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer zu stellen.

Wien, am 28. Juli 2021

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Gemeinschaftsrecht vorläufige Aussetzung der Vollziehung provisorischer Rechtsschutz EURallg6

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020030164.L00

Im RIS seit

20.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

07.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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