Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. C***** S*****, vertreten durch Dr. Karin Prutsch und Mag. Michael Damitner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. I***** L*****, und 2. W***** AG *****, beide vertreten durch Prof. Mag. Dieter Schnetzinger, Rechtsanwalt in Linz, wegen 26.570,13 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 10.000 EUR), über die ordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 10.168,98 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 10. Februar 2021, GZ 2 R 3/21f-28, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 22. Februar 2021, GZ 2 R 3/21f-30, womit das Urteil des Landesgerichts Steyr vom 30. Oktober 2020, GZ 3 Cg 36/19y-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Am 30. 4. 2017 ereignete sich im Bereich einer Kreuzung in St. Florian ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Lenkerin eines E-Bikes und die Erstbeklagte als Lenkerin eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten LKW beteiligt waren. Die Erstbeklagte fuhr auf der Landesstraße statt der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h, bei deren Einhaltung sie den Unfall vermeiden hätte können, zwischen 85 und 90 km/h. Die Klägerin, die sich der Unfallstelle auf einem mit dem Vorrangzeichen „Vorrang geben“ (§ 52 lit c Z 23 StVO) abgewerteten, aus Sicht der Erstbeklagten von links in die Landesstraße einmündenden Güterweg genähert hatte, bog in einem Zug langsam nach links in die Landesstraße ein, ohne das Vorrangzeichen und den jedenfalls ab dem Bereich der Verschneidungslinie der beiden Straßen für sie erkennbaren LKW wahrzunehmen. Die Erstbeklagte konnte die Kollision trotz sofortiger Vollbremsung nicht verhindern. Die Klägerin erlitt eine LWK-II-Impressionsfraktur, Prellungen und Rippen-fortsatzabrissfrakturen, die insgesamt zwei Tage starke, sieben bis acht Tage mittelstarke und zwölf bis dreizehn Wochen leichte Schmerzen verursachten.
[2] Die Klägerin begehrte die Zahlung von 26.570,13 EUR sA – darunter 17.000 EUR an Schmerzen-
geld – und die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden. Das Alleinverschulden treffe die Erstbeklagte, die eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten habe. Der LKW sei für die Klägerin im Kreuzungsbereich nicht erkennbar gewesen. Bei Ausmessung des Schmerzengeldes seien die mit dem Unfall einhergehende psychische Alteration und der komplizierte Heilungsverlauf zu berücksichtigen.
[3] Die Beklagten bestritten. Das Alleinverschulden treffe die Klägerin, die den Vorrang des LKW missachtet habe.
[4] Die Vorinstanzen gaben dem Zahlungsbegehren mit 6.962,96 EUR sA statt und wiesen das Zahlungsmehrbegehren sowie das Feststellungsbegehrens ab. Sie gingen von einer Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten der Klägerin aus, weil die von dieser zu verantwortende Vorrangverletzung schwerer wiege als die Geschwindigkeitsüberschreitung der Erstbeklagten. Das Schmerzengeld sei unter Berücksichtigung der Art und Schwere der Verletzungen, der erlittenen Schmerzen und der unfallbedingten psychischen Alteration mit (ungekürzt) 14.000 EUR auszumessen. Als Heilungskosten seien (nur) die zur versuchten Heilung und Linderung zweckmäßigen Aufwendungen zu ersetzen. „Vor diesem Hintergrund“ erscheine ein (ungekürzter) Zuspruch von etwa der Hälfte der Kosten, nämlich 400 EUR, angemessen bzw unbedenklich. Da die Narben als Dauerfolgen mit keiner funktionellen Einschränkung verbunden und Spätfolgen mit „in der Medizin möglicher Sicherheit ausgeschlossen“ seien, sei das Feststellungsbegehren abzuweisen.
[5] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Entscheidungsgegenstand 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige. Über Antrag der Klägerin nach § 508 ZPO ließ es die ordentliche Revision nachträglich mit der Begründung zu, dass eine „klarstellende Äußerung“ des Höchstgerichts zu den gewisse Interpretations- und Wertungsspielräume eröffnenden, im Zulassungsantrag aufgezeigten Prozessaspekten geboten und zweckmäßig erscheine.
[6] In ihrer Revision begehrt die Klägerin eine Stattgebung des Zahlungsbegehrens im Umfang von 12.131,94 EUR sA und des Feststellungsbegehren im Umfang der Hälfte. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
[7] Die Beklagten haben keine Revisionsbeantwortung erstattet.
[8] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig:
Rechtliche Beurteilung
[9] 1. Da es das Berufungsgericht unterlassen hat, in seiner den ursprünglichen Nichtzulassungsausspruch abändernden Entscheidung darzutun, worin es konkret die Möglichkeit einer aufzugreifenden Fehlbeurteilung sieht, erweist sich die Begründung seiner nunmehrigen Zulassungsentscheidung als Scheinbegründung (6 Ob 109/20b; vgl RS0122015).
[10] 2. Die Beurteilung des Verschuldensgrades unter Anwendung der richtig dargestellten Grundsätze, ohne dass ein wesentlicher Verstoß gegen maßgebliche Abgrenzungskriterien vorläge, und das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten können wegen ihrer Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RS0087606). Ein Verstoß der Vorinstanzen gegen solche maßgeblichen Abgrenzungskriterien liegt nicht vor:
[11] 2.1. Im Revisionsverfahren ist unstrittig, dass der Klägerin eine Verletzung des Vorrangs der Erstbeklagten gemäß § 19 StVO und der Erstbeklagten eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäß § 20 StVO anzulasten ist, wobei nach den Grundsätzen der Beweislastverteilung (RS0022560; RS0022783) von einer Überschreitung der Geschwindigkeit um (nur) 15 km/h – was rund 20 % entspricht – auszugehen ist. Nach ständiger Rechtsprechung wiegt ein Verstoß gegen die gesetzlichen Bestimmungen über den Vorrang schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten (RS0026775).
[12] 2.2. Von diesem Grundsatz macht die Rechtsprechung im Fall besonders gravierender anderer Verkehrswidrigkeiten allerdings Ausnahmen. Im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberschreitungen bedarf es nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofs im Regelfall einer besonders schwerwiegenden Verletzung der Geschwindigkeitsbeschränkung durch Übertretung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 50 bis 100 %, um die Annahme gleichteiligen Mitverschuldens gegenüber einer Vorrangverletzung des Unfallgegners als sachgerecht anzusehen (2 Ob 253/82 ZVR 1983/188; vgl 8 Ob 152/80 ZVR 1981/211: rund 130 statt 80 km/h; 8 Ob 256/80 ZVR 1982/20: 70 statt 30 km/h). Die Einhaltung einer derart weit überhöhten Geschwindigkeit haben die Vorinstanzen der Erstbeklagten in jedenfalls vertretbarer Weise nicht angelastet.
[13] 2.3. Mit der Aufzählung diverser Entscheidungen in der Revision zeigt die Klägerin keine Überschreitung des Ermessensspielraums der Vorinstanzen im Zusammenhang mit der Verschuldensteilung auf, zumal sie weit überwiegend nicht einmal nähere Angaben zum Ausmaß der den Entscheidungen jeweils zugrunde liegenden Geschwindigkeitsüberschreitung macht. Zwar trifft es zu, dass der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 8 Ob 199/82 das von gleichteiligem Mitverschulden ausgehende Urteil des Erstgerichts über Revision der (dort) Beklagten wiederherstellte, wobei dem (dort) Kläger eine Vorrangverletzung und dem (dort) Erstbeklagten bloß eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 7 km/h (47 statt 40 km/h) anzulasten war. Allerdings waren dem Obersten Gerichtshof, der die Geringfügigkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung betonte, Ausführungen zu einer für die (dort) Beklagten günstigeren Verschuldensteilung aus prozessualen Gründen verwehrt. Diese Entscheidung ist damit nicht geeignet, den Standpunkt der Klägerin zu stützen. Gleiches gilt für die Entscheidung 2 Ob 169/67 ZVR 1968/117, weil dort nicht die (geringfügige) Überschreitung der relativ zulässigen Höchstgeschwindigkeit, sondern der massive Aufmerksamkeitsfehler des Lenkers des im Vorrang befindlichen Fahrzeugs und dessen erhöhte Betriebsgefahr zur Annahme gleichteiligen Verschuldens führten.
[14] 2.4. Wieso das Vorhandensein einer für die Klägerin sichtbehindernden Hecke zu einer für sie günstigeren Verschuldensteilung führen sollte, erschließt sich nicht, weil die Klägerin gerade deshalb zu besonderer Vorsicht verpflichtet gewesen wäre (RS0074932; RS0074345). Im Übrigen hatte die Klägerin im Bereich der Verschneidungslinie der beiden Straßen in Richtung des herannahenden LKW ohnehin bereits eine Sichtweite von über 200 m, wobei sich der LKW im Zeitpunkt des Erreichens dieser Linie durch die Klägerin deutlich innerhalb dieser Sichtweite befand.
[15] 3. Bei der Bemessung des Schmerzengeldes ist der Gesamtkomplex der Schmerzempfindung unter Bedachtnahme auf die Dauer und Intensität der Schmerzen nach ihrem Gesamtbild, auf die Schwere der Verletzung und auf das Maß der psychischen und physischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustands zu berücksichtigen (RS0031040). Dabei sind auch Sorgen des Verletzten um spätere Komplikationen, das Bewusstsein eines Dauerschadens und die damit verbundene seelische Belastung, mögliche Beziehungsprobleme sowie entgangene und künftig entgehende Lebensfreude zu berücksichtigen (2 Ob 72/20g Rz 17; RS0031054). Geht das Berufungsgericht bei der Prüfung der Berechtigung des begehrten Schmerzengeldes von den nach dem Gesetz zu berücksichtigenden Umständen aus, so handelt es sich bei dessen Ausmessung um einen Einzelfall, auf den die Kriterien des § 502 Abs 1 ZPO nicht zutreffen (RS0042887).
[16] Dass die Bemessung des Schmerzengeldes durch die Vorinstanzen den – neben der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – zur Vermeidung einer völligen Ungleichmäßigkeit der Rechtsprechung anzulegenden objektiven Maßstab gesprengt hätte (vgl RS0031075), behauptet nicht einmal die Klägerin in ihrer Revision. Sie beschränkt sich im Kern auf die Behauptung, dass für die psychische Alteration üblicher Weise „ein Betrag von einem Drittel der Schmerzperiode an leichten Schmerzen“ zugrunde gelegt werde, ohne diese These durch Rechtsprechung oder Literaturangaben zu belegen. Mit dieser – überdies den Grundsatz der Globalbemessung verkennenden – Argumentation gelingt es ihr jedenfalls nicht aufzuzeigen, dass die Vorinstanzen durch Annahme eines (ungekürzten) Schmerzengeldes von 14.000 EUR (anstatt der von der Klägerin angestrebten 17.000 EUR) als angemessen ihren Beurteilungsspielraum überschritten hätten.
[17] 4. Das Erstgericht stützte den nur teilweisen Zuspruch der Heilbehandlungskosten erkennbar auf die Bestimmung des § 273 ZPO („angemessen“). Die in der Berufung der Klägerin enthaltene Rüge dieses Vorgehens blieb erfolglos, weil das Berufungsgericht die erkennbare Anwendung des § 273 ZPO durch das Erstgericht als unbedenklich erachtete. Ob § 273 ZPO anzuwenden ist, ist eine verfahrensrechtliche Entscheidung, die gegebenenfalls mit Mängelrüge zu bekämpfen ist (RS0040282). Soweit das Berufungsgericht – wie im vorliegenden Verfahren – die Anwendung des § 273 ZPO billigte, ist eine nochmalige Überprüfung im Revisionsverfahren nicht möglich (RS0040364 [T7]).
[18] 5. Nach den Feststellungen können bei der Klägerin „mit der in der Medizin möglichen Sicherheit" Spätfolgen ausgeschlossen werden. Als Dauerfolgen verbleiben Narben, die aber zu keinen funktionellen Einschränkungen führen.
[19] Der erkennende Senat hat nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der teilweise kasuistischen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Vorliegen eines Feststellungsinteresses in der Entscheidung 2 Ob 11/18h betont, dass es für das Feststellungsinteresse nur darauf ankommt, ob (auf Tatsachenebene) künftige Unfallfolgen ausgeschlossen werden können oder nicht. Wenn das Berufungsgericht auf Basis der getroffenen Feststellungen das rechtliche Interesse der Klägerin an der Feststellung der Haftung der Beklagten für künftig auftretende Schäden aus dem Unfallereignis verneinte, bewegte es sich im Rahmen der oberstgerichtlichen Rechtsprechung. Der Senat hat bereits ausgesprochen, dass in einem Fall, in dem zwar Dauerfolgen vorliegen, gleichzeitig aber Spätfolgen auszuschließen sind, ein Feststellungsinteresse zu verneinen ist, weil in einem solchen Fall auf Tatsachenebene ausgeschlossen ist, dass aus der Dauerfolge zukünftig noch Schäden entstehen werden (2 Ob 162/05w mwN; vgl auch 8 Ob 138/17b). Ebenso hat der Senat bereits dargelegt, dass sich die Verneinung eines Feststellungsinteresses bei Ausschluss von Spätfolgen „mit der in der Medizin möglichen Sicherheit“ im Rahmen oberstgerichtlicher Rechtsprechung bewegt (2 Ob 30/08p mwN; vgl auch 1 Ob 4/09h; RS0038976 [insb T30, T39]).
[20] 6. Insgesamt zeigt die Revision damit keine erheblichen Rechtsfragen auf.
[21] 7. Die Klägerin hat die Kosten ihrer Revision selbst zu tragen.
Textnummer
E132458European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00081.21G.0624.000Im RIS seit
20.08.2021Zuletzt aktualisiert am
20.08.2021