Entscheidungsdatum
28.06.2021Index
40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AVG §68 Abs1Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Landesverwaltungsgericht Tirol erkennt durch seinen Richter Dr. Riedler über die Beschwerde von Frau AA, Adresse 1, **** Z, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Y vom 12.04.2021, Zl ***, betreffend eine Angelegenheit nach dem Tiroler Mindestsicherungsgesetz,
zu Recht:
1. Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid behoben.
2. Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahrensgang, Sachverhalt und Beweiswürdigung:
Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Y vom 29.07.2020, Zahl ***, wurde der von Frau AA eingebrachte Antrag vom 14.05.2020 auf Gewährung einer Mindestsicherung/Sozialhilfe (Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes, Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes und Schutz bei Krankheit) gemäß § 3 Abs 1 lit a TMSG mit der Begründung abgewiesen, dass die Antragstellerin mangels rechtmäßigen Aufenthaltes österreichischen Staatsangehörigen nicht gleichgestellt und daher nicht anspruchsberechtigt sei. Bezug genommen wurde von der belangten Behörde auf Artikel 2 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrt samt Schlussprotokoll, das am 17.Jänner 1966 unterzeichnet wurde und das am 1. Jänner 1970 in Kraft getreten ist, wonach Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise, im gleichen Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates gewährt wird. Im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur solche deutsche Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in Österreich aufhalten, als von Art 2 Abs 1 dieses Abkommens erfasst angesehen würden und nur sie Anspruch auf Mindestsicherung für ÖsterreicherInnen hätten, was vorliegend nicht der Fall sei, sei der Antrag auf Gewährung einer Mindestsicherung abzuweisen gewesen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 12.04.2021, Zahl ***, wurde der von Frau AA am 02.04.2021 eingebrachte Antrag auf Mindestsicherung gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die Antragstellerin seit der Entscheidung der belangten Behörde vom 29.07.2020 keine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe, sodass ihr nach wie vor kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukomme. Sie sei zwar zwischenzeitlich von X nach Z übersiedelt und habe sich ihr Gesundheitszustand drastisch verschlechtert, eine wesentliche Änderung in der Sache selbst könne die belangte Behörde darin jedoch nicht erkennen. Einer nochmaligen Entscheidung stehe somit das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res judicata) entgegen.
Gegen diesen Bescheid wurde von Frau AA fristgerecht Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Tirol erhoben und darauf hingewiesen, dass sich seit dem Bescheid der belangten Behörde vom 29.07.2020, ***, Entscheidendes geändert habe. Sie leide seit Oktober 2020 an einer Krebserkrankung und damit verbunden sei ihre Arbeitsunfähigkeit. Sie sei nicht mehr in der Lage, ein eigenes Einkommen zu erzielen. In einer besonderen Notlage sei sie zusätzlich aufgrund der Ankündigung der Klinik W, bei fehlender Bezahlung die Therapien einzustellen. Nach wie vor sei sie nicht krankenversichert und habe dies zur Folge, dass sie die Kosten für Therapien selbst bezahlen müsse, wozu sie nicht in der Lage sei. Ihr Lebensunterhalt werde seit Monaten bis heute nur durch Fremdhilfe - Caritas, Rotes Kreuz, Vinzenzgemeinschaften und BB Y - gesichert. Die Zusprache der Mindestsicherung sei also zur Sicherung des Lebensunterhaltes und damit die Krebsbehandlungen nicht eingestellt würden, dringlicher denn je erforderlich. Alleine – wie noch zum Zeitpunkt Mitte 2020 - schaffe sie es einfach nicht mehr. Aus diesen Gründen und weil sie deutsche Staatsangehörige sei, beantrage sie, den Bescheid zu beheben und ihr die Mindestsicherung zuzusprechen.
Mit E-Mail vom 31.05.2021 teilte die Beschwerdeführerin dem Landesverwaltungsgericht Tirol mit, dass die klinischen Behandlungen gegen ihren Krebs, der sie derzeit arbeitsunfähig mache, andauern würden. Damit sie überlebe, sei sie auf die Lebensmittelspenden der Tafel in Z angewiesen. Jetzt setze ihr auch ihr Vermieter seit Wochen enorm zu, dass sie die Wohnung räumen möge, da sie seit Monaten die Miete nicht mehr bezahlen habe können. Es gehe ihr derzeit wirklich sehr schlecht und brauche sie die Mindestsicherung zum Überleben und auch zum Erhalt ihrer Wohnung.
Gegenüber dem im Bescheid der belangten Behörde vom 29.07.2020 festgestellten Sachverhalt ist eine wesentliche Änderung der Sachlage dahingehend eingetreten, dass die Beschwerdeführerin am 08.10.2020 aus ihrer Wohnung in X, Adresse 2, ausgezogen und nach Z, Adresse 1, übersiedelt ist. Durch ihren Auszug ist sie einer gerichtlich angeordneten Delogierung zuvorgekommen. Die Wohnung in Z erhielt sie auf Vermittlung eines Mitgliedes des Yer Service-Clubs. Die Beschwerdeführerin war zum damaligen Zeitpunkt fest entschlossen, eine Arbeit aufzunehmen. Die Wohnung wurde ihr vom Vermieter CC vorläufig und als Notlösung zur Verfügung gestellt. Vereinbart wurde ein Mietzins von Euro 650,00, sobald die Beschwerdeführerin eine Arbeit hat. Ein schriftlicher Mietvertrag wurde nicht abgeschlossen. Da die Beschwerdeführerin zwischenzeitlich immer noch ohne eine Beschäftigung und ohne Einkommen ist, verlangt der Vermieter, dass sie auszieht. Es wurde bereits einmal kurzzeitig die Energie- und Wasserversorgung abgestellt.
Am 23.10.2020 wurde bei der Beschwerdeführerin eine Form des Lymphdrüsenkrebses diagnostiziert. Die gesamte linke obere Körperhälfte ist davon betroffen. Die Beschwerdeführerin gab an, große Schmerzen gehabt zu haben. Die Wucherungen unter ihrem linken Arm hätten den Umfang von drei Tennisbällen gehabt. Da sie keine Krankenversicherung hatte, suchte sie das Krankenhaus erst auf, als sie die Schmerzen nicht mehr ertrug.
Die Behandlung durch die Universitätsklinik W und das Bezirkskrankenhaus Z schlägt erfolgreich an. Am 16.04.2021 hatte die Beschwerdeführerin erneut einen Termin für eine Chemotherapie in W. Von der Klinikverwaltung wurde ihr jedoch mitgeteilt, dass sie nicht weiter behandelt wird, falls bis dahin keine Kostenzusicherung vorliegt und die bereits angefallenen Rechnungen von ca 20.000,00 Euro nicht beglichen würden. Am BKH Z musste die Beschwerdeführerin wöchentlich Blutkontrollen durchführen.
In Folge der Erkrankung kam es auch zu keinen Bewerbungen mehr durch die Beschwerdeführerin. Unterstützung erhielt sie in dieser Zeit von der Caritas und vom Büro Z Zudem erhielt sie Lebensmittel bei der Tafel in Z Finanzielle Unterstützung erhielt sie auch von der Vinzenzgemeinschaft und dem BB-Club, das Geld ist inzwischen aufgebraucht.
Dieser Sachverhalt ergibt sich schlüssig aus dem Akt der belangten Behörde
II. Erwägungen:
Die belangte Behörde hat mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid den Antrag von Frau AA auf Gewährung von Mindestsicherung entsprechend dem Antrag vom 02.04.2021 wegen entschiedener Sache im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Beschwerdeführerin seit der Entscheidung vom 29.07.2020 keine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe, weshalb ihr nach wie vor kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukomme. Im Umstand, dass sie zwischenzeitlich von X nach Z übersiedelt ist und dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund ihrer Krebserkrankung drastisch verschlechtert hat, wurde keine wesentliche Änderung in der Sache selbst erkannt, sodass einer nochmaligen Entscheidung durch die belangte Behörde das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res judicata) entgegenstand.
Gemäß § 68 Abs 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs 2 bis 4 findet, wegen entschiedener Sache (res iudicata) zurückzuweisen.
Die Anordnung des § 68 Abs 1 AVG zielt in erster Linie darauf ab, die wiederholte Aufrollung einer bereits entschiedenen Sache ohne nachträgliche Änderung (dh bei Identität) der Sach- und Rechtslage auf Antrag der Partei oder durch die Behörde selbst (von Amts wegen) zu verhindern (VwGH 24.01.2006, 2003/08/0162). Ziel und Zweck der Regelung des § 68 Abs 1 AVG ist es damit, die Bestandskraft von Bescheiden zu schützen.
Die Zurückweisung eines Anbringens gemäß § 68 Abs 1 AVG setzt zweierlei voraus: Zum einen muss sich der Antrag auf eine rechtskräftig entschiedene Sache beziehen, die nur dann vorliegt, wenn sich gegenüber dem früheren Bescheid, dessen Abänderung oder Aufhebung begehrt wird, weder am erheblichen Sachverhalt noch an der maßgeblichen Rechtslage etwas geändert hat und sich das neue Parteienbegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 27.05.2004, 2003/07/0100). Dies muss aus einer rechtlichen Betrachtungsweise beurteilt werden. Die Sache verliert ihre Identität, wenn in den entscheidungsrelevanten Fakten bzw. in den die Entscheidung tragenden Normen eine wesentliche, dh die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides ermöglichende oder gebietende Änderung eingetreten ist. Das Wesen einer Sachverhaltsänderung ist dabei nicht nach der objektiven Rechtslage, sondern nach der Wertung zu beurteilen, die das geänderte Sachverhaltselement in der seinerzeitigen rechtskräftigen Entscheidung erfahren hat (VwGH 21.05.2011, 2000/17/0217). Zum anderen muss die Partei einen rechtlichen Anspruch auf neuerliche Entscheidung in derselben Sache – sei es unter unzutreffendem Vorbringen geänderter Sach- oder Rechtslage oder unter einfachem Hinwegsetzen über den bereits rechtskräftig gewordenen Bescheid – geltend gemacht haben, der ihr nicht zusteht (VwGH 24.03.2004, 99/12/0114).
Zur Identität der Rechtslage:
Im vorliegenden Fall steht zweifellos fest, dass sich zwischen dem Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides vom 29.07.2020 und dem Zeitpunkt der Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes – welches die Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung heranzuziehen hat – keine relevante Änderung der maßgeblichen Rechtslage ergeben hat. Dass sich diese gesetzlichen Bestimmungen seit dem Bescheid vom 29.07.2020 relevant geändert hätten, wurde von den Verfahrensparteien auch nicht behauptet.
Zur Identität der Sachlage:
Nunmehr verbleibt zu prüfen, ob gegenständlich von einer identen Sachlage auszugehen ist. Identität der Sache als eine der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 68 Abs 1 AVG ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dann gegeben, wenn sich der für die Entscheidung maßgebende Sachverhalt, welcher dem formell rechtskräftigen Vorbescheid zu Grunde lag, nicht geändert hat (VwGH 24.10.2011, 2010/10/0231). Im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH vom 21.06.2007, 2006/10/0093) ist nunmehr allerdings erstens zu prüfen, ob es sich bei den genannten Änderungen um entscheidungsrelevante Fakten handelt und zweitens, ob bei diesen eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Wesentlich ist eine Änderung des Sachverhalts nur dann, wenn sie für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die der angefochtenen Entscheidung zu Grunde lagen, nicht von vorne herein als ausgeschlossen gelten kann (VwGH 28.01.2009, 2002/18/0295) und daher die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides zumindest möglich ist (VwGH 03.11.2004, 2004/18/0215). Die Behörde hat die Identität der Sache im Vergleich mit dem im Vorbescheid angenommenen Sachverhalt im Lichte der darauf angewandten (insbesondere materiellrechtlichen) Rechtsvorschriften zu beurteilen und sich damit auseinander zu setzen, ob sich aus diesem Sachverhalt oder seiner rechtlichen Beurteilung im Zeitpunkt ihrer Entscheidung über den neuen Antrag eine wesentliche Änderung ergeben hat (VwGH vom 31.03.2005, 2003/20/0536). Es stellt sich daher die Frage, ob die im vorliegenden Fall festgestellten Änderungen eine wesentliche Änderung im Sinne obiger Rechtsprechung darstellen.
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine deutsche Staatsangehörige. Auf sie finden daher, worauf bereits die belangte Behörde hingewiesen hat, die Bestimmungen des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrt samt Schlussprotokoll, das am 17. Jänner 1966 unterzeichnet wurde und am 01. Jänner 1970 in Kraft getreten ist, Anwendung.
Der Verwaltungsgerichtshof stellt in seiner Entscheidung vom 22.02.2017, Ro 2015/10/0051 (Rz 32), klar, dass es sich bei diesem „Abkommen um einen völkerrechtlichen Vertrag gesetzesändernden Inhalts handelt, der seinerzeit vom Nationalrat ohne Beschlussfassung über einen sog. Erfüllungsvorbehalt genehmigt wurde (vgl. den AB 1154 BlgNR 11. GP, wonach "die Erlassung eines besonderen Bundesgesetzes gemäß Art. 50 Abs. 2 B-VG zur Erfüllung dieses Vertrages für entbehrlich gehalten" wurde). Dies bedeutet, dass es sich beim Abkommen um einen unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Vertrag handelt, der eine unmittelbare Grundlage für innerstaatliche Vollzugsakte - hier: für die mit dem Vollzug des Mindestsicherungsrechts befassten Behörden - darstellt (sog. generelle Transformation; vgl. Mayer, B-VG, 4. Auflage (2007) Anm II.2. zu Art. 50 B-VG aF). Die Gleichstellung der vom Abkommen erfassten, in Österreich aufhältigen deutschen Staatsangehörigen mit österreichischen Staatsbürgern in Angelegenheiten der Mindestsicherung ergibt sich sohin unmittelbar aus Art. 2 des Abkommens; einer diesbezüglichen besonderen Normierung im Sbg. MSG bedarf es nicht.“
Artikel 2 Abs 1 des Abkommens sieht vor, dass Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates gewährt wird. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang judiziert, dass unter "aufhalten" nicht ein bloß "tatsächlicher", sondern vielmehr ein "rechtmäßiger" Aufenthalt zu verstehen ist (vgl VwGH 22.02.2017, Ro 2015/10/0051, Rz 37).
Im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur solche deutsche Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in Österreich aufhalten, als von Abs 2 Abs 1 des Abkommens erfasst angesehen werden und nur sie Anspruch auf Mindestsicherung wie Österreicher haben, ist die belangte Behörde im konkreten Fall in der Entscheidung vom 29.07.2020, Zahl ***, zu Recht davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin die gesetzmäßigen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich nicht erfüllt.
Art 8 Abs 1 des deutsch-österreichischen Fürsorgeabkommens bestimmt, dass der Aufenthaltsstaat einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen darf, es sei denn, dass er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben. In seiner Entscheidung vom 09.10.2001, Zl 97/21/0546, hat der Verwaltungsgerichtshof in Wien ausgesprochen, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 8 des deutsch-österreichischen Fürsorgeabkommens der weitere Aufenthalt eines deutschen Staatsangehörigen in Österreich nicht versagt werden darf und dieser somit im Sinne des § 30 Abs 2 erster Satz Fremdengesetz 1993 iVm § 28 Abs 3 Fremdengesetz 1993 als rechtmäßig anzusehen ist (zu Art 8 Deutsch-Österreichisches Fürsorgeabkommen als Aufenthaltstitel vgl auch VwgH vom 12.03.1990, Zl 90/19/0134 sowie VwGH vom 25.11.1987, Zl 86/01/0004).
Das erkennende Gericht vertritt nunmehr in Würdigung des maßgeblichen Sachverhaltes die Ansicht, dass die bei der Beschwerdeführerin am 23.10.2020 und somit erst nach Erlassung des Bescheides vom 29.07.2020 diagnostizierte Krebserkrankung in Form eines Lymphdrüsenkrebses, wovon die gesamte linke obere Körperhälfte betroffen ist und die für die Beschwerdeführerin unerträgliche Schmerzen verursachte und regelmäßige Chemobehandlungen auf der Klinik W erforderlich machte und immer noch macht, um der Beschwerdeführerin gute Heilungschancen zu geben, einen solchen Grund der Menschlichkeit gemäß Art 8 Abs 1 des oben genannten Fürsorgeabkommens darstellt.
Da somit feststeht, dass die Beschwerdeführerin aufgrund des Umstandes, dass ihr ein Aufenthaltsrecht in Österreich aus Gründen der Menschlichkeit nicht versagt werden darf, österreichischen Staatsbürgern im Sinne des § 3 Abs 2 TMSG gleichgestellt ist, hat sie somit grundsätzlich Anspruch auf Zuerkennung von Mitteln aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Entschiedene Sache liegt aufgrund einer maßgeblichen Änderung der Sachlage gemäß § 68 Abs 1 AVG 1991 nicht vor. Die Behörde wird sich im fortgesetzten Verfahren nunmehr inhaltlich mit dem Mindestsicherungsantrag vom 02.04.2021 auseinanderzusetzen haben.
Es war sohin wie im Spruch zu entscheiden.
III. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:
Die Durchführung einer mündlichen öffentlichen Verhandlung wurde weder von den Beschwerdeführern noch von der belangten Behörde beantragt.
Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 24 Abs 1 VwGVG auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Dabei ist zu berücksichtigen, ob dem Grundsatz der materiellen Wahrheit unter Wahrung des Parteiengehörs durch eine mündliche Verhandlung besser und effizienter entsprochen werden kann, als ohne mündliche Verhandlung und andererseits, ob eine mündliche Verhandlung nach Art 6 EMRK oder nach Art 47 GRC geboten ist.
Gemäß § 24 Abs 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung weder Art 6 Abs 1 EMRK noch Art 47 GRC entgegenstehen. Die Akten lassen dann im Sinn des § 24 Abs 4 VwGVG erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, wenn von vorne herein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann. Dies ist dann der Fall, wenn in der Beschwerde keinem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender, für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet wurde und auch keine Rechtsfrage aufgeworfen wurde, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung von dem Verwaltungsgericht erforderlich gewesen wäre (VwGH 27.08.2019, Ra 2019/08/0062).
Art 6 Abs 1 EMRK oder Art 47 GRC stehen einem Entfall der mündlichen Verhandlung nicht entgegen, wenn es ausschließlich um rechtliche oder sehr technische Fragen geht oder wenn das Vorbringen angesichts der Beweislage und angesichts der Beschränktheit der zu entscheidenden Fragen nicht geeignet ist, irgendeine Tatsachen- oder Rechtsfrage aufzuwerfen, die eine mündliche Verhandlung erforderlich macht (VwGH 26.09.2019, Ra 2019/08/0134).
Zumal weder von der Beschwerdeführerin noch von der belangten Behörde die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung beantragt wurde, die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung weder Art 6 Abs 1 EMRK noch Art 47 GRC entgegenstehen, konnte von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung abgesehen werden.
IV. Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:
Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Gegen diese Entscheidung kann binnen sechs Wochen ab der Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, Freyung 8, 1010 Wien, oder außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden. Die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist direkt bei diesem, die außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof ist beim Landesverwaltungsgericht Tirol einzubringen.
Die genannten Rechtsmittel sind von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw einer bevollmächtigten Rechtsanwältin abzufassen und einzubringen, und es ist eine Eingabegebühr von Euro 240,00 zu entrichten.
Es besteht die Möglichkeit, auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu verzichten. Ein solcher Verzicht hat zur Folge, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht mehr erhoben werden können.
Landesverwaltungsgericht Tirol
Dr. Riedler
(Richter)
Schlagworte
rechtmäßiger Aufenthalt;European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGTI:2021:LVwG.2021.41.1299.2Zuletzt aktualisiert am
18.08.2021