TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/3 L510 2228970-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.05.2021
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Entscheidungsdatum

03.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch


L510 2228971-1/16E

L510 2228970-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von

1. XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.02.2020, Zahl XXXX , nach mündlicher Verhandlung am 02.03.2021,

2. XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch ihre Mutter XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.02.2020, Zahl XXXX , nach mündlicher Verhandlung am 02.03.2021,

zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs 1 AsylG iVm § 34 AsylG stattgegeben und XXXX und XXXX der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs 4 AsylG wird XXXX und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben und werden diese Spruchpunkte ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerin (kurz auch BF1) ist türkische Staatsangehörige. Sie stellte für sich und für ihre mit ihr nach Österreich eingereiste (2014 geboren) Tochter (kurz auch BF2) am 30.07.2019 Anträge auf internationalen Schutz. Die Beschwerdeführerin wurde am selben Tag durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt (AS 1ff).

2. Am 18.09.2019 wurde die Beschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen (AS 63ff). Sie gab in diesem Rahmen an, dass ihre Tochter selbst keine eigenen Fluchtgründe habe und der Antrag der Tochter sich auf ihr Asylverfahren beziehen solle (AS 71).

3. Die Beschwerdeführerin legte im Verfahren folgende Unterlagen vor:

?        Bestätigung über die Einbringung einer Scheidungsklage bei einem türkischen Gericht mit dem Aktenzeichen XXXX (AS 81-83); Übersetzung AS 221f sowie AS 103

?        Scheidungsklage mit Gerichtsstempel vom 25.01.2019 (AS 85-89); Übersetzung AS 229-232 sowie AS 101

?        Geburtsurkunde der Tochter (AS 93); Übersetzung AS 227

?        Geburtsurkunde der Beschwerdeführerin (AS 95); Übersetzung AS 225

?        Übersetzung der Geburtsurkunde ihres Ehemannes (AS 249)

?        Einstweilige Verfügung des Familiengerichtes von XXXX , Beschlussdatum 11.08.2015, Beschlussnummer XXXX (AS 97); Übersetzung AS 99 sowie AS 105

?        Ausdruck Zeitungsartikel hins. Frauenmorde in der Türkei (AS 109-111); Übersetzung AS 215

?        Heiratsurkunde (AS 113-115; 189) – Trauungsdatum 10.12.2013; Übersetzung AS 217f sowie AS 251f

?        Screenshot des Profils des Ehemannes eines social media Kanals (AS 117); Übersetzung AS 219

?        Deutschkursbestätigungen des Eurasya Sprach- und Lerninstitutes vom 06.12.2018 und vom 14.11.2018 (AS 133-135)

?        Röntgenbefunde Thoraxorgane vom 31.07.2019 (AS 141-143)

?        Ärztliche Atteste vom 07.06.2015 und vom 07.08.2015 (AS 145-149); Übersetzung AS 253-257

?        Personalausweis der Tochter (AS 151)

?        Personalausweis der Beschwerdeführerin (AS 153)

?        Personalausweis des Ehemannes (AS 198)

?        Reisepass der Tochter (AS 155)

?        Reisepass der Beschwerdeführerin (AS 157)

?        Türkischer Reisepass des Vaters der Beschwerdeführerin (AS 159)

?        Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ des Vaters der Beschwerdeführerin, gültig bis 08.07.2021 (AS 161)

?        Türkischer Reisepass der Mutter der Beschwerdeführerin (AS 183)

?        Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“ der Mutter der Beschwerdeführerin, gültig bis 17.11.2018 (AS 165)

?        Türkischer Reisepass der Schwester XXXX der Beschwerdeführerin (AS 167)

?        Türkischer Reisepass des Bruders XXXX der Beschwerdeführerin (AS 169)

?        Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“ des Bruders XXXX der Beschwerdeführerin, gültig bis 14.06.2020 (AS 171)

?        Türkischer Reisepass der Schwester XXXX der Beschwerdeführerin (AS 173)

?        Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“ der Schwester XXXX der Beschwerdeführerin, gültig bis 17.11.2018 (AS 175)

?        Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“ der Schwester XXXX der Beschwerdeführerin, gültig bis 21.10.2019 (AS 177, 183)

?        Strafregisterauszug der türkischen Republik betreffend die Beschwerdeführerin – keine Eintragung -, ausgestellt vom Generalkonsulat in Wien am 25.10.2018 (AS 185); Übersetzung AS 223

?        Auszug aus dem Personenstandsregister betreffend die Beschwerdeführerin, ihrer Tochter und deren Vater (AS 191); Übersetzung AS 233-234

?        Gehaltszettel des Ehemannes der Beschwerdeführerin des Dienstgebers XXXX von Juni 2018 bis November 2018 (AS 192-197); Übersetzung AS 235

?        Kindergartenbesuchsbestätigungen hins. der Tochter vom 17.09.2019 (AS 79) und vom 23.11.2018 (AS 139)

4. Vom BFA wurden zusätzlich folgende Unterlagen in dessen Entscheidungsfindung berücksichtigt:

?        WhatsApp Chatverlauf zwischen dem Ehemann und dem Vater der Beschwerdeführerin (= dessen Schwiegervater) vom 22.01.2019 (AS 199); Übersetzung AS 247

?        Kopien Visaakten des Bundesministerium Europa, Integration und Äußeres betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Tochter (AS 261-318)

5. Mit Bescheiden des BFA vom 06.02.2020, Zahl zur Beschwerdeführerin XXXX , Zahl zur Tochter XXXX , wurden die Anträge auf internationalen Schutz (I.) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG sowie (II.) des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG abgewiesen. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ (IV.) gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte (V.) gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (VI.) aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (AS 319ff).

6. Mit Schreiben vom 24.02.2020 wurden fristgerecht Beschwerden gegen die Bescheide erhoben (AS 431ff).

7. Am 02.03.2021 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht abgehalten. Daran nahm die inzwischen unvertretene Beschwerdeführerin teil, die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern (OZ 13). Die Beschwerdeführerin legte in der Verhandlung einen Bericht der Kinder- und Jugendgerichtshilfe vom 29.09.2020 vor, welcher zum Akt genommen wurde. Der Vater der Beschwerdeführerin wurde als Zeuge im Rahmen der Verhandlung einvernommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Die BF1 ist türkische Staatsangehörige, ihre Identität steht fest und lautet auf den Namen XXXX , geb. XXXX (AS 157). Sie gehört der kurdischen Volksgruppe an und ist Angehörige der islamischen Glaubensgemeinschaft. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter ihrer 2014 geborenen Tochter, für die sie ebenso einen Antrag auf internationalen Schutz stellte und diesbezüglich angab, dass die Tochter keine eigenen Fluchtgründe hat (AS 71). Sie stammt aus der Stadt XXXX (AS 69).

Die BF2 ist Staatsangehörige der Türkei, ihre Identität steht fest und lautet auf den Namen XXXX , geb. XXXX . Sie ist die minderjährige Tochter ihrer Mutter XXXX , geb. XXXX .

1.2. Die Beschwerdeführerin (BF1) ist mit dem Vater ihrer Tochter (BF2) verheiratet (AS 191), wobei sie eine Scheidungsklage eingereicht hat und zum Zeitpunkt der hg. mündlichen Verhandlung mit einer baldigen Entscheidung gerechnet wurde (VS, S 12). Der Ehemann der Beschwerdeführerin lebt nach wie vor in der Türkei, im bis zur Ausreise der Beschwerdeführerin und der Tochter gemeinsamen Haushalt (AS 69). Neben ihrem Ehemann leben noch Onkel und Tanten der Beschwerdeführerin in der Türkei (AS 68f). Ein enges Verhältnis hat die Beschwerdeführerin mit ihren Verwandten in der Türkei nicht, sie wurde durch die Verwandten nie unterstützt und jeder lebt sein Leben (VS, S 6). Die Beschwerdeführerin verfügt in der Türkei über kein tragfähiges familiäres Auffangnetz. Die Beschwerdeführerin ging in der Türkei elf Jahre zur Schule und war danach Hausfrau (AS 9). Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann sind miteinander verwandt; der Ehemann der Beschwerdeführerin nennt deren Vater Onkel („ XXXX “) (AS 247), der Vater den Ehemann „mein Neffe“ (AS 247).

Die Beschwerdeführerin flog mit ihrer Tochter am 19.08.2018 (AS 13) nach Österreich und sie reisten aufgrund von Touristenvisa, die von 14.08.2018 bis 12.10.2018 gültig waren, rechtmäßig in Österreich ein (IZR).

1.3. Die Eltern, die drei Schwestern und der Bruder der Beschwerdeführerin leben in Wien. Sie verfügen alle über aufrechte Aufenthaltstitel (entweder „Daueraufenthalt EU“ oder „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“) (IZR). Der Vater der Beschwerdeführerin betreibt ein Imbisslokal und kommt finanziell für die Beschwerdeführerin und deren Tochter auf (AS 70). Die Beschwerdeführerin und ihre Tochter leben in Wien im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern und Geschwistern der Beschwerdeführerin (ZMR). Die Beschwerdeführerin ist gesund, strafrechtlich unbescholten und bezog zu keinem Zeitpunkt ihres Aufenthaltes in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich. Die Tochter ging zunächst in den Kindergarten, wo sie sehr schüchtern war. Inzwischen besucht sie eine Ganztagsschule und die Pädagogen sagen, dass sie sehr fröhlich sei (VS, S 13).

1.4. Im Jahr 2012 und 2014 wurden Anträge der Beschwerdeführerin auf Erteilung von Rot-Weiß-Rot-Karten Plus in Österreich abgelehnt (IZR).

1.5. Die Beschwerdeführerin stellte einen Antrag auf internationalen Schutz für sich und auch ihre Tochter. Für die Tochter wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, das Vorbringen der Beschwerdeführerin gilt auch für ihre Tochter (AS 71). Das Verfahren hinsichtlich der Tochter wird unter der hg. GZ L510 2228970-1 geführt.

1.6. Zur Begründung der Anträge auf internationalen Schutz brachte die Beschwerdeführerin in der Erstbefragung vom 30.07.2019 und der Einvernahme vom 18.09.2019 vor, dass ihr Ehemann psychisch krank sei und sie und die Tochter geschlagen habe. Die Eltern würden versucht haben, auf ihn einzuwirken, damit die Ehe gerettet werden könnte, aber der Mann sei immer noch gewalttätiger geworden. Oft habe die Beschwerdeführerin die Polizei gerufen und es seien Betretungsverbote verhängt worden. Ihr Ehemann habe sie mit dem Umbringen bedroht (AS 17). Am 18.12.2018 habe die Beschwerdeführerin von Österreich aus die Scheidung gegen ihren Ehemann eingebracht, ein Anwalt vertrete sie in der Türkei (AS 66). Es habe sich um eine arrangierte Ehe gehalten und sie würden nicht gleich standesamtlich heiraten haben können, da die Beschwerdeführerin erst 17 Jahre alt gewesen sei (AS 67). Ihr Mann habe getrunken, sie betrogen und habe ihr immer gesagt, dass er „im Kopf Gespräche“ geführt habe. Oft habe die Beschwerdeführerin ihren Mann verlassen und sei zu ihrer Großmutter gegangen, die sei aber zwei Jahre vor der Einvernahme verstorben (AS 71). Jedes Mal sei die Beschwerdeführerin wieder zu ihrem Mann zurückgegangen. Ihr Ehemann habe der Beschwerdeführerin mit zwei Fingern in die Augen gefahren, habe auf sie uriniert, mit den Fingern die Augenbrauen ausgezupft, er habe auch manchmal Gewalt gegen die Tochter angewandt und als die Beschwerdeführerin die Tochter habe schützen wollen, habe er wieder die Beschwerdeführerin geschlagen. Wegen jeder Kleinigkeit sei er zornig geworden und habe die Wohnung mit Joghurt und Öl verschmutzt. Der Vater der Beschwerdeführerin sei des Öfteren in der Türkei gewesen und habe mit dem Ehemann Gespräche geführt, aber geholfen habe dies nicht. Als der Vater vor Ort gewesen sei, habe die Beschwerdeführerin zwei Mal einen ärztlichen Befund über die Verletzungen durch die Schläge holen können, sonst habe sie sich das nicht getraut. Sie habe auch während eines Besuches ihres Vaters eine Wegweisung und ein Betretungsverbot gegen ihren Mann bekommen; das sei nur möglich gewesen, da der Vater in der Türkei gewesen sei (AS 72). Bei der zweiten Anzeige würden die Nachbarn die Rettung gerufen haben, da der Mann die Beschwerdeführerin so verprügelt habe, dass sie mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht werden habe müssen (AS 74). In letzter Zeit habe der Mann versucht, die Beschwerdeführerin umzubringen, weshalb sie schließlich mit Ihrer Tochter ausgereist sei. Auf seiner Instagram-Seite bedrohe er sie; da das Scheidungsverfahren laufe, könne er sie nicht verbal bedrohen, aber er mache dies durch Zeichen und Bilder, etwa mit einem Schädel mit einer Pistole (AS 72). In letzter Zeit habe der Mann der Beschwerdeführerin mit einer Gabel in den Hals gepikst und ständig gesagt, er werde sie umbringen. Als sie ihm gesagt habe, sie werde in ein Frauenhaus flüchten, habe er gesagt, dass er dieses dann anzünden werde und das Frauenhaus sie auch nicht vor ihm schützen können würde. Etwa zwei Monate vor der Ausreise habe er die Kleidung der Beschwerdeführerin auf einen Haufen gegeben, mit einem Feuerzeug angezündet, die Beschwerdeführerin im Schlafzimmer eingesperrt und sei gegangen. Es sei der Beschwerdeführerin aber gelungen, einen Brand zu verhindern, indem sie eine Decke auf den Kleiderhaufen geworfen habe. Die Tochter sei zu diesem Zeitpunkt auch zu Hause gewesen. Oft habe der Mann die Beschwerdeführerin und die Tochter rausgeworfen, sie hätten dann die Nacht im Keller verbringen müssen, weil sie nirgends hätten hingehen können (AS 74/75). Ihre Schwiegermutter habe die Beschwerdeführerin ausgelacht, wenn sie ein blau geschlagenes Auge gehabt habe. Der Schwiegervater habe gesagt, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin (= sein Sohn) seine Frau schlagen dürfe, wenn sie ohne seine Erlaubnis in den Supermarkt gehe (AS 75). Ihr Mann sei gut situiert gewesen, das Geld habe er aber immer nur für sich ausgegeben, die Beschwerdeführerin und die Tochter habe er nie versorgt, das habe der Vater der Beschwerdeführerin gemacht (AS 72). Die Mutter der Beschwerdeführerin sei eine modern denkende Frau, der Vater sei auch nicht so streng gewesen, sie habe in die Schule gehen dürfen; bei den Kurden werde Tradition aber sehr groß geschrieben (AS 73). Es sei ihr immer gesagt worden, dass Frauen es aushalten würden müssen und sie sich gedulden müsse. Sich scheiden zu lassen, sei nicht in Frage gekommen (AS 74). Ihr Mann habe gewusst, dass die Beschwerdeführerin und die Tochter als Touristinnen nach Österreich reisen würden, er habe gesagt, dass Österreich die beiden nicht aufnehmen würde und er sei sich sicher gewesen, dass sie zurückkommen würden (AS 76). Wenn sie die Probleme mit ihrem Mann nicht gehabt hätte, wäre sie nie nach Österreich gekommen, obwohl ihre Familie in Österreich sei (AS 72).

In der Verhandlung gab die Beschwerdeführerin an, ihr Mann habe bereits zehn Tage nach der Eheschließung damit begonnen Gewalt gegen die Beschwerdeführerin auszuüben. 2017/2018 habe sich die Gewalt intensiviert. Ihr Ehemann habe viel Alkohol konsumiert. Er habe der Beschwerdeführerin etwa ein Messer oder eine Gabel an den Hals gedrückt, habe auf sie uriniert und versucht, ihr mit den Fingern die Augen einzudrücken. Er sei auch auf die Tochter losgegangen, wenn die gelaufen sei oder Lärm gemacht habe. Es sei laufend vorgekommen, dass er mit einem Gegenstand – egal was er in der Hand gehalten habe – gegen den Hals der Beschwerdeführerin gedrückt habe. Mit einem Messer habe er das drei bis vier Mal gemacht. Etwa sechs Mal habe er das mit den Augen versucht. Etwa ein Jahr nach der Eheschließung habe er die Kleidung der Beschwerdeführerin auf einen Haufen im Schlafzimmer geworfen und diesen angezündet, wobei er sich auch im Schlafzimmer befunden habe und die Tür versperrt habe. Die Beschwerdeführerin habe gemacht, was er wollte, habe die Flammen mit einer Decke erstickt und als er sich beruhigt habe, sei der Streit zu Ende gewesen. Wenn er viel getrunken habe, sei er unberechenbar und unzurechnungsfähig gewesen. Die Beschwerdeführerin habe laufend blaue Flecken gehabt (VS, S 7, 8). Wenn sie blaue Flecken an den Augen gehabt habe, habe sie sich zwei Wochen bei den Nachbarn nicht blicken lassen. Sie habe Antidepressiva genommen. Um den Haushalt habe sich der Mann nicht gekümmert, sie sei um die Runden gekommen mit dem Geld das ihr ihr Vater geschickt habe. Die Formulare des Krankenhauses seien deshalb unvollständig ausgefüllt, da das der Arzt und nicht sie selbst ausgefüllt habe. Sie sei dazu aufgrund der Gewalteinwirkung nicht in der Lage gewesen. Durch einen harten Schlag gegen das Ohr habe sich dieses entzündet und sie sei deshalb am rechten Ohr etwas taub. Befunde darüber gebe es leider keine. Ihr Mann habe nicht gewollt, dass sie gut aussehe, weshalb er ihr einen Faustschlag verpasst habe, da er ihre Zähne brechen habe wollen. Bei jeder Auseinandersetzung habe er auf die Beschwerdeführerin losgeschlagen, das sei laufend vorgekommen. Die Zähne seien nicht kaputtgegangen, aber die Lippe sei geplatzt. Dass sie geschlagen worden sei, sei verschieden oft vorgekommen, manchmal einmal im Monat, manchmal alle zwei Tage. Einmal mitten in der Nacht sei er bei ihrem Bett gestanden; als sie gefragt habe, was er vorhabe, habe er gemeint, er überlege, ob er ihr eine Nadel in die Achsel stechen solle (VS, S 10). Sie habe sich zwei Mal an die Polizei gewandt. Als er die Wegweisung erhalten habe, sei er am nächsten Tag wieder da gewesen, er habe dagegen verstoßen. Wegen der kurdischen Tradition habe sie sich nicht von ihrem Mann getrennt. Die Älteren würden sich versammelt haben um zu schlichten, da ein Kind im Spiel gewesen sei. Die Beschwerdeführerin würde niemanden gehabt haben, zu dem sie hätte gehen können. Die Scheidung habe sie von Österreich aus eingereicht, da er ihr Schaden zugefügt hätte, wenn sie dies in der Türkei getan hätte (VS, S 11). Er habe sie mit dem Umbringen bedroht. Der Mann habe sie auf den Kopf geschlagen und die Nachbarn würden auch einmal die Rettung gerufen habe, da sie so geschrien habe. Im Rahmen des Scheidungsverfahren wolle der Mann die gemeinsame Tochter haben und erreichen, dass auch die Beschwerdeführerin in die Türkei gehe; er wolle, dass die Beschwerdeführerin wieder bei ihm sei (VS, S 12). Inzwischen werde sie über Instagram bedroht, er schicke ihr Flammen-Zeichen (VS, S 13). In der Türkei habe sich die Beschwerdeführerin an einen Onkel väterlicherseits wenden könne, aber niemand hätte sie aufnehmen wollen, denn die Verwandten in der Türkei könnten sich selbst nur schwer um ihre eigenen Kinder kümmern. Ihre Schwiegermutter habe die blauen Flecken der Beschwerdeführerin stets verharmlost und gesagt, die Beschwerdeführerin solle sie mit Schminke überdecken. Sie selbst habe auch Schläge abbekommen. Im Rahmen des Scheidungsverfahrens habe der Anwalt der Beschwerdeführerin beantragt, dass der Mann hinsichtlich einer schizophrenen Störung untersucht werde; er habe immer gesagt, er höre Stimmen und sein Kopf zittere (VS, S 14). Er habe Anzeichen von Schizophrenie gehabt (VS, S 15). Das Ziel des Mannes sei, die Beschwerdeführerin wieder um ihn zu haben und weiter Gewalt gegen sie ausüben zu können. Er verkrafte es nicht, dass sie und die Tochter in Österreich glücklich seien. Nach der Scheidung könne sie auch nicht zurückgehen, da er ihr auch dann Schaden zufügen könne. Die Tochter habe der Mann auch geschlagen, als sie Ketchup gegessen habe oder weil sie Lärm gemacht habe, er habe sie angeschrien, wenn sie herumgelaufen sei (VS, S 15). Der Vater der Beschwerdeführerin habe ein Haus in XXXX , das leer stehe, die Beschwerdeführerin könne dort aber nicht hin, da der Mann auch in XXXX lebe (VS, S 17).

1.7. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Begründung der Ausreise samt ihrer Tochter ist (nur) teilweise glaubhaft. Glaubhaft ist, dass die Beschwerdeführerin sowie auch ihre Tochter von deren Ehemann bzw. Vater ausgehender physischer sowie psychischer Gewalt betroffen waren. Es ist glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin über mehrere Jahre hinweg – seit Beginn ihrer Ehe bis zu ihrer Ausreise – von ihrem Ehemann geschlagen wurde, sodass sie auch ärztlich behandelt werden musste und schließlich auch gegen ihren Ehemann eine gerichtliche Wegweisung verfügt wurde. Es ist weiters glaubhaft, dass der Ehemann die Beschwerdeführerin um sich haben wollte und nach wie vor will, damit er weiterhin Macht gegenüber ihr ausüben, sie kontrollieren, einschüchtern und bedrohen kann. Es ist glaubhaft, dass der Ehemann dies bisher durch das Ansetzen von Gegenständen am Hals der Beschwerdeführerin, Schläge, Morddrohungen sowie auch Gewalt gegen die Tochter durchgeführt hat. Die Beschwerdeführerin konnte nicht glaubhaft machen, dass ihr Ehemann in der gemeinsamen Wohnung einen Kleiderhaufen in Brand gesetzt hat. Im Falle einer Rückkehr wäre es der Beschwerdeführerin möglich, im Haus deren Vater zu wohnen. Da sich dieses jedoch im Wohnort des Ehemannes der Beschwerdeführerin (des Herkunftsortes der Beschwerdeführerin und früheren gemeinsamen Wohnort mit ihrem Ehemann) befindet, kann es nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass sie in der realen Gefahr wäre, wieder – gemeinsam mit der Tochter - ihrem gewalttätigen Ehemann ausgesetzt zu sein. Nicht konnte festgestellt werden, dass es dem Ehemann darauf ankäme, die Beschwerdeführerin zu töten. Die Beschwerdeführerin könnte keine Unterstützung durch ihre Verwandten erwarten, zumal diese die Beschwerdeführerin auch bisher nicht in zielführender Art unterstützt haben und es sich dabei zusätzlich (aufgrund der Verwandtschaft der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes) auch um die Verwandten des Ehemannes handelt. Die Beschwerdeführerin verfügt über keine Berufsausbildung. Der Ehemann der Beschwerdeführerin war zwar mit der Reise der Beschwerdeführerin und der Tochter nach Österreich einverstanden und unterstützte die beiden diesbezüglich, da er nicht damit gerechnet hätte, dass sie nicht wieder in die Türkei zurückkehren. Der Ehemann nahm Kontakt zu den österreichischen Behörden auf um die Entführung seiner Tochter durch die Beschwerdeführerin zu bekämpfen (OZ 17 des hg. Aktes betreffend die Tochter der Beschwerdeführerin). Im anhängigen Scheidungsverfahren strebt der Ehemann das Sorgerecht für die Tochter an, um es so zu erreichen, dass auch die Beschwerdeführerin wieder in der Türkei lebt (VS, S 12). Aus dem von ihm ins Verfahren eingebrachten Unterlagen ergibt sich glaubhaft, dass der Ehemann die Familie der Beschwerdeführerin als Lügner betrachtet und ihnen vorwirft, dass sie Angst vor Gott haben sollten. Er wolle sich nicht auf das Niveau seines Schwiegervaters erniedrigen. Gott werde die Familie der Beschwerdeführerin zur Rechenschaft ziehen (AS 247). Der Beschwerdeführerin ist eine Rückkehr in die Türkei zum Entscheidungszeitpunkt nicht zumutbar.

Die Beschwerdeführerin hat nicht glaubhaft gemacht und es ergibt sich auch sonst nicht, dass sie im Falle einer Rückkehr in ihre Heimat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung von erheblicher Intensität aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt war oder im Falle ihrer Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche zu erwarten hätte.

1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei schließt sich das BVwG den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen der belangten Behörde an und wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte nachfolgend hingewiesen:

Frauen

Die rechtliche Stellung der Frau ist seit der Neufassung des Familienrechts formal auf EU-Niveau. Seit 2002 sichert ein neues türkisches Zivilgesetzbuch die Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe (GIZ 9.2019c). Darüber hinaus gehört die Türkei zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (11.5.2011), das für die Türkei zum 1.8.2014 in Kraft getreten ist (AA 14.6.2019).

Die Themen Geschlechtergleichheit und Kampf gegen Gewalt an Frauen einerseits, Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt, vor allem gegen Frauen, andererseits, rücken zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit und werden auch in den Medien thematisiert. Vor allem im Osten und Südosten des Landes ereignen sich auch weiterhin Verbrechen im Namen der Ehre (ÖB 10.2019). Es fehlt an einem starken politischen Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter. Stereotype Ansichten über die Geschlechterrollen, auch in Schulbüchern und in den Medien, durchdringen weiterhin die türkische Gesellschaft und fördern den anhaltend niedrigen sozialen Status von Frauen und Gewalt gegen Frauen (EC 29.5.2019).

In Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen bestehen weiter große Defizite. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt haben nun auch unverheiratete Frauen Anspruch auf staatlichen Schutz (AA 14.6.2019). Das Gesetz verpflichtet sowohl die Polizei als auch die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht sind, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen sind auch staatliche Leistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner ist auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen Täter verhängen. Das Gesetz schreibt die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und -überwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anbieten (USDOS 13.3.2019). Die Türkei hat zwar als erster Signatarstaat die „Istanbul-Konvention“ des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert und einen dritten Nationalen Aktionsplan 2016-2020 beschlossen (ÖB 10.2019); es fehlt jedoch weiterhin an den geforderten gesetzgeberischen Maßnahmen (ÖB 10.2019, vgl. AA 14.6.2019, USDOS 13.3.2019). Die Zufluchtsmöglichkeiten für von Gewalt betroffene Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern sind unzureichend (AA 14.6.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). 144 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.454 Plätzen helfen weiblichen Opfern von Gewalt und ihren Kindern (ÖB 10.2019).

Eine Reihe von Faktoren untergraben die bestehenden Bemühungen der Behörden zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Dies ist zum einen das Fehlen einer systematischen und gründlichen Bewertung der allgemeinen Politik in Hinblick auf ihre potenziellen Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Gewalt gegen Frauen. Zum anderen werden die Bemühungen durch die Betonung der traditionellen Rollen von Frauen als Mütter und Betreuerinnen unterminiert, was zudem wenig dazu beiträgt, diskriminierende Rollen-Stereotype hinsichtlich der Rolle und Verantwortung von Frauen und Männern in Familie und Gesellschaft infrage zu stellen (GREVIO 15.10.2018).

Laut NGOs wurden seit 2010 an die 2.600 Frauen ermordet. Häusliche Gewalt führte laut offiziellen Zahlen 2018 zu 281 Todesfällen, Frauenrechtsplattformen sprechen jedoch von 440 Fällen im Jahr 2018. Seit Jahresbeginn 2019 seien laut einer Frauenrechtsplattform 354 Frauen ermordet worden (durch Männer ohne nähere Anführung der Nahebeziehung) (ÖB 10.2019).

Laut Frauenorganisationen gibt es eine Zunahme an Scheidungen, weil es eine Zunahme an häuslicher Gewalt gibt. Umgekehrt behauptet die Regierung, dass die häusliche Gewalt zugenommen hat, weil sich Frauen scheiden lassen wollen. Wahr ist, dass die Zahl der Frauenmorde in der Türkei in den letzten zehn Jahren stetig zugenommen hat. Das Problem im türkischen Recht besteht darin, dass die Beweislast in Fällen häuslicher Gewalt auf die Opfer fällt, die, wie Frauenrechtlerinnen argumentieren, durch die Justiz wie Paria behandelt werden. Wenn ein Mann behauptet, dass seine Partnerin ihn in einer Auseinandersetzung verflucht oder "provoziert" hat, entscheidet der Richter im Zweifel für den Angeklagten. Es gibt oft auch kulturelle Barrieren aus dem familiären Umfeld. Trotz offensichtlicher Gewalt sehen sich einige der Frauen mit Missbilligung ihrer Familien konfrontiert, die der Meinung sind, dass die Frauen für die Gewalt verantwortlich sind, die sie erlebt haben (NYRB 20.2.2019). Anzeigen wegen Gewaltakten sind merkbar gering, was der Stigmatisierung und Furcht vor Repressionen sowie der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Täter geschuldet ist, aber auch der Rechtsunkundigkeit, Sprachbarrieren und dem mangelnden Vertrauen in die Rechtsvollzugsorgane. Sexuelle Gewalttäter, einschließlich derjenigen, die der Vergewaltigung von Mädchen für schuldig befunden werden, erwarten nicht nur milde Urteile, sondern sie werden wegen "guten Benehmens" während des Prozesses mit reduzierten Strafen belegt (UN-CEDAW 25.7.2016).

Während ihrer siebzehnjährigen Herrschaft hat die konservative AK-Partei bzw. die AKP-Regierung eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so Präsident Recep Tayyip Erdo?an. Erdo?ans älteste Tochter, Esra Albayrak, kritisierte öffentlich die Rechte westlicher Frauen als selbstgefällig. Sie schloss sich der Botschaft ihres Vaters an, dass die Türkei ihre eigenen Lösungen für geschlechtsspezifische Fragen finden muss, wobei der Schwerpunkt auf den traditionellen Rollen von Frauen als Mütter, Schwestern und Töchter liegen soll (NYRB 20.2.2019). In den letzten zehn Jahren wurden Frauen für die Betreuung ihrer Kinder bezahlt oder ihnen wurde ein längerer unbezahlter Urlaub gewährt. Diese Politik hat jedoch wenig dazu beigetragen, Frauen von unbezahlten Arbeiten zu befreien, die sie davon abhalten, Geld zur Unterstützung ihrer Familien zu verdienen. Die Behörden weigerten sich auch, Gesetze durchzusetzen, die von Unternehmen verlangen, dass sie Kinderbetreuung vor Ort anbieten, damit mehr Frauen nach der Geburt wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können. In der Türkei werden 89,6% der Kinder laut Statistikamt von ihren Müttern betreut. Nur 2,4% der Kinder befinden sich in Kinderbetreuungseinrichtungen. Infolgedessen nimmt nur jede dritte Frau am Erwerbsleben teil - die niedrigste Quote unter den 35 OECD-Ländern (PRI 4.5.2017).

Es kommt immer noch zu sogenannten „Ehrenmorden“, d.h. insbesondere zu Morden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. „schamlosen Verhaltens“ aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines „Verbrechens in der Ehe“ verdächtigt werden. Dies schließt auch vergewaltigte Frauen ein (AA 3.8.2018). Vor allem im Osten und Südosten des Landes ereignen sich weiterhin Verbrechen im Namen der Ehre (ÖB 10.2019). […]

Mit einem Wert von 0,628 (1 = bester Wert) lag die Türkei auf Platz 130 von 149 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index (WEF 2019). 2017 nahm die Türkei Platz 131 von 144 Ländern ein (WEF 2017).

1.8.1. Die Berichtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des bekämpften Bescheides stellt sich nach einem Vergleich mit den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation nach wie vor als ausreichend aktuell dar. Nichtsdestotrotz wird im Anschluss ein Auszug aus den aktuellen Länderinformationen neueren Datums festgestellt. Daraus ist ersichtlich, dass sich die Situation der Frauen in der jüngsten Vergangenheit nicht wesentlich verändert und nicht verbessert hat:
[…] Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt. Allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (ÖB 10.2020), da es am politischen Willen mangelt und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik ein Hindernis darstellt (MEI 18.12.2019). […]

Nicht einmal ein Drittel der Frauen (32,2%) ist in Beschäftigung im Vergleich zu mehr als 68% der Männer (EC 6.10.2020). […]

Behörden, einschließlich des Staatspräsidenten und der staatlichen Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), haben sich zunehmend gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Istanbuler Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011) ausgesprochen, da sie angeblich den „türkischen Familienwerten“ widersprechen bzw. diese bedrohen (EC 6.10.2020). […]

Berichten zufolge wurden im Jahr 2019 474 Frauen getötet (EC 6.10.2020), wobei 319 der Täter ehemalige oder gegenwärtige Ehemänner bzw. Partner oder Verwandte waren. Der Rest der Täter konnte nicht zugeordnet werden (HDN 9.1.2020). Im Jahr 2020 wurden mit Stand 21.11.2020 253 Frauen ermordet und 715 verletzt (TM 25.11.2020). Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020, USDOS 11.3.2020). […]

2020 existieren im ganzen Land lediglich 145 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.482 für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. […]

2. Beweiswürdigung

2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes, Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht beigeschafften, länderkundlichen, aktuellen Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin sowie insbesondere durch Abhaltung einer mündlichen Verhandlung.

2.2. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin, zu ihrer Herkunft und ihrer Identität (Punkt II.1.1.) ergeben sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Beschwerdeführerin und den vorgelegten Reisepässen (AS 155, 157), Personalausweisen (AS 151, 153) und dem Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister (AS 191). Die festgestellten Lebensumstände der Beschwerdeführerin in der Türkei sowie die Feststellungen zur Ausreise der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter (Punkt II.1.2.) ergeben sich ebenso aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Beschwerdeführerin als auch durch die vorgelegte Heiratsurkunde (AS 191).

Dass die Beschwerdeführerin in der Türkei über kein tragfähiges familiäres Auffangnetz verfügt ergibt sich daraus, dass die Eltern und alle Geschwister dauerhaft in Österreich leben, die Beschwerdeführerin keine engen Beziehungen zu ihren Tanten und Onkel in der Türkei hat. Nicht zuletzt jedoch daraus, dass es sich bei der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann um Cousine und Cousin handelt, was die erwartbaren familiären Unterstützungsleistungen der Beschwerdeführerin aufgrund des hervortretenden Interessenkonfliktes der Verwandtschaft massiv schmälert. Dass die Beschwerdeführerin mit ihrem Ehemann verwandt ist, wurde auf Basis des vorgelegten Chatverlaufes zwischen dem Ehemann und dem Vater der Beschwerdeführerin festgestellt, in dem sich die beiden mit Onkel bzw. Neffe ansprechen (AS 247). Auch wenn weder die Authentizität dieses Chatverlaufes verifiziert werden kann, noch dessen Inhalt einer Überprüfung unterzogen werden kann, so ist das Bundesverwaltungsgericht nichtsdestotrotz der Auffassung, dass das sich aus dem Chat ergebende Verwandtschaftsverhältnis glaubhaft ist, zumal dies für den Chat an sich und dessen Inhalt ansonsten keine Relevanz hat. Die festgestellten Visa der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter ließen sich den Daten des IZR entnehmen.

2.3. Die festgestellten rechtmäßigen Aufenthalte der Eltern und Geschwister der Beschwerdeführerin in Österreich sowie die abgelehnten Anträge auf Erteilung von Rot-Weiß-Rot-Karten Plus der Beschwerdeführerin (II.1.4.) ergeben sich aus Eintragungen aus dem IRZ, der gemeinsame Haushalt der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter mit den Familienmitgliedern in Österreich ergibt sich aus dem ZMR, die strafrechtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter ergibt sich aus dem Strafregister der Republik Österreich, dass die beiden keine Leistungen aus der Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich beziehen, aus einem Auszug aus dem korrelierenden Register (II.1.3.). Dass die Beschwerdeführerin und ihrer Tochter gesund sind, ergibt sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung.

2.4. Dass die Tochter keine eigenen Fluchtgründe hat und das Vorbringen der Beschwerdeführerin auch für die Tochter gelte (II.1.5.), ergibt sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin/der Mutter. Das festgestellte Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Begründung der Ausreise aus der Türkei (II.1.6.) ergibt sich aus den protokollierten Angaben der Beschwerdeführerin gegenüber dem öffentlichen Sicherheitsdienst (AS 17), dem BFA (AS 71-76) und den Angaben der Beschwerdeführerin in der hg. abgehaltenen, mündlichen Verhandlung (OZ 13).

2.5. Die Feststellungen zur teilweisen Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Beschwerdeführerin zu ihren Ausreisegründen und ihrer Rückkehrbefürchtung (II.1.7.), waren aus den folgenden Gründen zu treffen:

Die Beschwerdeführerin gab in all ihren Befragungen im Wesentlichen gleichlautend an, dass sie seit Beginn ihrer Ehe von vom Ehemann ausgehender Gewalt betroffen war. Das BFA schenkte den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Verletzungen zunächst deshalb keinen Glauben, zumal die von ihr vorgelegten ärztlichen Atteste teilweise nicht leserlich und unvollständig ausgefüllt gewesen seien (Bescheid, S 81). Zu diesen Umständen wurde die Beschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung befragt, woraufhin sie angab, dass sie aufgrund der Gewalteinwirkungen nicht in der Lage gewesen sei, Formulare auszufüllen. Die vorgelegten Formulare habe der Arzt selbst ausgefüllt (VS, S 9). Diese Angaben sind glaubhaft, da es sich bei den vorgelegten Unterlagen (Übersetzungen AS 253 – 257) jeweils um ärztliche Atteste handelt, weshalb diese naturgemäß nicht von der Beschwerdeführerin auszufüllen waren. Auch wenn diesen Attesten zu entnehmen ist, dass keine lebensbedrohlichen Verletzungen und keine Knochenbrüche festgestellt worden seien, so tut dies der Glaubhaftigkeit der von der Beschwerdeführerin vorgebrachten physischen Gewalt keinen Abbruch. Nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin kommt es dem Ehemann darauf an, die Beschwerdeführerin zu kontrollieren, Macht über sie auszuüben und sie gerade so zu verletzen, dass es im Kulturkreis der Beschwerdeführerin von den Frauen (noch) zu erdulden ist. In diesem Rahmen ist es somit glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin von ihrer Schwiegermutter keine nachhaltige Hilfe bekam, sondern sich diese im Wesentlichen darauf beschränkte, die Verletzungen der Beschwerdeführerin zu verharmlosen, zu normalisieren und darauf hinzuweisen, dass auch sie in ihrer Ehe verprügelt worden sei. In diesem Zusammenhang ist es auch nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin trotz der Misshandlungen – bis auf das letzte Mal – stets zu ihrem Ehemann zurückkehrte, zumal dies von der Tradition verlangt wird. Dass die Mutter der Beschwerdeführerin eine modern – im Sinne von westlich – eingestellte Frau ist, nützte der Beschwerdeführerin in der Türkei jedoch nichts, konnte sie ihre Mutter doch nicht unterstützen, da diese in Österreich lebt(e). Die gegenüber dem Ehemann der Beschwerdeführerin von einem türkischen Gericht ausgesprochene Wegweisung bzw. das Betretungsverbot wurde vom BFA nicht angezweifelt und es bestehen auch für das Bundesverwaltungsgericht keine Hinweise darauf, dass diese Dokumente falsch oder verfälscht wären (Einstweilige Verfügung, Übersetzung AS 99 und AS 105). Insofern das BFA anführt, dass die Geschwister des Ehemannes teilweise mehrfach geschieden und wiederverheiratet wären, weshalb auch eine Scheidung der Beschwerdeführerin in der Türkei möglich erscheine, führte die Beschwerdeführerin in der Verhandlung dazu aus, dass diese Scheidungen jeweils vom Mann ausgegangen seien und nicht jeder Mann so sei wie ihr Ehemann (VS, S 12). Diesbezüglich wird vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass es durchaus wahrscheinlich und plausibel ist, dass der Formalakt der Scheidung im Falle der Beschwerdeführerin keine wesentlichen Auswirkungen hätte. Dem Ehemann der Beschwerdeführerin kommt es darauf an, der Beschwerdeführerin zu schaden. Dazu wäre er auch im Falle einer Scheidung in der Lage, zumal die Beziehung der beiden aufgrund des gemeinsamen Herkunftsortes, der gemeinsamen Tochter und der gemeinsamen Verwandtschaft im Herkunftsstaat nicht abbrechen würde. Auch die Ansicht des BFA, dass das Scheidungsverfahren lediglich als Vorwand für die Legalisierung des Aufenthaltes eingeleitet worden sei (Bescheid, S 82), wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht geteilt, zumal auch die erlebte vom Ehemann ausgehende Gewalt als glaubhaft erachtet wird.

Die Angaben der Beschwerdeführerin hinsichtlich der von ihrem Mann ausgehenden Gewalt werden nicht zuletzt durch die Angaben ihrer Tochter gegenüber der Kinder- und Jugendgerichtshilfe bestätigt (Bericht vom 29.09.2020, Beilage zur VS). Die Tochter berichtete der Sozialarbeiterin, dass sie sich noch gut an ihren Vater erinnern könne, dieser nicht nett gewesen sei und sie geschlagen habe. Sie gab auch an, dass sie nicht bei ihrem Vater oder mit ihrem Vater gemeinsam leben wolle. Die Richtigkeit dieser Angaben der Tochter der Beschwerdeführerin werden dadurch belegt, dass die Sozialarbeiterin festhielt, dass die Tochter, als das Gespräch um ihren Vater ging, unruhig regiert habe und mit ihrer Körpersprache zum Ausdruck gebracht habe, dass sie Angst habe. Diese Angaben der Tochter der Beschwerdeführerin konnte das BFA naturgemäß bei Bescheiderlassung noch nicht berücksichtigen, weshalb ihm diesbezüglich kein Vorwurf zu machen ist.

Die Feststellung, dass es nicht glaubhaft gemacht werden konnte, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin in deren gemeinsamen Schlafzimmer einen Haufen Kleidung in Brand steckte, wurde getroffen, da die Beschwerdeführerin diesbezüglich gegenüber dem BFA angab, dass er die Beschwerdeführerin dabei im Schlafzimmer eingesperrt habe und einfach gegangen sei (AS 75), während sie in der mündlichen Verhandlung angab, als sie gefragt wurde, wie sie aus dem Zimmer rausgekommen sei, dass der Mann sich zu diesem Zeitpunkt auch im Schlafzimmer befunden habe und als er sich beruhigt gehabt habe, sei alles normal weitergegangen (VS, S 8). Sie hat außerdem den Zeitpunkt dieses Vorfalles unterschiedlich angegeben: Gegenüber dem BFA gab sie an, dass dies zwei Monate vor der Ausreise gewesen sei, während die gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht angab, dass sie zu jenem Zeitpunkt erst ein Jahr verheiratet gewesen wäre. Da die Hochzeit 2013 stattfand, die Geburt der Tochter 2014 und die Auseise aus der Türkei 2018, sind auch die zeitlichen Angaben der Beschwerdeführerin zu jenem Vorfall nicht kohärent. Zumal es sich bei einem Brand in der eigenen Wohnung um ein einschneidendes Erlebnis handelt, wäre von der Beschwerdeführerin zu erwarten gewesen, dass sie sich erinnern kann, ob sie sich alleine oder mit ihrem Mann im Schlafzimmer befunden hätte, als er einen Haufen Kleidung in Brand gesteckt hätte und sie könnte ihn auch zeitlich besser einordnen. Diesem Vorbringen wird daher keine Glaubhaftigkeit zugeschrieben, was jedoch der als glaubhaft festgestellten Umstände keinen Abbruch tut.

Zu dem vom Ehemann ins Verfahren eingebrachten Chatverlauf wurde bereits festgehalten, dass dieser keiner Prüfung hinsichtlich dessen Echtheit oder Richtigkeit des Inhalts unterzogen werden kann. Das sich dem Chatverlauf entnehmbare Verwandtschaftsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann konnte nichtsdestotrotz festgestellt werden. Die sich aus diesem Chatverlauf ergebende Einstellung des Ehemannes gegenüber dem Vater der Beschwerdeführerin und die sich auch aus dem Chatverlauf ergebende emotionale Verfassung des Ehemannes kann deshalb als glaubhaft angenommen werden, da dieser Chatverlauf vom Ehemann selbst vorgelegt wurde. Im Falle der Echtheit des Chats steht es außer Zweifel, dass der Ehemann keine wohlwollende Einstellung gegenüber der Beschwerdeführerin hat; im Falle der (Ver-)Fälschung des Chats kann davon ausgegangen werden, dass diese Verfälschung vom Ehemann vorgenommen wurde, und somit wiederum von der Echtheit seiner geschilderten Einstellung gegenüber der Beschwerdeführerin auszugehen ist.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. zu allem grundsätzlich das hg. E vom 22. März 2000, Zl. 99/01/0256, mwN; weiters aus jüngerer Zeit die hg. E vom 19. Oktober 2006, Zl. 2006/01/0064, und vom 24. Mai 2005, Zl. 2004/01/0576, mit Verweisen auf Vorjudikatur zu dieser Frage, insbesondere auf das E vom 26. Februar 2002, Zl. 99/20/0509, mit umfangreicher Darlegung der Judikatur und Verweis auf das obzitierte E; für den Kosovo insbesondere das hg. E vom 24. Februar 2004, Zl. 2003/01/0017, ebenso mit Verweis auf das obzitierte E vom 22. März 2000) (VwGH 24.03.2011, 2008/23/1101).

Bei der Gefährdung durch ihren Mann handelt es sich um einer von einer Privatperson ausgehenden Bedrohung. Die Beschwerdeführerin hat sich laut eigenen Angaben zweimal an die Polizei gewandt und gegen ihren Ehemann wurde auch ein Betretungsverbot bzw. eine Wegweisung gerichtlich ausgesprochen. Allein aufgrund dieser Umstände ist erkennbar, dass der türkische Staat von Privatpersonen im familiären Umkreis ausgehender Gewalt nicht tatenlos gegenübersteht. In diesem Zusammenhang ist weiters darauf zu verweisen, dass in keinem Staat der Welt ein präventiver Schutz absolut und lückenlos möglich sein kann. Dass die türkischen Behörden nicht willens oder fähig gewesen wären, dem der Beschwerdeführerin hinsichtlich der vorgebrachten Übergriffe entsprechenden Schutz zu bieten, vermochte diese nicht darzutun. Wie bereits in der Verhandlung, wird weiters darauf hingewiesen, dass auch in Österreich bei einer Wegweisung die Polizei die zu schützende Person nicht bewacht und auch in Österreich die Möglichkeit besteht, dass die weggewiesene Person am nächsten Tag wieder vor der Tür der zu schützenden Person stehen kann (VS, S 11).

Insofern die Beschwerdeführerin Unterstützungsleistungen durch Frauenhäuser im Falle einer Rückkehr in die Türkei in Anspruch nehmen könnte, ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich der Schutzfähig- und -willigkeit eines Staates das Erfordernis eines tatsächlichen und effizienten Schutzes im Einzelfall besteht, der geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung unter das Maß der Erheblichkeit zu senken (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509; 17.09.2002, 2000/01/0414).

Aufgrund der Länderberichte kann nicht davon ausgegangen werden, dass die türkischen Behörden generell bei Übergriffen und Bedrohungen durch Privatpersonen schutzunfähig oder schutzunwillig wären. Zwar bestehen in Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen weiter große Defizite, jedoch verpflichtet ein im März 2012 verabschiedetes Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt sowohl die Polizei als auch die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht sind, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen sind auch staatliche Leistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner ist auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen Täter verhängen. Es kann daher auf Basis der Länderberichte nicht darauf geschlossen werden, dass die Polizei systematisch in derartigen Angelegenheiten nichts unternimmt oder sich systematisch politisch beeinflussen lässt und bei einer entsprechenden Anzeige untätig bleiben würde. Ebenso wenig kann aufgrund der Quellenlage angenommen werden, dass die türkische Justiz bei begründetem Sachverhalt kein Verfahren einleiten würde. Wie sich aus den Länderberichten ergibt, agiert die türkische Polizei prinzipiell auf Grundlage der Gesetze. In Anbetracht dessen kann daher von einer ausreichenden Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates ausgegangen werden.

Ungeachtet dessen, dass der türkische Staat grundsätzlich schutzwillig und schutzfähig hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin dargetanen Bedrohung ist, ist erneut darauf hinzuweisen, dass sie im Falle einer Rückkehr keine familiäre Unterstützung erwarten könnte. Es besteht, wie bereits dargelegt auch die maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass sie erneut von ihrem Ehemann physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sein würde. Die Beschwerdeführerin hat keine Berufsausbildung, weshalb sie auf die Unterstützungsleistungen von ihrem in Österreich lebenden Vater angewiesen ist. Die Beschwerdeführerin könnte zwar im Haus des Vaters in XXXX wohnen, würde deshalb jedoch erneut im selben Ort wie ihr Ehemann leben. Für ihre eigene Existenz und die ihrer Tochter könnte sie mangels Berufsausbildung nur schwer selbst sorgen. Nach den getroffenen aktuellen Länderfeststellungen stehen derzeit in der Türkei nicht einmal ein Drittel der Frauen in Beschäftigung. Im Falle der Verpflichtung des Ehemannes, Unterhaltszahlungen an die Beschwerdeführerin und/oder die Tochter zu leisten, ergibt sich in Zusammenschau mit dem räumlichen Naheverhältnis erneut auch ein Abhängigkeitsverhältnis der Beschwerdeführerin von ihrem gewalttätigen Ehemann. Von einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist nicht auszugehen, da sie an einem anderen Ort keine Wohnmöglichkeit für sich und ihre Tochter hätte, sie woanders (auch) keine soliden familiären Bindungen vorfinden würde und auch dort über keine Berufsaussichten verfügen würde. Dass die Beschwerdeführerin auch in einem Frauenhaus weiter von ihrem Ehemann zumindest belästigt werden würde, kann aufgrund der glaubhaften Angabe der Beschwerdeführerin angenommen werden, wonach der Ehemann zu ihr gesagt habe, dass er das Frauenhaus anzünden würde, würde sie in einem solchen Zuflucht suchen.

Aufgrund der fehlenden sozialen und familiären Einbettung, welche sich vor allem auch aus dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann ergibt, der zu erwartenden vom Ehemann ausgehenden erneuten Gefährdung der Beschwerdeführerin sowie auch der gemeinsamen Tochter, dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin über keine Berufsausbildung verfügt, der zwar existierenden, jedoch oft zu spät kommenden bzw. mangelhaften Unterstützung des türkischen Staates für von familiär bedingter Gewalt betroffenen Frauen und dem Umstand, dass die Morde an Frauen in den letzten Jahren zugenommen haben, ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin und ihre Tochter im Falle der Rückkehr in die Türkei wahrscheinlich in eine existentielle Notlage geraten würden.

2.6. Den hier getroffenen Ausführungen zur Lage in der Türkei (II.1.8.) liegen die vom BFA und vom BVwG herangezogenen Länderberichte zugrunde, welche in den bekämpften Bescheiden enthalten sind. Die Beschwerdeführerin und das BFA sind diesen Länderfeststellungen nicht entgegengetreten. Die Ausführungen unter Punkt II.1.8.1. basieren auf den zum Zeitpunkt der Erlassung der gegenständlichen Erkenntnisse aktuellen Länderberichte der Staatendokumentation des BFA.

3. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

A)

Gegenständlich handelt es sich um ein Familienverfahren:

§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von
1.         einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;
2.         einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder
3.         einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn
1.         dieser nicht straffällig geworden ist;
2.         die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und
3.         gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn
1.         dieser nicht straffällig geworden ist;
2.         die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist;
3.         gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und
4.         dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:
1.         auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;
2.         auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind.

Zu I.

Zu Spruchpunkt I der angefochtenen Bescheide

Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

1. § 3 AsylG

(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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