Entscheidungsdatum
24.03.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W177 2182595-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, 1090 Wien, Pulverturmgasse 4/2/R01 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.12.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 09.03.2021 zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 29.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 30.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers nach dem AsylG 2005 statt. Der Beschwerdeführer gab an, afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Ghazni zu sein. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei zu Hause unterrichtet worden und in seinem Heimatland zuletzt als Landarbeiter tätig gewesen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, seine drei Brüder und seine beiden Schwestern würden noch in Afghanistan leben. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass er Afghanistan wegen der Taliban und des Krieges verlassen habe. Schiiten und Hazara würden von den Taliban verfolgt und umgebracht werden. Sie würden nicht in Ruhe leben können, weshalb er geflohen sei. Im Falle einer Rückkehr wäre sein Leben in Gefahr.
3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr kurz „BFA“) am 06.12.2017 gab der Beschwerdeführer an, gesund zu sein. Er könne keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen, werde sich aber bemühen, eine Kopie seiner Tazkira vorlegen zu können. Er sei ledig und habe keiner Kinder. Sein Vater sei seit drei Jahren verschollen. Seine Mutter würde sich, zusammen mit seinen drei Brüdern und seinen beiden Schwestern in Pakistan befinden. In seinem Heimatland sei noch ein Onkel aufhältig, jedoch sei seine Familie mit diesem verfeindet. Zu seinen Angehörigen sei er regelmäßig über das Internet in Kontakt. Diesen würde es gut gehen. Er selbst sei arbeitsfähig und hole in Österreich den Hauptschulabschluss nach. Danach wolle er als Koch oder als Tischler tätig werden. Sonstige Angehörige oder Bezugspersonen habe er im Bundesgebiet nicht. Er spreche deutsch, spiele Fußball und treffe sich mit Freunden. Hier habe noch keinen Kontakt mit Gerichten gehabt. In seinem Heimatland habe er auch keine Strafdelikte begangen. Wenn es in Afghanistan Sicherheit und keine Taliban geben würde, dann könnte er wieder dorthin zurückkehren. Gegen eine Rückkehr würde es auch sprechen, dass der Beschwerdeführer dort kein soziales Netz vorfinden würde.
Sein Heimatland habe er verlassen, weil sein Vater, der in den Bereichen Handel und Personentransport gearbeitet habe, einmal aus Pakistan Bücher über das Christentum mitgenommen und verteilt habe. Eines Tages habe er sich aus Pakistan gemeldet und sich auf den Heimweg in die Provinz Ghazni begeben. Dort habe er eine bewaffnete Taliban-Kontrolle gesehen und das Auto umgedreht. Dabei habe er einen bewaffneten Motorradfahrer überfahren. Das Auto habe er dann in Ghazni abgestellt und seither sei er verschollen. Danach seien die Taliban nach Hause gekommen und hätten nach dem ältesten Sohn der Familie gefragt. Seine Mutter habe den Beschwerdeführer davor noch im Tandur (einem Ofen am Boden) versteckt und gemeint, dass der Beschwerdeführer nicht zu Hause sei. Die Taliban hätten noch längere Zeit gewartet, ehe sie weggegangen wären. Seine Mutter habe dann beschlossen, dass der Beschwerdeführer fliehen müsse und habe das Auto verkauft. Er sei auch noch dreimal von seinem Arbeitgeber vergewaltigt worden. Dieser habe dabei immer Videos gemacht und ihn damit erpressen wollen. Falls er nicht mehr in die Arbeit komme, würde seine Familie davon erfahren. Hierbei wurde angemerkt, dass der Beschwerdeführer dies völlig emotionslos schildern würde und es ihm egal sei, dass eine Frau die Einvernahme führe.
Sein Vater habe die Bücher rund ein oder eineinhalb Jahre zuvor zu liefen begonnen. Die Mutter des Beschwerdeführers habe diesen immer auf die Gefährlichkeit dieses Unterfangens hingewiesen. Der Beschwerdeführer vermute, dass sein Vater auch selbst Interesse am Christentum gehabt habe, weil dieser nicht gebetet hätte und auch immer wieder sein Interesse am Christentum hat anklingen lassen. Wann genau sich der Vorfall des Verschwindens seines Vaters zugetragen habe, wisse er nicht, weil er nicht gebildet sei. Zwischen dem Verschwinden des Vaters und dem Besuch der Taliban seien etwa zwei Monate gelegen. Über den Vorfall der Kontrolle könne der Beschwerdeführer nichts sagen, weil er diesen nur aus Erzählungen kenne. Er finde aber, dass sein Vater wohl verraten wurde, weil diese nicht einfach so in eine Kontrolle gefahren wäre. Das Auto sei von einer Person zurückgebracht worden, die auch keine näheren Informationen über den Verbleib des Vaters gehabt hätte. Warum die Taliban erst zwei Monate später gekommen wären, begründete der Beschwerdeführer dahingehend, dass diese wohl noch Informationen gebraucht hätten. Seine Mutter habe gemeint, dass es vier Taliban gewesen wären, die sich 30 bis 40 Minuten zu Hause aufgehalten hätten. Sie hätten das Haus durchsucht, den Tandur jedoch nicht. Er selbst habe Stimmen gehört und sie hätten Geschirr draufgestellt, jedoch nicht nachgeschaut. Auf Nachfrage konnte der Beschwerdeführer nicht angeben, wen er mit „sie“ bei der Geschirrpositionierung gemeint hätte.
Seine Mutter hätte damals vermeint, dass die Taliban kommen würden, weil es fremde Stimmen gewesen wären und sonst nur sein Onkel gekommen wäre, um sie zu schlagen. Dieser habe Probleme mit seinem Vater gehabt, jedoch immer nur die Kinder geschlagen. Die Polizei habe nur vermeint, dass sein Vater nicht bei den Taliban inhaftiert sei und sie deswegen nicht helfen könne. Die Taliban seien bis zu seiner Ausreise nicht mehr gekommen, jedoch hätten sie eine Todesdrohung gegen den Beschwerdeführer und seinen Vater ausgesprochen. Über die Sache mit dem Auto seines Vaters, wisse er nur von seiner Mutter Bescheid. Er habe aber immer in Ghazni ein Hotel besucht, wo er gerastet habe. Warum die Taliban kein weiteres Mal binnen vier Monaten gekommen wären, wisse der Beschwerdeführer nicht. Sie hätten allerdings gedroht, wiederzukommen. Er selbst habe außerdem gewusst, wo er ich aufhalten dürfe und wo nicht. Sein Vater sei wohl viermal in Pakistan gewesen und habe diese Fahrtendienste auch nicht hauptberuflich gemacht.
Die Vergewaltigungen hätten sich zugtragen, nachdem sein Vater verschwunden sei. Er sei damals in ein Lager geschickt worden, wo sich diese dann zugetragen hätten. Der Arbeitgeber habe wohl bemerkt, dass sein Vater nicht mehr da wäre. Seinen Lohn habe er weiterhin bekommen, jedoch sei der Beschwerdeführer schon nach dem ersten Mal mit dem Tode bedroht worden. Ob das Video veröffentlicht worden wäre, wisse der Beschwerdeführer nicht, weil er geflohen sei. Eine Anzeige hätte er nicht erstattet, weil er sich geschämt hätte und er der Familienversorger gewesen sei. Zu seinem Onkel habe er keinen Kontakt. Dieser sei erst gewalttätig geworden, als sein Vater verschwunden sei. Probleme mit dem Vater habe dieser aber schon davor gehabt. Er könnte auch für das Verschwinden seines Vaters verantwortlich sein. Ob er jetzt gesucht werde, wisse er nicht. Er habe über einen Freund erfahren, dass die Taliban wieder bei ihnen zu Hause gewesen wären. Seine Mutter sei nach Pakistan geflohen, weil sich dort vor den Taliban in Sicherheit gefühlt hätte. In der Erstbefragung habe er dies nicht erwähnt, weil er damals nur gefragt worden sei, ob sein Leben in Gefahr wäre und nicht wie.
Ansonsten habe er in seinem Heimatland weder Probleme mit den Behörden noch sonstigen staatlichen Stellen noch von privater Seite gehabt. Er sei auch weder politisch tätig gewesen noch habe er Probleme wegen seiner politischen Gesinnung gehabt. Er sei auch nicht inhaftiert worden. Zu einer Verfolgung aus religiösen Gründen oder den Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit führte er an, dass Hazara und Schiiten in Afghanistan überall diskriminiert und umgebracht sowie diese als Ungläubige angesehen werden würden. Daneben werde er in Afghanistan noch von den Taliban verfolgt und habe keine sozialen Anknüpfungspunkte. Er habe nur nach Europa wollen und ihm sei erst auf der Flucht geraten worden, nach Österreich zu gehen. Er sei allgemein ein sehr ängstlicher Mensch. Er habe keine Probleme in einem christlichen Land zu leben, weil er kein richtiger Moslem und diesbezüglich tolerant sei. Auf eine Einsichtnahme zu den ihm vorgelegten Länderfeststellungen verzichtete er.
4. Mit Bescheid vom 27.12.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers keiner Glaubwürdigkeitsprüfung habe Stand halten können. Er tätigte bereits in der freien Erzählung vage Angaben, die jeglicher Gefühlsbeschreibung und Reaktionen entbehrt hätten. Dies habe aber aufgrund der Gefährdungslage in keiner Weise nachvollzogen werden können. Ebenso habe sich der Beschwerdeführer nur auf oberflächliche Erzählungen berufen, in welchen die Person des Beschwerdeführers nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätte. Dass die Familie im Dorf keine sozialen Kontakte gehabt hätte und die Mutter des Beschwerdeführers beim Hören fremder Stimmen sofort einen Rückschluss auf die Taliban gezogen hätte, sei fern von jeder Lebensrealität. Auch, dass diese innerhalb von 40 Minuten nicht im Tandur nachgeschaut hätten, würde jedweder Plausibilität entbehren. Ein tiefergehendes Interesse der Taliban am Beschwerdeführer könne schon daher ausgeschlossen werden, dass diese ihn bis zu seiner Ausreise nicht mehr heimgesucht hätten und der Beschwerdeführer seiner Arbeit hat nachgehen können. Dies müsse auch unter der Prämisse betrachtet werden, dass die Taliban bereits gewusst hätten, wo sich dieser aufhalten würde. Die geschilderten Vergewaltigungen wären in sich auch nicht plausibel dargelegt worden, zumal sich Lohnfortzahlungen und Lohnerhöhungen nicht mit der vorgebrachten Erpressung decken würden. Ebenso könne davon ausgegangen werden, dass sich diese nicht zugetragen hätten, weil die Familie nach der Ausreise des Beschwerdeführers nicht mit den Videos der Vergewaltigungen konfrontiert worden wäre. Die Angst vor einer Anzeige gegen den Arbeitgeber, weil der Beschwerdeführer der einzige Familienversorger gewesen sei, sei dahingehend nicht nachvollziehbar gewesen, weil dieser einerseits auch das Geschäfte des Vaters hätte weiterführen können, andererseits dieser die Familie auch alleine zurückgelassen habe. Die Misshandlungen durch den Onkel seien auch nicht nachvollziehbar gewesen, weil der Beschwerdeführer keinen detaillierten Grund dafür habe nennen können und es auch nicht nachvollziehbar gewesen sei, dass die Mutter diesen Onkel immer wieder ins Haus gelassen hätte.
Außerdem würde es gegen eine Glaubwürdigkeit des Vorbringens sprechen, dass der Beschwerdeführer die Fluchtgründe, wie eine persönliche Bedrohung, eine Vergewaltigung und eine Misshandlung, die seine Person betreffen, nicht bereits in der Erstbefragung erwähnt habe. Das sonstige Vorbringen einer möglichen Verfolgung wegen des schiitischen Glaubens, der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Befürchtung, ohne Familie als Hazara generell einer Suche durch die Taliban ausgesetzt zu sein und umgebracht zu werden, vermochte keine ausreichend begründete, asylrechtliche relevante Gefährdung der Person des Beschwerdeführers darlegen.
Ebenso sei es offensichtlich, dass der Beschwerdeführer gegenständlichen Asylantrag nur zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen gestellt habe, zumal eine Bedrohung seiner Person nicht festgestellt habe werden können. Eine Wiederansiedlung in Afghanistan sei dem Beschwerdeführer in vielen, generell sicheren Teilen Afghanistans ebenfalls zumutbar und bezüglich der Rückkehrentscheidung würde das öffentliche Interesse überwiegen.
5. Mit Verfahrensanordnung vom 27.12.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 27.12.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom 05.01.2018 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde unter anderem festgehalten, dass der Beschwerdeführer das Fluchtvorbringen glaubwürdig und nachvollziehbar geschildert habe. Bezüglich seines Vorbringens hätte darauf geachtet werden müssen, dass der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung noch minderjährig gewesen sei und es dem diesem auch ebenfalls nicht angelastet werden dürfe, dass dieser seine Fluchtgründe in der Erstbefragung nicht im Detail geltend gemacht habe. Dies habe er bei der Einvernahme vor dem BFA schließlich auch nachgeholt. Des Weiteren wäre, in Bezug auf die in Afghanistan vorherrschende Sicherheitslage und Versorgungslage, dem Beschwerdeführer zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen. Bei der Rückkehrentscheidung hätte das Bemühen um eine Integration gewürdigt werden können. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer immer am Verfahren mitgewirkt.
7. Mit Schreiben vom 10.01.2018 legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht gegenständliche Beschwerde samt Verfahrensakt vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
8. Mit Schreiben vom 18.01.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Vollmachtsbekanntgabe ein, dass der Beschwerdeführer in gegenständlichem Verfahren nun durch den MigrantInnenverein St. Marx und dessen Obmann Rechtsanwalt Dr. Lennart Binder, LL.M. rechtsfreundlich vertreten werde.
9. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 15.12.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W179 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
10. Mit Schreiben vom 04.03.2021 wurden seitens der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers zahlreiche integrationsbegründende Unterlagen des Beschwerdeführers vorgelegt. Außerdem wurden Nachweise der ernsthaften Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum samt Länderberichte zur Situation der Konvertiten vorgelegt, sodass der Beschwerdeführer auch diesbezüglich einer asylrechtlich relevanten Gefährdung ausgesetzt sei. Da sich die Sicherheitslage in Afghanistan nicht verbessert hätte, sei ihm zumindest der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.03.2021 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer, seine rechtsfreundliche Vertretung und zwei Zeugen persönlich teilnahmen. Ebenso nahm ein Vertreter der belangten Behörde an dieser Verhandlung persönlich teil.
Es erfolgte die Erörterung einer vorläufigen Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat, die auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, der aktuellen EASO Guidance und der aktuellen UNHCR-Richtlinie basiere. Diese erfolgte auch unter der Berücksichtigung von COVID-19. Dazu macht der BF keine Angaben.
Zuerst wurde der Beschwerdeführer zu seinen fluchtauslösenden Vorfällen gefragt. Er vermeinte, dass er nicht wisse, ob sein Vater in einen Angriff der Taliban gekommen sei und ob dieser jemanden getötet habe. Die Taliban seien später zu ihnen nach Haus gekommen und hätten nach dem Vater und dem Beschwerdeführer gesucht. Er sei auch Hilfsarbeiter in einer Landwirtschaft gewesen. Diese Tätigkeiten habe er zwei- oder zweieinhalb Jahre ausgeführt. Die Vergewaltigungsvorfälle seien immer ähnlich gelagert gewesen. Er habe dreimal analen Geschlechtsverkehr mit dem Beschwerdeführer gehabt. Auf Nachfrage vermeinte der Beschwerdeführer, dass ein- bis eineinhalb Monate zwischen den Vorfällen gelegen wären, wobei sich diese bereits nach dem Verschwinden des Vaters zugetragen hätten. Nach dem Unfall des Vaters mit dem Talib habe er wohl noch vier oder fünf Monate dort gearbeitet. Er könne sich aber nicht mehr so genau erinnern, weil es schon über fünf Jahre her sei und er diese Sache verdrängen habe wollen. Er sei deswegen aber nicht in psychologischer Behandlung gewesen und benötige mittlerweile auch keine. Er wisse auch nicht mehr in welchem Monat sich dies zugetragen habe, weil er ungebildet sei. Er fühle sich nicht wohl, wenn er darüber sprechen müsse. Er selbst habe manchmal von diesen Vorfällen geträumt. Im letzten halben Jahr habe er aber nicht mehr davon geträumt. Daraufhin wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer körperlich gefasst, aufrecht sitzend und distanziert von diesen Vorfällen berichtet hat.
Ob die Videos veröffentlicht worden wären, wisse er nicht. Er habe bei der Erstbefragung nichts davon erwähnt, weil er erst kur im Land gewesen sei und gewusst hätte, was er genau hätte sagen sollen.
Er sei noch, zwei- bis dreimal pro Monat, in Kontakt mit seiner Familie. Er telefoniere meist mit seiner in Pakistan lebenden Mutter. Dieser habe er noch nichts von seiner geplanten Konversion gesagt. Zu sonstigen Verwandten habe er keinen Kontakt. Es wurde festgehalten, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehen würde und dieser über ein durchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit verfüge.
Zum Themenbereich Konversion befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er Christ sei. Er missioniere sogar, wobei er auch beschimpft werde. Jedoch verzeihe er diesen Leuten und habe zu ihnen auch eine gute Beziehung. Zu verzeihen und freundlich zu sein, habe er im Christentum gelernt. Er wolle auch so weiterhelfen, wie ihm die Christen damals geholfen hätten. Jesus sei auf die Erde gekommen, um die Menschen von ihren Sünden zu befreien. Die Reichen sollten ihren Reichtum teilen und durch die Vergebung der Sünden sollten die Menschen das ewige Leben erlangen. Vor Jesus habe es Moses gegeben, der den Menschen mit den zehn Geboten gezeigt habe, wie man leben solle. Er selbst lebe nach den christlichen Werten und folge den Vorschriften seiner Religion. Er sei auf die Erde gekommen, um etwas Gutes tun zu können. Er glaube an die Wiederauferstehung und daran, dass er zu Gott in den Himmel auffahren werde. Dort werde er dann einer Art Prüfung unterzogen, um danach von den irdischen Sünden befreit zu werden. Danach werde er dort ein ruhiges Leben haben, obgleich er nicht wisse, wie dieses aussehen werde. Gott würde vergeben und er würde diese „Prüfung“ daher jedenfalls bestehen. Gott sei herzlicher und lieber als seine eigene Mutter und selbst diese würde ihm nach einer Weile vergeben. Im Katholizismus hätte man noch die Beichte, wo man von den Sünden befreit werden könne. Ein Fehlverhalten würde er beichten. Er müsse sich auch bei diesem Menschen entschuldigen und Gott um Vergebung bitten. Er selbst solle auch vermeiden, dass sich so ein Vorfall wiederhole. Für Sünden müsse er immer um Vergebung bitten. Im Vergleich zum Islam würde es im Christentum viel weniger Zwang geben. Man werde nicht in der Familie gezwungen, diesen Glauben zu übernehmen. Im Christentum würde die Liebe im Vordergrund stehen. Im Islam würden das Beten, das Fasten und die Ashora mit Zwang ausgeübt werden und bei einer Weigerung würde man innerhalb der Familie und des Stammes verachtet werden. Im Christentum würden die Leute ehrlich sein, im Islam wären die Leute unehrlich und würden schlecht über andere Religionen reden. Das Christentum konzentriere sich jedenfalls nur auf sich selbst. Atheisten würden auf Erden auch lieb sein können, jedoch hätten sie niemanden, der sie nach dem Tod leiten würde. Er wolle keine Religionen beleidigen, aber man könne auch an einen Stein glauben. Diese könne aber zerbrechen und würde ihm auch nicht helfen. Verzeihen würde er jedem, sogar dem Mörder seiner Mutter. Er sei in Österreich mit dem Christentum in Kontakt gekommen, jedoch habe sich sein Glaube erst vor einem Jahr so gestärkt, dass er zu Gott gebetet habe. Dies habe er selbst entschieden. Erst danach sei er in die Kirchengemeinschaft eingetreten. Als seine Sprachkenntnisse noch nicht so gut gewesen wären, habe ihn ein Dolmetscher bei Glaubensgesprächen angeleitet. Mittlerweile könne er auf Hochdeutsch diese Glaubensgespräche führen. Mit einem hier anwesenden Zeugen würde er fünfmal in der Woche Glaubensgespräche führen. Zuletzt am Abend von Samstag auf Sonntag. Zuerst sei nur hingegangen und habe den Glauben kennenlernen wollen. Seitdem er an Jesus glauben würde, habe er nie an der Entscheidung zu konvertieren gezweifelt.
Der einvernommene Zeuge gab an r. k. Pfarrer zu sein und den Beschwerdeführer über diese Tätigkeit zu kennen. Der Beschwerdeführer sei immer in den Gottesdiensten gewesen, jedoch habe eine Kontaktaufnahme (Anm. mit ihm) erst im November 2020 stattgefunden. Dabei habe er von seiner Taufvorbereitung erzählt, sodass der Zeuge mit seinem Vorgänger in Kontakt getreten sei. Dieser habe ihm alles bestätigen können. Neben der Vertiefung der christlichen Inhalte habe der Zeuge auch in die Wege geleitet, dass der Beschwerdeführer eine Ausbildung erhalte. Die Taufe des Beschwerdeführers sei für Ostern 2021 vorgesehen. Er sehe, dass sich der Beschwerdeführer nachhaltig und ernsthaft für das Christentum interessiere. Der Beschwerdeführer würde nach den Gottesdiensten immer viel nachfragen und sei sehr interessiert auch abseits des Gottesdienstes Gespräche über Glaubensinhalte zu führen. Falls der Zeuge dahinterkommen würde, dass der Beschwerdeführer ihn getäuscht hätte, dann könne er seine Taufentscheidung nicht mehr ändern, jedoch wäre er sehr enttäuscht und wüsste nicht, wie er sich beim nächsten ähnlich gelagerten Fall verhalten solle. Er selbst käme sich jedenfalls „verarscht“ vor.
Danach wurde einvernehmlich festgehalten, dass auf die Einvernahme des weiteren Zeugen verzichtet werden könne und es folgte der Schluss der Verhandlung, wobei die Verkündung einer Entscheidung gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel.
12. Der Beschwerdeführer legt im Verlauf des Verfahrens folgende Unterlagen vor:
? Teilnahmebestätigungen an Kursen zur Nachholung des Pflichtschulabschlusses
? Teilnahmebestätigungen an diversen Deutschkursen
? Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs
? Zahlreiche Stellungnahmen und Empfehlungsschreiben
? Teilnahmebestätigungen an integrationsbegründenden Maßnahmen
? Bestätigungen und Schreiben eines Fußballklubs
? Zahlreiche Bilder, die den Beschwerdeführer bei Freizeitaktivitäten in Österreich zeigen
? Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung
? Katechumenenprotokoll
? Bestätigungen über die Taufvorbereitung und zur Taufanmeldung
? Scheiben über Zusage für den Beginn einer Lehre
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und wurde als Moslem schiitischer Glaubensrichtung geboren. In Österreich ist der Beschwerdeführer zum christlichen Glauben konvertiert. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni geboren. Dort erhielt er privaten Unterricht und sammelte Arbeitserfahrung als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft. Der Beschwerdeführer reiste im Dezember 2015 aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge nach Österreich, wo er am 29.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die Familienangehörigen des Beschwerdeführers, seine Mutter, seine beiden Schwestern und seine drei Brüder halten sich allesamt in Pakistan auf. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt zu Verwandten oder Bekannten.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer bekannte sich in Afghanistan zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam, ist aber in Österreich zum Christentum konvertiert und wird zu Ostern 2021 getauft werden. Er begann sich im Zuge seines Aufenthaltes im Bundesgebiet für den christlichen Glauben zu interessieren, wobei dieses Interesse schon im Jahr 2017 begonnen hat und sich dieses dermaßen vertiefte, dass der Beschwerdeführer sich entschlossen hat, die Taufvorbereitungskurse zu besuchen. Er nimmt regelmäßig an Gottesdiensten und dem Gemeindeleben einer katholischen Pfarrgemeinde teil. Er hat auch abseits dieser Aktivitäten der Kirchengemeinde Interesse am Glauben und sucht die Gespräche mit den Vertretern seiner Kirchengemeinde.
Der Beschwerdeführer lebt seine religiöse Überzeugung offen und vertritt seine kritischen Ansichten gegenüber dem Islam auch nach außen. Es ist nicht anzunehmen, dass er seine innere Überzeugung in seinem Herkunftsstaat Afghanistan dauerhaft verleugnen würde.
Dem Beschwerdeführer droht daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Konversion zum Christentum bzw. seiner Abwendung vom islamischen Glauben (Apostasie) physische und/oder psychische Gewalt bzw. Strafverfolgung.
Es liegen keine Gründe vor, nach denen der Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist.
Festgehalten wird, dass der Beschwerdeführer aufgrund der ursprünglich vorgebrachten fluchtauslösenden Vorfälle keiner asylrechtlich relevanten Verfolgungen in seinem Heimatland unterliegt.
Der Beschwerdeführer wurde weder von den Taliban entführt noch festgehalten noch von diesen bedroht. Der Beschwerdeführer wurde seitens der Taliban nicht aufgefordert mit diesen zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der Beschwerdeführer wurde von den Taliban weder angesprochen noch angeworben. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban, er wird von diesen auch nicht gesucht. Ob der Beschwerdeführer von seinem Onkel misshandelt oder von seinem Arbeitgeber vergewaltigt wurde, konnte nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden.
Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan auch keiner landesweiten Verfolgung wegen der bloßen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara ausgesetzt ist.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
Länderspezifische Anmerkungen
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.
Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen
COVID-19
Letzte Änderung: 14.12.2020
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM,23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher
Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Programm) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
0. Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG
Erläuterung
Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.
Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.
Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:
Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.
1.2.1. Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
1.2.2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in