TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/19 W105 2218757-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.04.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

19.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55

Spruch


W105 2218757-2/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.12.2020, Zl. 1115180600/200520902, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 8 Abs 4, 9 Abs 1 Z 1, 9 Abs 4, 57, 10 Abs 1 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und §§ 55 Abs 1-3 sowie 53 Abs 1 und 3 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: „BF“) reiste spätestens am 19.05.2016 gemeinsam mit seiner Ehegattin XXXX sowie mit Ihren vier Söhnen XXXX , XXXX , XXXX und XXXX illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Eine EURODAC-Abfrage ergab eine erkennungsdienstliche Behandlung am 09.02.2016 des BF in Griechenland sowie eine erkennungsdienstliche Behandlung im Rahmen der Asylantragsstellung am 25.04.2016 in Ungarn.

3. Am 20.05.2016 wurde der BF von Beamten des PAZ Salzburg einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab der BF an, den Namen XXXX zu führen, aus Afghanistan zu stammen und am XXXX geboren worden zu sein.

4. Am 22.06.2016 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „BFA“) ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr.604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn gerichtet.

5. Mit Schreiben vom 08.07.2016 teilte die österreichische Dublin-Abteilung Ungarn mit, dass auf Grund der nicht fristgerecht erfolgten Antwort gemäß Art. 25 Abs. 2 der Dublin III-VO eine Verfristung eingetreten und Ungarn nunmehr für die Durchführung des Asylverfahrens des BF sowie seiner Familienengehörigen zuständig ist.

6. Mit Bescheid vom 19.09.2016 wies das BFA den Antrag auf internationalem Schutz, ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass Ungarn für die Prüfung des Antrages des BF gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. B iVm. Art. 25 Abs. 2 der Dublin III-VO zuständig ist (Spruchpunkt I). Die Außerlandesbringung des BF wurde gemäß § 61 Abs. 1 Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), angeordnet und festgestellt, dass demzufolge seine Abschiebung nach Ungarn gemäß § 61 Abs. 2 FÜG zulässig ist (Spruchpunkt II). Gleichlautende Bescheide ergingen an die Familienangehörigen des BF.

7. Der gegen diesen Bescheid vom 19.09.2016 fristgerecht erhobenen Beschwerde des BF wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.10.2016, Zl. W241 2136406-1/3Z, gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

8. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2017, Zl. W241 213406-1/6E, wurde die Beschwerde gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.

9. Am 02.02.2018 stellte der BF bei der XXXX , Bezirkspolizeikommando Baden, einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.

10. Mit Mitteilung des BFA vom 02.02.2018 wurde dem BFA zur Kenntnis gebracht, dass gemäß der Dublin-Verordnung Konsultationen in Form einer Anfrage mit Ungarn, Deutschland geführt werden.

11. Der BF befand sich im Zeitraum vom 04.03.2018 bis zum 08.05.2018 in der XXXX .

12. Mit Urteil des XXXX , wurde der BF wegen § 15 StGB § 269 (1) StGB, § 83 (1), und § 84 (2) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, davon 10 Monate bedingt, unter Aussetzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

13. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 14.06.2018 im Beisein eines Dolmetschers in der Sprache Dari von einem zur Entscheidung berufenen Organwalter niederschriftlich zu seinem Asylantrag einvernommen.

14. Mit Bescheid des BFA vom 05.04.2019, Zl. 1115180600/180116194, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF vom 02.02.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde dem BF gemäß § 8 Absatz 4 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, erstmals bis zum 05.04.2020 erteilt.

Begründend wurde ausgeführt, dass dem BF subsidiärer Schutz in erster Linie wegen der volatilen Sicherheitslage in Ihrer Heimatprovinz Kunduz erteilt worden sei. Zudem seien der BF und seine Familie außerhalb ihrer Heimatprovinz nicht ortskundig und verfügten sie über keine relevanten familiären Anknüpfungspunkte im Heimatland. Der BF hätte seine Gattin und seine fünf gemeinsamen Kinder versorgen müssen, wobei sein ältester Sohn zusätzlich psychisch und physisch beeinträchtigt sei und somit nicht auszuschließen sei, dass er in eine existentielle Notlage geraten würde.

15. Der BF erhob gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 05.04.2019, Zl. 1115180600/180116194, am 02.05.2019 fristgerecht eine Beschwerde.

16. Am 03.03.2020 langte der Verlängerungsantrag der befristeten Aufenthaltsberechtigung des BF bei der Behörde ein.

17. Am 03.04.2020 langte die polizeiliche Meldung der XXXX über die gegen den BF erfolgte Anzeigeerstattung wegen sechsfacher fortgesetzter Gewaltausübung gem. § 107 b StGB, Schwere Nötigung gemäß § 106 StGB und Sachbeschädigung gemäß § 125 StGB zur Zl XXXX , an die Staatsanwaltschaft XXXX beim BFA ein.

18. Am 14.04.2020 langte eine weitere polizeiliche Meldung der XXXX beim BFA ein. Der BF wurde wegen weiterer zweifacher schwerer Nötigung gemäß § 106 StGB zur Zl. XXXX , der Staatsanwaltschaft XXXX am 13.04.2020 zur Anzeige gebracht.

19. Am 24.04.2020 langte die Verständigung des XXXX von der Verhängung der Untersuchungshaft wegen § 125 StGB, § 15 StGB § 269 StGB (1) 1. Fall StGB und § 15 StGB 84 (2) StGB bei BFA ein.

20. Am 20.05.2020 wurde gegen den BF wegen Verdachts nach § 125 StGB (Sachbeschädigung), § 15 StGB § 269 (1) StGB (versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt), § 15 StGB §§ 83, 84 (2) StGB (versuchter Körperverletzung und versuchter Schwerer Körperverletzung) seitens der Staatsanwaltschaft XXXX , Anklage erhoben.

21. Am 23.06.2020 wurde seitens des BFA gegen den BF ein rechtsverbindliches Aberkennungsverfahren gem. § 9 Abs. 2 AsylG eingeleitet. Begründend wurde ausgeführt, dass sich Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen würde sowie eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Verbrechens absehbar sei.

22. Mit Verfügung vom 24.06.2020 wurde dem BF Parteiengehör gewährt und wurde er unter einem aufgefordert, innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen eine Stellungnahme abzugeben.

23. Mit Urteil des XXXX wurde der BF wegen § 15 StGB § 269 (1) 3. Fall StGB, § 15 § 83 (1) und § 84 (2) StGB, § 125 StGB, zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt.

24. Mit Erkenntnis des BvWG vom 27.11.2020, Zl. W144 2218757-1/24E, wurde die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

25. Mit Urteil des XXXX , wurde der BF wegen § 105 (1) StGB, § 83 (1) StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt.

26. Mit gegenständlichem Bescheid vom 15.12.2020, Zl. Zl. 1115180600/200520902, wurde unter Spruchteil I. der Status des subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt, unter Spruchteil II. die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 entzogen, unter Spruchteil III. der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen, unter Spruchteil IV. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, unter Spruchteil V. gemäß § 10 Abs. 1 Z. 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 4 FPG erlassen, unter Spruchpunkt VI. die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG für zulässig erklärt, unter Spruchpunkt VII. gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen Frist gelegt und unter Spruchpunkt VIII. ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Begründend wurde ausgeführt, dass zum Zeitpunkt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes zwar eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden habe. Jedoch sei seitens des BFA angenommen worden, dass er bei einer Rückkehr mit der gesamten Familie, dazu noch in ein Gebiet, in dem er nicht ortskundig sei, mit höchstwahrscheinlich grenzender Wahrscheinlichkeit in eine existentielle Notlage geraten würde, zumal er nicht nur für sich sondern auch für seine Ehegattin und die gemeinsamen fünf Kinder sorgen hätte müssen. Dahingehend könne es für einen volljährigen, gesunden Mann mit Arbeitserfahrung keine größeren Probleme darstellen, allein in das Heimatland zurückzukehren und sich dort in einem Gebiet wie Herat oder Mazar-e Sharif ein neues Leben aufzubauen. Aufgrund des Umstandes, dass der BF in Österreich mehrfach rechtskräftig verurteilt worden sei, er in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes eine auffällige Missachtung der österreichischen Rechtsordnung gezeigt habe, es sich bei seinen Straftaten größtenteils um Gewaltdelikte handle, sei davon auszugehen, dass vom BF eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgehe, welche ein Einreiseverbot in der angegebenen Höhe zu rechtfertigen vermag.

27. Mit Verfahrensanordnung vom 15.12.2020 wurde dem BF ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

28. Mit Schriftsatz vom 07.01.2021 wurde seitens der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (im Folgenden: „BBA“) umfänglich Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid erhoben. Begründend ausgeführt, dass sich die Situation in Afghanistan zwischen der Erteilung des subsidiären Schutzes und dem Zeitpunkt der Aberkennung weder nachhaltig gebessert noch die subjektive Situation des BF maßgeblich verändert habe. Das BFA habe den subsidiären Schutzstatus aberkannt, ohne auch nur ansatzweise die notwendigen Ermittlungsschritte hierfür zu setzen. Im vorliegenden Fall nehme die belangte Behörde an, dass ein Familienleben nie wieder zustande kommen werde, ohne diesbezüglich ausreichend zu ermitteln. Es könne daher auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Ehefrau des BF sich nach seiner Entlassung aus der Haft mit ihn nicht versöhnen wolle, wenn er sein Verhalten ihr gegenüber ändern würde. Auch sei anzumerken, dass der BF mehrmals vor der belangten Behörde vorgebracht habe, dass er Schlafprobleme habe und gestresst sei. Aus diesem Grund müsse er auch Medikamente nehmen. Die belangte Behörde habe ausgeführt, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der geänderten persönlichen Umstände ex lege abzuerkennen sei. Der erste Tatbestand umfasse den Fall des Hervorkommens von Tatsachen, die bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorhanden, aber nicht bekannt gewesen seien und somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung bereits zum Zeitpunkt der betreffenden Entscheidung nicht vorgelegen seien. Im vorliegenden Fall könne das aber nicht angenommen werden, da der BF zum Zeitpunkt der Zuerkennung gemeinsam mit seiner Familie gelebt habe und aktiv an der Kinderbetreuung beteiligt gewesen wäre. Der zweite Fall des § 9Abs. 1 Z. 1 umfasse hingegen jene Fälle, in welchen die Umstände, die zur Zuerkennung des Schutzanspruches geführt hätten, nachträglich weggefallen seien oder sich so verändert hätten, dass der Schutz nicht mehr vorgesehen sei. Die belangte Behörde habe angenommen, dass die persönlichen Umstände des BF sich geändert hätten und ein Familienleben nie wieder zustande kommen werde ohne diese Annahme ausreichend zu begründen. Im vorliegenden Fall sei kein Tatsachenirrtum betreffend relevanter Daten, die zur Zuerkennung geführt hätte, erkennbar. Der BF sei wie zum Zeitpunkt der Zuerkennung verheiratet und obsorgepflichtig für seine fünf Kinder. Die Behörde habe das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative mit der Eigenschaft des BF als „gesunden, alleinstehenden Mann“ begründet. Dem sei aber entgegenzuhalten, dass der BF sich nicht als alleinstehend sehe, weil er nach seiner Entlassung unbedingt für seine Kinder sorgen wolle. Da kein Tatsachenirrtum in Bezug auf ausschlaggebende Daten bei der belangen Behörde bekannt sei, sei der Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 1 erster Fall ebenfalls nicht erfüllt und stehe der Behörde die bloße Neubeurteilung der rechtskräftig entschiedenen Sache entgegen. Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt sei zu entnehmen, dass die aktuelle Situation in Afghanistan weder sicher noch stabil sei, wobei die Sicherheitslage regional von Provinz zu Provinz variiere. Zusätzlich werde die Situation durch die aktuelle Covid-19-Pandemie verschlechtert. Im konkreten Fall sei zu berücksichtigen, dass der BF seit über 5 Jahren nicht mehr in Afghanistan gewesen sei. Er sei Analphabet und verfüge über keine Berufsausbildung. Im Falle einer Rückkehr wäre er auf sich allein gestellt und gezwungen, allenfalls in Mazar-e Sharif oder Herat nach Arbeit und einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Im vorliegenden Fall hätte sich aufgrund der persönlichen Situation des BF Umstände ergeben, die eine spezifische Vulnerabilität seiner Person begründet hätten. In Bezug auf das verhängte Einreiseverbot sei auszuführen, dass der BF sein Fehlverhalten bedauere, jedoch sei in Bezug auf die Gefährlichkeitsprognose nicht ausreichend auf seine Situation eingegangen worden und wäre sein Familienleben nicht ausreichend berücksichtigt worden. Beantragt werde daher, den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen; in eventu in der Sache selbst zu entscheiden und den angefochtenen Bescheid zu beheben und eine auf zwei weitere Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen; in eventu den angefochtenen Bescheid bezüglich des Spruchpunktes IV. aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung aufgehoben, die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und ihm ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilt werde; das gegen ihn erlassene Einreiseverbot ersatzlos zu beheben und in eventu Spruchpunkt VIII. des gegenständliche Bescheides dahingehend abzuändern, dass die Dauer des Einreiseverbotes reduziert werde.

29. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 14.01.2021 beim Bundesverwaltungsgericht nach Vorlage durch das BFA ein.

30. Mit Verfügung vom 04.02.2021 wurden dem BF das aktuelle LIB zur Situation in Afghanistan vom 16.12.2020, die UNHCR-Guidelines Afghanistan vom 30.08.2018 sowie der EASO Bericht v. 20.04.2019 übermittelt und wurde ihm eine Frist von zwei Wochen zur Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme gewährt.

31. Mit Stellungnahme vom 15.02.2021 brachte der BF durch seine bevollmächtigte Vertretung ergänzend vor, dass nicht verkannt werde, dass sich aus dem EASO Bericht vom Dezember 2020 ergebe, dass der Personengruppe der alleinstehenden jungen Männer grundsätzlich eine innerstaatliche Fluchtalternative zugemutet werden könne. Dennoch sei auch hier eine Einzelfallprüfung unerlässlich, abhängig vom Alter, Geschlecht, Familienstatus, Gesundheitszustand, dem beruflichen Hintergrund, Bildungshintergrund, den finanziellen Mitteln, der Ortskenntnis sowie dem möglichen Unterstützungsnetzwerk. Es werde auch deutlich darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit einer Person mit den durch die Pandemie bedingten Schwierigkeiten umzugehen, stark abhängig seien vom gegebenen Zugang zu Unterstützungsnetzwerken oder finanziellen Mitteln. Dramatisch wirke sich aus, dass das grundsätzlich unterfinanzierte und unterentwickelte afghanische Gesundheitswesen nicht über die notwendigen Mittel und ausreichend ausgebildetes Personal verfüge, um die Pandemie zu bewältigen. Es könne daher mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der BF bei einer Rückkehr in eine aussichtslose Situation geraten würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist Staatsbürger von Afghanistan, wurde am XXXX in der Provinz Kunduz geboren, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitscher Moslem.

Er hat keine Schulbildung und ist Analphabet und spricht Dari. Der BF hat Arbeitserfahrung als Landwirt auf seiner eigenen Wirtschaft und als Bauarbeiter im Iran gearbeitet. Die Schwiegermutter des BF lebt in Afghanistan. Geschwister von ihm leben in Deutschland.

Der BF ist mit XXXX , geb. XXXX , verheiratet und hat mit dieser gemeinsam fünf Söhne, XXXX Der jüngste Sohn des BF wurde in Österreich geboren. Der Sohn Ali Agha leidet an einer physischen und psychischen Beeinträchtigung. Die Ehegattin und die Kinder des BF sind in Österreich subsidiär schutzberechtigt.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich wie folgt rechtskräftig verurteilt:

1.       Mit Urteil des XXXX , vom wurde der BF wegen § 15 StGB § 269 (1) StGB, § 83 (1), und § 84 (2) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, davon 10 Monate bedingt, unter Aussetzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

2.       Mit Urteil des XXXX wurde der BF wegen § 15 StGB § 269 (1) 3. Fall StGB, § 15 § 83 (1) und § 84 (2) StGB, § 125 StGB, zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt.

3.       Mit Urteil des XXXX wurde der BF wegen § 105 (1) StGB, § 83 (1) StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt.

In diesem Urteil wurde als erschwerend seitens des Landesgerichtes die einschlägige Vorstrafe, die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit, das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, die Gewaltanwendung gegenüber der Ehegattin in Gegenwart der Kinder und gegenüber den Kindern wahrnehmbar für die anderen Kinder erachtet. Mildernd wurde der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und eine herabgesetzte Impulskontrolle gewertet.

Im Abschlussbericht der XXXX zum angeführten Verfahren zur Zl. XXXX , welches der Verurteilung des BF seitens des XXXX , voranging, wird von der bearbeitenden Dienststelle ausgeführt, dass das gesamte Verhalten des BF deutlich gezeigt habe, dass er die Anwendung von Gewalt gegenüber seiner Ehefrau und gegenüber seinen Kindern als legitime Erziehungsmethode ansehen bzw. die Gewaltanwendung sehr stark verharmlosen würde. Zudem wird seitens der bearbeitenden Polizeiinspektion mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen, dass der BF auch künftig strafbare Gewalttaten bei der Erziehung seiner Kinder sowie bei seiner Frau einsetzen werde.

Der BF ist nicht selbsterhaltungsfähig, er hat keine Deutschkenntnisse erworben. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt aus staatlicher Unterstützung.

Der BF befand sich von XXXX in Haft. Aktuell befindet er sich erneut seit XXXX in Haft.

In Österreich führt der BF kein Familienleben, er ist vollständig gesund. Der BF befindet sich seit 24.05.2016 ununterbrochen in Österreich.

Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen Folgendes festgestellt:

Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020:

„Covid-19

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

Weitere Produkte der Staatendokumentation zu Afghanistan

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Rasuly-Paleczek Gabriele] (10.2020): Die aktuelle sozioökonomische Lage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038971 /AFGH_THEM_Die+aktuelle+sozio%C3%B6konomische+Lage+in+Afghanistan+%2 8Rasuly-Paleczek%29_2020-09.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Heugl, Katharina] (21.7.2020): Informationen zu sozioökonomischen und sicherheitsrelevanten Faktoren in der Provinz Balkh auf Basis von Interviews im Rahmen der FFM Marrar-e Sharif 2019, https://www.ecoi.net/en/docu ment/2034796.html

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM-Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.h tml

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Latek, Dina] (25.6.2020): Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2032976.html

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Durante, Xenia] (13.6.2019): Analyse der Staatendokumentation: Afghanistan - Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der

Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum November 2018 bis Jänner 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (4.2018): Fact Finding Mission Report Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1430912/5818_1524829439_03-onlineversion.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes- und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (3.7.2014): Frauen in Afghanistan, https://www. ecoi.net/en/file/local/1216171/4236_1415347452_analy-afgh-frauen-in-afghanistan-2014 -02-07-as.doc

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan

MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM

23.9.2020) .

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher

Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA

12.11.2020) .

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA

12.11.2020) . In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS

12.11.2020) . In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA

30.6.2020) , wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN

17.5.2019) .

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ

21.4.2019) . Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC

17.3.2020) .

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

C:\Users\kurzweij\AppData\Local\Temp\ABBYY\PDFTransformer\12.00\media\image3.jpeg

Abbildung 1: UNAMA 27.10.2020

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD

12.2019) . Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten