TE Bvwg Beschluss 2021/5/25 L503 2238560-1

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Veröffentlicht am 25.05.2021
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Entscheidungsdatum

25.05.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


L503 2238560-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Vorsitzenden und die Richterin Mag.a JICHA sowie den fachkundigen Laienrichter RgR PHILIPP über die Beschwerde von XXXX gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 26.11.2020, XXXX , beschlossen:

A.) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, zurückverwiesen.

B.) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang

1. Die nunmehrige Beschwerdeführerin (im Folgenden kurz: „BF“) beantragte am 20.12.2019 beim Sozialministeriumservice (im Folgenden kurz: „SMS“) die Ausstellung eines Behindertenpasses, wobei sie als Gesundheitsschädigung Multiple Sklerose seit dem Jahr 2006 anführte.

2. Im Gefolge ihres Antrags wurde die BF im Auftrag des SMS am 26.5.2020 von Dr. C. D., Ärztin für Allgemeinmedizin und Fachärztin für physikalische Medizin, untersucht und wurde im Gutachten vom 12.6.2020 als Ergebnis der durchgeführten Begutachtung zusammengefasst wie folgt festgehalten:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

Position

GdB

01

Entzündliche Rückenmarkserkrankung (Encephalomyelitis disseminata), chronischer Typ, Erstdiagnose 2006.

Berichtete Schwäche der Arme und Beine, im Status regelrechte Kraft beider Arme, geringe Kraftabschwächung bei Kniestreckung, keine weiteren neurologischen Auffälligkeiten, keine Gehbehinderung, geringe Harnverlustsymptomatik, die Patientin trägt zur Sicherheit Vorlagen, berichtete Schmerzen vor allem der Beine, fallweise auch Ganzkörperschmerzen, keine Medikation.

04.08.01

30 vH

02

Schwerhörigkeit.

Hörverlust rechtes Ohr 25 %, linkes Ohr 28 %, Beurteilung laut Tabelle.

12.02.01

10 vH

 

Gesamtgrad der Behinderung

30 vH

 

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde wie folgt ausgeführt: „Eine wesentliche Mobilitätseinschränkung liegt nicht vor. Eine kurze Wegstrecke (300 bis 400 m) kann selbstständig und ohne fremde Hilfe, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einer Gehhilfe zurückgelegt werden. Weder die Gelenksbeweglichkeit an Armen und Beinen, noch die Standsicherheit sind wesentlich beeinträchtigt. Es können daher übliche Niveauunterschiede überwunden werden, auch die sichere Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist möglich.“

3. Mit Schreiben vom 17.6.2020 übermittelte das SMS der BF das Gutachten von Dr. C. D. vom 12.6.2020 und wies darauf hin, dass mit einem Grad der Behinderung von 30 v.H. die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht vorliegen würden. Die BF könne dazu binnen zwei Wochen Stellung nehmen.

4. Mit Schreiben vom 26.6.2020 gab die BF eine umfangreiche Stellungnahme ab und ersuchte um Untersuchung durch einen Facharzt für Neurologie. Dabei stellte sie im Einzelnen insbesondere die Auswirkungen der bei ihr vorliegenden progredienten Form der MS dar.

Ergänzend beantragte die BF am 7.7.2020 die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO (Parkausweis) und legte diverse medizinische Befunde vor.

5. Mit Schreiben vom 7.8.2020 forderte das SMS die BF auf, neue fachärztliche Unterlagen vorzulegen.

6. Am 24.8.2020 legte die BF einen Befund von Dr. W. A., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 29.7.2020 vor.

Darin wird auszugsweise wie folgt ausgeführt:

„Symptome: Sensibilitätsstörung in den Beinen, auch in den Armen; Schwäche in den Beinen mit Gangstörung; nach 10 Minuten Gehleistung erhebliche Erschöpfung, längere Ruhepausen sind dann notwendig; beim Aufstehen aus sitzender Position werden die Hände ständig benötigt; neurogene Blasenentleerungsstörung mit Urge und fallweiser Inkontinenz wird geschildert; […]

[…]

Extremitätenbefund:

Tonus noch im Normbereich, Kraft allseits KG 4; Feinmotilität verlangsamt, keine sichere Ataxie; herabgesetztes Berührungsempfinden an den oberen Extremitäten speziell im Fingerbereich; stärker noch ist das Temperatur- und Schmerzempfinden reduziert; an den unteren Extremitäten werden Vibrationsreize nicht wahrgenommen, an den O.E. schwach; die Eigenreflexe sind mit Ausnahme der ASR rechts lebhaft, ASR sind beidseits nur schwach auslösbar- keine Pyramidenbahnzeichen;

verlangsamtes unsicheres Gangbild, Hilfsmittel (Stock) notwendig

Fatiguesymptomatik wird geschildert,

ZUSAMMENFASEND wurde bei der Patientin vor vielen Jahren eine Multiple Sklerose diagnostiziert. Bezüglich Labor ist auffällig, dass die Patientin initial 100 1/3 Zellen hatte, dies ist für eine MS atypisch, es wurde aber keine bessere Erklärung gefunden.

Der Verlauf ist chronisch progredient;

[…]

Bei der Patientin liegt eine erhebliche Mobilitätseinschränkung mit reduzierter Gehstrecke und Sturzgefahr vor. […] die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist ihr nicht zumutbar.“

7. Im Gefolge der Stellungnahmen der BF und der vorgelegten Befunde holte das SMS ein weiteres Sachverständigengutachten ein und wurde die BF am 10.11.2020 von Dr. A. K., Facharzt für Neurologie und Arzt für Allgemeinmedizin, untersucht.

Eingangs führte Dr. A. K. in seinem am 25.11.2020 erstellten Gutachten auszugweise wie folgt aus:

„Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Dr. A., FA für Neurologie, 29.07.2020.

Klinischer Status: Tonus noch im Normbereich, Kraft allseits KG 4; Feinmotilität verlangsamt, keine sichere Ataxie.

Herabgesetztes Berührungsempfinden an den oberen Extremitäten.

Verlangsamtes unsicheres Gangbild, Hilfsmittel (Stock) notwendig. Fatiguesmyptomatik wird geschildert.

[…]

Prüfung der Koordination:

Finger-Nase und Knie-Hacke-Versuch beidseits zielsicher, kein Hinweis für Ataxie.

Eudiadochkinese

Unterberger Tretversuch unauffällig.

Gesamtmobilität – Gangbild:

Romberg unsicher mit Schwanktendenz. Erhaltene posturale Stabilität im Push-und-Pull Test. Einbeinstand und Zehen- bzw. Fersenstand bds. mit anhalten möglich. Verlagsamtes, etwas unsicheres Gangbild unter Verwendung eines Einpunktstockes bzw. umgearbeiteten Regenschirmes.“

Als Ergebnis der durchgeführten Begutachtung wurde sodann zusammengefasst wie folgt festgehalten:

Lfd. Nr.

Funktionseinschränkung

Position

GdB

01

Multiple Sklerose

Lediglich sensible Ausfallssymptome, keine Lähmungserscheinungen, keine Ataxie, keine Hirnstammsymptome.

04.08.01

30 vH

02

Schwerhörigkeit

Dem Vorgutachten folgend, keine neuen Befunde vorliegend.

12.02.01

10 vH

 

Gesamtgrad der Behinderung

30 vH

 

Im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde wie folgt ausgeführt: „Trotz der von der Antragstellerin angegebenen Unsicherheit bzw. Schwäche kann eine Wegstrecke von 300 - 400 Meter selbstständig, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Einpunktstockes bzw. einer anderen Gehilfe, zurückgelegt werden. Neurologisch liegen keine Lähmungserscheinungen vor, ebenfalls keine Hinweise für eine Ataxie oder sonstige objektivierbare neurologische Ausfallssymptomatik. Es besteht eine ausreichende Fähigkeit zur Selbstabsicherung während des Transportes. Von psychischer Seite bestehen keine Einschränkungen im Bezug auf die Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel.“

8. Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 26.11.2020 sprach das SMS aus, dass die BF mit einem Grad der Behinderung von 30 vH die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht erfülle; ihr Antrag vom 20.12.2019 sei daher abzuweisen.

Neben der Zitierung der rechtlichen Grundlagen (§§ 40, 41 und 45 BBG) wurde nochmals betont, dass laut eingeholtem Gutachten bei der BF lediglich ein Grad der Behinderung in Höhe von 30 vH vorliege. Das dem Bescheid beiliegende und einen Teil der Begründung bildende Sachverständigengutachten sei als schlüssig erkannt und der Entscheidung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zugrunde gelegt worden. Aufgrund der Stellungnahme der BF vom 7.7.2020 sei das medizinische Beweisverfahren nochmals eröffnet worden. Beigelegt wurde das Gutachten von Dr. A. K. vom 25.11.2020.

9. Mit Schreiben vom 2.1.2021 erhob die BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des SMS vom 26.11.2020.

Darin bemängelte sie eingangs, dass die Untersuchung am 10.11.2020 nur 20 Minuten gedauert habe und dass gerade bei MS die Beschwerden höchst unterschiedlich seien und sich rasch ändern würden. In weiterer Folge trat sie diversen Ausführungen von Dr. A. K. – etwa im Hinblick auf ihre Koordination und Gangsicherheit – näher entgegen und merkte an, dass auch massive Sprachprobleme und Sehstörungen auftreten würden. Dr. W. A. habe in seinem Gutachten vom 29.7.2020 im Übrigen klar festgehalten, dass der BF die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei. Laut ihrem Ohrenarzt betrage ihre Hörverminderung nicht 10%, sondern 30%. Wenn Dr. A. K. ausführe, die BF leide an keinen Lähmungen, so sei dies darauf zurückzuführen, dass eine Lähmung ihrer Ansicht nach nur vorliege, wenn sie sich nicht mehr bewegen könne, aber nicht das eigenartig „bamstige – gefühllose Empfinden“. Es sei ihr nicht einmal möglich, ein Smartphone zu bedienen, da sie keine entsprechenden Empfindungen in ihren Händen mehr habe. Zudem bereite ihr ihre immer wiederkehrende Blasenfunktionsstörung große Probleme; außerdem seien 2017 30cm ihres Dickdarms entfernt worden. Sie suche ständig nach einem WC und habe immer Reservekleidung bei sich.

Beigelegt wurden von der BF – neben dem bereits vorgelegten Befund von Dr. W. A. vom 29.7.2020 - ein Koloskopie-Befund vom 12.11.2018 (Sigmaresektion 2017) sowie ein Tonaudiogramm vom 12.4.2020.

10. Mit Aktenvermerk vom 12.1.2021 hielt das SMS fest, dass die „Gutachten mit 30 % bei MS und vorliegender Bestätigung des Neurologen Dr. A. nicht nachvollziehbar“ seien; da aber bereits zwei Gutachten vorliegen würden und kein weiterer Befund vorgelegt worden sei, erfolge eine Weiterleitung an das BVwG.

11. Am 13.1.2021 legte das SMS den Akt dem BVwG vor und wies anlässlich der Beschwerdevorlage ausdrücklich darauf hin, dass die „Gutachten mit 30 % bei MS und vorliegender Bestätigung des Neurologen Dr. A. nicht nachvollziehbar“ seien; da aber bereits zwei Gutachten vorliegen würden und kein weiterer Befund vorgelegt worden sei, erfolge die Beschwerdevorlage an das BVwG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der referierte Verfahrensgang wird als relevanter Sachverhalt festgestellt.

2. Beweiswürdigung:

Der Sachverhalt ergibt sich unmittelbar aus dem Akteninhalt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Zurückverweisung

3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gemäß § 45 Abs 4 BBG hat bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs 3 eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

Gegenständlich liegt somit die Zuständigkeit eines Senats vor.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gem. § 28 Abs 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 28 VwGVG lautet auszugsweise:

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

[...]

3.2. Im konkreten Fall bedeutet dies:

Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das SMS selbst anlässlich der Beschwerdevorlage ausdrücklich darauf hinwiest, dass die (vom SMS eingeholten) „Gutachten mit 30 % bei MS und vorliegender Bestätigung des Neurologen Dr. A. nicht nachvollziehbar“ seien; da jedoch bereits zwei vom SMS eingeholte Gutachten vorliegen würden, erfolge dessen ungeachtet eine Vorlage an das BVwG. Insofern bringt damit aber bereits das SMS zum Ausdruck, dass gegenständlich kein brauchbarer Sachverhalt vorliegt.

Diese Einschätzung des SMS erweist sich im Übrigen bei näherer Betrachtung als zutreffend: Das Hauptleiden der BF ist unbestritten eine Multiple Sklerose (MS). Diesbezüglich wurde im Auftrag des SMS zunächst ein Gutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin erstellt (Gutachten vom 26.5.2020), in dem bei der BF (lediglich) Funktionseinschränkungen leichten Grades (Positionsnummer 04.08.01 mit 30%) festgestellt wurden. Die BF legte sodann einen Befund von Dr. W. A., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 29.7.2020 vor, in dem auszugsweise von „Sensibilitätsstörung in den Beinen, auch in den Armen; Schwäche in den Beinen mit Gangstörung; neurogener Blasenentleerungsstörung mit Urge und fallweiser Inkontinenz, herabgesetztem Berührungsempfinden an den oberen Extremitäten speziell im Fingerbereich; verlangsamtem unsicheren Gangbild, einer erheblichen Mobilitätseinschränkung mit reduzierter Gehstrecke und Sturzgefahr“ gesprochen wird.

Daraufhin wurde die BF im Auftrag des SMS nochmals untersucht und wurde am 25.11.2020 von Dr. A. K., Facharzt für Neurologie, ein weiteres Gutachten erstellt. In diesem Gutachten wird zwar darauf hingewiesen, dass der „neu mitgebrachte Facharztbefund [gemeint: der von der BF vorgelegte Befund von Dr. W. A. vom 29.7.2020] gewürdigt und in die Einschätzung mit einbezogen wird“; dennoch stimmt das Gutachten vom 25.11.2020 im Wesentlichen mit dem Erstgutachten vom 26.5.2020 überein und wird darin in keiner Weise konkret auf den Befund vom 29.7.2020 eingegangen, in dem die Leiden der BF als deutlich schwerer beschrieben werden. So wäre eine Einschätzung nach Position 04.08.01 mit 30% nur dann zutreffend, wenn lediglich „leichte Sensibilitätsstörungen bzw. minimale feinmotorische Defizite“ vorliegen würden, sodass eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem von der BF vorgelegten Befund geboten wäre, in dem Gegenteiliges (vgl. „Sensibilitätsstörung in den Beinen, auch in den Armen; Schwäche in den Beinen mit Gangstörung“) ausgeführt wird. Hinzu kommt beispielsweise, dass im Befund vom 29.7.2020 von „fallweiser Inkontinenz“ gesprochen wird (wobei auch im Gutachten vom 10.11.2020 darauf hingewiesen wird, dass die BF von „fallweiser Blasenschwäche“ spricht, ohne dass dies in weiterer Folge bei der Einschätzung erwähnt wird). Dies ist insofern von Relevanz, als die „fallweise Inkontinenz“ ausdrücklich in Positionsnummer 04.08.02 im Rahmen einer Funktionseinschränkung mittleren Grades (50%) genannt wird.

Dem BVwG liegt somit kein brauchbarer Sachverhalt im Sinne der Erkenntnisse des VwGH vom 10.09.2014, Zl. Ra 2014/08/0005 und vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063, vor. Im Übrigen steht der gegenständlichen Entscheidung auch § 28 Abs 2 Z 2 VwGVG nicht entgegen, zumal das SMS die erforderlichen Ermittlungsschritte und damit die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes rascher und nicht mit höheren Kosten als das BVwG bewerkstelligen wird können. Das SMS wird im Folgeverfahren somit ein weiteres Gutachten einzuholen haben, das sich schlüssig und nachvollziehbar – insbesondere auch unter konkreter Würdigung des neurologischen Befundes vom 29.7.2020 – mit den Funktionseinschränkungen der BF auseinandersetzt.

Aus den dargestellten Gründen war spruchgemäß mit einer Behebung und Zurückverweisung vorzugehen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gemäß Art 133 Abs 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, da es zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verwaltungsgericht kassatorisch entscheiden darf, eine klare und aktuelle (siehe insbesondere die Erkenntnisse des VwGH vom 10.09.2014, Zl. Ra 2014/08/0005 und vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063) höchstgerichtliche Rechtsprechung gibt.

Absehen von einer Beschwerdeverhandlung:

Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG kann eine Verhandlung entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist, oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist. Aufgrund der Aufhebung des angefochtenen Bescheides konnte eine Verhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:L503.2238560.1.00

Im RIS seit

18.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.08.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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