TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/25 W105 2116634-2

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Veröffentlicht am 25.05.2021
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Entscheidungsdatum

25.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W105 2116634-2/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan vertreten durch die BBU GmbH (Mag. Elsa WESSELY), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.11.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 8 Abs. 4, 9 Abs 1 Z. 1, 9 Abs. 4, 57, 10 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG und §§ 55 Abs. 1-3 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: „BF“) reiste spätestens am 12.03.2013 als Minderjähriger illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.03.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 13.03.2013 wurde der BF von Beamten der LPD Burgenland einer Erstbefragung unterzogen.

3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „BFA“) vom 08.10.2015, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF vom 12.03.2013 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde dem BF gemäß § 8 Absatz 4 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, erstmals bis zum 07.06.2016 erteilt.

Begründend wurde ausgeführt, dass dem BF subsidiärer Schutz werde, da seine Ausführungen wie auch die Berücksichtigung individueller, ihn treffender Faktoren (Alter, Bildungsgrad, Berufsausübung, Volksgruppe, Anknüpfungspunkte etc.) und die derzeitige Lage in Afghanistan die Behörde zum Schluss kommen lassen würde, dass in seinem Fall die Kriterien für eine ausweglose Lage derzeit (noch) vorliegen würden, ihm objektiv gesehen somit die Lebensgrundlage in seinem Herkunftsstaat entzogen sei.

4. Der BF erhob gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 08.10.2015, Zl. XXXX , fristgerecht eine Beschwerde.

5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (im Folgenden: „BVwG“) vom 21.06.2017, Zl. XXXX , wurde die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

5. Mit Bescheid des BFA vom 13.12.2018, Zl. Zl. XXXX wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 07.10.2020 verlängert.

6. Infolge einer dem BFA bekannt gewordenen Reisebewegung des BF nach Pakistan wurde dieser am 27.05.2020 vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.

Im Rahmen dieser Einvernahme gab er zusammenfassend an, dass der Grund für seine Reise nach Pakistan ein Besuch bei seiner Mutter sowie die Heirat mit seiner nunmehrigen Ehegattin gewesen sei. Er sei zur Zeit beim AMS gemeldet und könne nun wegen Corona keine Arbeit finden. Er habe im Jahr 2019 bei der Leihfirma DHG gearbeitet und bei der Lederfirma Wollsdorf.

7. Am 18.09.2020 langte erneut ein Verlängerungsantrag der befristeten Aufenthaltsberechtigung des BF bei der Behörde ein.

8. Am 19.10.2020 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen dieser Einvernahme gab der BF an, dass er gesund sei. Er habe manchmal psychische Schwierigkeiten, aber er habe keine andere Wahl. Seine Frau und seine Tochter würden in Jalalabad gemeinsam mit seiner Mutter leben. Sein Onkel mütterlicherseits lebe in der Nähe. Er arbeite teilweise in seiner Leihfirma und erhalte, wenn er Glück habe, zwischen € 600,00 und € 800,00. Er spreche täglich über das Handy mit seiner Frau, manchmal auch mit seiner Mutter. Er sei mittlerweile Vater einer Tochter geworden, seine Frau lebe in Afghanistan. Derzeit sei er in keinem Verein Mitglied. Nach Afghanistan könne er nicht, weil es dort keine Arbeit gebe. Die Leute hätten nicht einmal Geld für Essen.

Im Rahmen der Einvernahme wurde der BF darüber informiert, dass ein rechtsverbindliches Aberkennungsverfahren gem. § 9 Abs. 2 AsylG gegen ihn eingeleitet würde.

9. Mit gegenständlichem Bescheid vom 16.11.2020, Zl. XXXX , wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 18.09.2020 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen, unter Spruchteil II. der mit Bescheid des BFA vom 08.10.2015, Zl. XXXX , zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 9 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt, unter Spruchteil III. die mit Bescheid des BFA vom 13.12.2018, Zl. XXXX erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 entzogen, unter Spruchteil IV. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, unter Spruchteil V. gemäß § 10 Abs. 1 Z. 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 4 FPG erlassen, unter Spruchpunkt VI. die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG für zulässig erklärt und unter Spruchpunkt VII. gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen Frist gelegt.

Begründend wurde ausgeführt, dass die Gründe für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes das Fehlen einer innerstaatlichen Fluchtalternative zum Entscheidungszeitpunkt sowie mitausschlaggebend das Alter des BF gewesen sei, da er gerade erst die Volljährigkeit erreicht hätte sowie die mangelnde Erfahrung im Berufsleben gewesen wäre. Die Lage in Afghanistan und seine persönliche Reife hätten sich seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes am 08.10.2015 und besonders seit der letzten Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung am 13.12.2018 stetig zum Positiven verändert. Er sei nunmehr ein selbständiger, junger und gesunder Mann, der beweisen habe können, dass er sein Leben selbst organisieren könne. Er sei in Afghanistan aufgewachsen, sei mit den in seinem Heimatland herrschenden Sitten und Gesetzen vertraut. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei ihm als afghanischem Staatsbürger durch die Unterstützung und Hilfestellungen von gemeinnützigen Organisationen vor Ort möglich. Von einer finanziellen Unterstützung durch seine in Afghanistan lebende Familie sei auszugehen. In Österreich habe in seinem Fall kein berücksichtigungswürdiges Privat- oder Familienleben festgestellt werden können. Es hätten keine aktiven, von ihm ausgehenden Integrationsschritte festgestellt werden könne.

10. Mit Verfahrensanordnung vom 16.11.2020 wurde dem BF ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

11. Mit Schriftsatz vom 14.12.2020 wurde seitens des vormaligen Rechtsberaters des BF fristgerecht gegen den gegenständlichen Bescheid Beschwerde erhoben und im Wesentlichen ausgeführt, dass die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Falle des BF unberechtigt sei, da die Gründe zur Gewährung des subsidiär Schutzberechtigten nach wie vor bestehen würden. Aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage in den afghanischen Städten und der persönlichen Situation des BF seien die Voraussetzungen für eine zumutbare interne Schutz- und Fluchtalternative nicht gegeben. Insbesondere aufgrund der angespannten und dramatischen Situation iVm Covid-19 würde der BF im Falle eine Abschiebung nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Lebensgrundlage vorfinden. Ausgehend davon, dass der BF seit über 5 Jahren in Österreich lebe, gut integriert sei und die österreichische Kultur schätze sowie seit ein paar Wochen bei der Firma „Cinnamon Österreich in Graz arbeite, müsse ihm daher eine Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG 2005 erteilt werden.

12. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 18.12.2020 beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: „BVwG“) ein.

13. Mit Verfügung vom 03.02.2021 wurde vom BVwG für den 09.03.2021 eine mündliche Verhandlung anberaumt.

14. Mit Verfügung vom 05.02.2021 wurden dem BF das aktuelle LIB zur Situation in Afghanistan vom 16.12.2020, die UNHCR-Guidelines Afghanistan vom 30.08.2018 sowie der EASO Bericht v. 20.04.2019 übermittelt und wurde ihm eine Frist von zwei Wochen zur Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme gewährt.

15. Am 09.03.2021 fand vor dem BVwG unter der Beiziehung eines Dolmetschers für Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der BF, sein bevollmächtigter Vertreter teilnahmen. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil.

Das Beschwerderechtsgespräch gestaltete sich wie folgt:

[…] R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?

BF: Mir geht es gut.

II. Zum Verfahren vor dem BFA:

R: Sie wurden bereits beim BFA niederschriftlich einvernommen. Haben Sie dort immer die Wahrheit gesagt oder möchten Sie etwas richtigstellen?

BF: Ich habe die Wahrheit angegeben.

R: Wurden Ihnen die Niederschriften, die im Rahmen der Befragung vor dem BFA im Zuge Ihrer Einvernahme mit Ihnen aufgenommen haben, rückübersetzt?

BF: Ja.

III. Zur persönlichen Situation des BF:

a) in Österreich:

R: Habe Sie in Österreich familiäre Bindungen?

BF: Nein.

R: Können Sie angeben, wovon Sie leben?

BF: Ich habe bei einer Postfirma gearbeitet.

R: Erklären Sie mir bitte, was damit genau gemeint ist?

BF: Ausladen und aufladen von Kartons auf LKWs.

R: Sie sind seit 2013 im Bundesgebiet und wurde Ihnen mit Bescheid vom 08.10.2015 subsidiärer Schutz zuerkannt. In der ersten Zeit bzw. über mehrere Jahre hinweg haben Sie von der Grundversorgung oder später anderer Form der Sozialhilfe gelebt. Stimmt das?

BF: Ja.

R: In welchem Lebensalter haben Sie Afghanistan verlassen?

BF: Ich war ca. 13 Jahre alt als ich nach Österreich kam. Ich bin im Jahr 2013 nach Österreich eingereist.

R: Wann sind Sie geboren?

BF: XXXX . Ich kenne mein Geburtsdatum nicht, ich war jedenfalls bei der Einreise sehr jung. Ich war ca. drei Jahre vor der Einreise in Griechenland und den Rest der Zeit unterwegs nach Österreich. Ich war ca. 16 als ich dann nach Österreich eingereist bin.

R. Hatten Sie ab 2013 bis zuletzt Kontakt mit Ihrer Familie in Afghanistan?

BF: Ja, zwischendurch hat das Telefon nicht funktioniert aber ich hatte Kontakt. Ihre Situation dort ist sehr schlecht. Früher hatte ich Kontakt.

R: Sie sind offenbar bei Ihrer Einreise auf den Luftwegen im Februar 2020 in Wien Schwechat aufgehalten worden und man hat bei Ihnen abgesehen von ihren österreichischen Fremdenpass einem ausgestellten pakistanischen Visum festgestellt. Was sagen Sie dazu?

BF: Ich war dort um meine Mutter zu besuchen, meine Mutter ist krank und sie ist dort gewesen aufgrund der medizinischen Behandlung. Sie ist Diabetikerin. Sie bleibt dann dort bei meiner Tante also Ihrer Schwester. Dort habe ich meine Mutter besucht, deshalb das Visum.

R: Sie sind also nach Pakistan gereist um Ihre kranke Mutter zu sehen, ist das so?

BF: Abgesehen davon hat meine Mutter meine jetzige Ehefrau mitgenommen und ich habe dort geheiratet und habe mittlerweile eine Tochter bekommen. Ich würde gerne meine Frau hierherholen.

R: Aus welcher Region stammen Sie?

BF: Aus der Provinz Nangarhar, aus Jalalabad.

R: Ihr Vater und Ihre Geschwister leben nach wie vor dort?

BF: Mein Vater ist verstorben.

R: Wer lebt noch dort?

BF: Meine Mutter, meine Frau und meine Tochter und mein kleiner Bruder und meine Schwester.

R: Wovon lebt Ihr Bruder?

BF: Mein kleiner Bruder verdient ein bisschen Geld mit dem Verkauf von Wasser. Die Finanzielle Lage ist sehr schlecht.

R: Sie wurden am 27.01.2017 von einer Kollegin befragt und haben niederschriftlich ausgesagt, Ihr Bruder hatte eine Werkstatt und arbeitet als Mechaniker und reparierte Autos. War das so?

BF: Nein diese Werkstatt gibt es nicht mehr, momentan ist unsere finanzielle Lage sehr schlecht.

R: Welche weiteren Verwandtschaftlichen Bindungen haben Sie?

BF: Es gibt einen Onkel mütterlicherseits, sonst gibt es keinen mehr. Von der Vater Seite gibt es niemanden.

R: Sind Sie in der Stadt oder auf dem Land aufgewachsen?

BF: Ich bin im Distrikt Behsud im Dorf Sarachanaulo geboren.

R: Sind Sie damals alleine geflüchtet?

BF: Ich bin mit meinem Bruder der älter war als ich ausgereist, den habe ich aber im Iran aus den Augen verloren und er ist bis heute verloren.

R: Wie viele Geschwister haben oder hatten Sie insgesamt?

BF: Ich habe eine Schwester und ich habe zwei weitere Brüder.

R: Der verschollene Bruder hatte also die Autowerkstatt?

BF: Nein wir sind insgesamt vier Brüder gewesen. Einer hatte die Werkstatt der ist verstorben, das ist aber lange her, ein zweiter ist verschollen und der jüngste lebt in Nangarhar

R: Wie lange ist es her, dass Ihr Bruder der die Werkstatt hatte verstorben ist?

BF: Ich war damals in Afghanistan als mein Bruder einfach verschwand. Er hat damals Autos repariert und es hat ein Problem mit den Taliban gegeben und danach ist er verschwunden. Aus diesem Grund geht es auch meiner Mutter sehr schlecht.

R: Sie haben bei Gericht am 24.01.2017 unter anderem angegeben, Sie sind Angehörige des „Stammes“ RAOSTAMKHEL. Bedeutet das, dass es eine größere Anzahl an Stammesgenossen gibt?

BF: Ja das stimmt, das Raostamkehl ein großer Stamm ist, aber jeder kümmert sich um sich und sein eigenes Leben. Da gibt es dann niemanden, jeder kümmert sich um sein eigenes Leben.

R: Bedeutet, dass, das in Ihrem Herkunfstdorf Personen existieren, die zu Ihrem Stamm, Clan oder ähnliches gehören?

BF: Stammesangehörige gibt es in meinem Dorf nicht, aber dieser Stamm ist sehr groß und in ganz Afghanistan verstreut, sowie andere Stämme auch.

R: Welche Schulbildung haben Sie genossen?

BF: Sieben Jahre.

R: Haben Sie danach eine Berufsausbildung gehabt?

BF: Nein, es hat keine Möglichkeit mehr gegeben, ich habe in der Landwirtschaft gearbeitet.

R: Können Sie das näher erklären mit der Landwirtschaft?

BF: Einfach für andere Leute die Grundstücke besitzt haben, habe ich auf den Feldern gearbeitet.

R: Wie gut sind Ihre Deutschkenntnisse?

BF: Ja es geht.

R: Was ist das höchste abgeprüfte Sprachniveau?

BF: Ich habe eine Prüfung abgelegt auf dem Niveau von A1, A2 habe ich begonnen aber ich habe nicht weitergemacht, weil ich eine Arbeit gefunden habe.

R: Zu welchem Stamm oder Clan gehört Ihre Ehefrau?

BF: Ich kenne ihren Stamm nicht aber sie ist Dorfbewohnerin und sie wurde von meiner Mutter ausgesucht.

R: Sie haben sich über drei Monate in Pakistan aufgehalten, wovon haben Sie gelebt?

BF: Ich hätte eine Entschädigung von 17.000 Euro erhalten sollen aber ich habe nur 3.000 Euro erhalten. Ich habe auch gearbeitet und Geld gespart und hatte zwischen 8.000 – 9.000 Euro mit und davon haben wir gelebt. Ich habe beim Lidl gearbeitet und dort habe ich 1.900 Euro oder mehr bekommen, wenn ich Überstunden gemacht habe. Wir haben zu dritt in einer Wohnung gelebt und haben uns die Miete geteilt.

R: Zurzeit als Sie nach Pakistan gereist sind haben Sie aber eine Art der Sozialhilfe bezogen, stimmt das?

BF: Ja.

R: Deshalb wurden Sie auch strafrechtlich wegen Betrugs verurteilt?

BF: Mir ist ein Fehler passiert und ich wusste nicht, dass man sich abmelden muss. Ich zahle es aber monatlich zurück.

R. Sie waren offenbar in Österreich in der Lage, sich wirtschaftlich gut durchzubringen indem Sie für verschiedene Firmen gearbeitet haben.

BF: Ja.

R: Für wie viele haben Sie gearbeitet.

Für Lidl, Leder Firma, Magna, eine Postfirma, in der Landwirtschaft, in einem Restaurant als Tellerwäscher.

RV: Er war bei einer Personalvermittlungsfirma angestellt.

BF: Nein, man bekommt diese Jobs vom AMS. Es stimmt ich habe auch über eine Leiharbeitsfirma Jobs erhalten aber die anderen habe ich über das AMS bekommen.

R: Sie haben also in verschiedene Branchen hineinschnuppern können?

BF: Ja.

RV: Er hat es ohne hingesagt, es waren immer sehr einfache Tätigkeiten als Hilfsarbeiter oder Produktionsmitarbeiter.

R: Sie haben heute eine Mitgliedsbestätigung eines Sportclubs beigebracht, gibt es noch anderer Formen einer solchen Integration Ihrerseits. Nehmen Sie sonst am österreichischen Leben teil.

BF: Ich spiele auch mit anderen Burschen aus verschiedenen Nationalitäten Fußball, wir spielen dort Handball, Fußball und Volleyball ansonsten nichts.

R: Haben Sie da auch viele Freunde gewonnen?

BF: Ja, durch Fußball habe ich verschiedene Leute aus verschiedenen Nationalitäten kennengelernt.

R: Haben Sie beispielsweise eine enge Freundschaft zu einem Österreicher oder zu einer Österreicherin entwickelt.

BF: Handball spiele ich rein mit vier Österreicherinnen.

R: Sprechen Sie auch Dari?

BF: Ein wenig.

R: Sprechen Sie noch eine andere afghanische Sprache?

BF: Es gibt dort auch anderer Leute aber in meiner Herkunftsregion sprechen die meisten Paschtu.

R: Wurden Sie schon Covid-19 geimpft?

BF: Nein nur getestet. Ich gehe testen.

RV: Könnte Ihre Familie in Afghanistan Sie finanziell unterstützen?

BF: Meine Familie kann mir auf keinen Fall helfen.

RV: Könnte die Familie Ihrer Frau Sie unterstützen?

BF: Nein, sie sind noch ärmer als wir.

Es wird um eine Frist für eine Woche ersucht. […]

16. Mit Stellungnahme vom 16.03.2021 brachte der BF durch seine bevollmächtigte Vertretung ergänzend vor, dass eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nur bei einer wesentlichen und nicht bloß vorübergehenden Verbesserung der Lage zulässig sei. Weder die subjektive Lage des BF noch die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan hätten sich seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Jahr 2015 bzw. seit der letzten Verlängerung im Jahr 2018 derart verbessert, dass dies eine Aberkennung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Im Gegenteil habe sich die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Laufe des vergangenen Jahres aufgrund der Covid-19 Pandemie sogar verschlechtert. Er sei selbsterhaltungsfähig und befinde sich seit über 8 Jahren im Bundesgebiet. Er sei seit Februar 2021 bei der Firma „Adecco“ unbefristet angestellt. Zudem habe er in der österreichischen Gesellschaft Fuß gefasst und spiele regelmäßig im Verein Cricket und auch mit österreichischen Frauen Handball. Im Falle einer Aberkennung des subsidiären Schutzes wäre ihm ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten zu erteilen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist Staatsbürger von Afghanistan, wurde am XXXX in der Provinz Nangarhar geboren, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem.

Er hat eine siebenjährige Schulbildung und spricht Paschtu. Der BF hat Arbeitserfahrung als Automechaniker und in der Landwirtschaft. Die Mutter des BF, seine Ehegattin, seine Tochter sowie sein Bruder und seine Schwester wie auch ein Onkel mütterlicherseits leben nach wie vor in Nangarhar.

Der BF ist gesund.

Der BF wurde in Österreich wie folgt rechtskräftig verurteilt:

1.       Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 29.01.2015, Zl. XXXX , wegen § 15 StGB § 269 (1) 1. Fall StGB, zu einer Freiheitsstrafe von 6 Wochen bedingt unter einer Probezeit von drei Jahren

2.       Mit Urteil des LG für Strafsachen Graz vom 24.08.2015, Zl. XXXX , wegen § 15 StGB, § 105 StGB, § 106 StGB (1) Z 3 1. Fall, 105 (1) StGB, zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten bedingt unter einer Probezeit von 3 Jahren

3.       Mit Urteil des BG Graz-West vom 05.11.2015, Zl. XXXX , wegen §§ 27 (1) Z. 1 2. Fall, 27 (1) Z. 1 6. Fall SMG, zu einer Freiheitsstrafe von 1 Monat bedingt unter einer Probezeit von 3 Jahren

4.       Mit Urteil des BG Graz-West vom 16.10.2020, Zl. XXXX , wegen § 146 StGB, zu einer Freiheitsstrafe bedingt unter einer Probezeit von 3 Jahren

Gegen den BF wurde weiters zur Zl. XXXX , seitens der Staatsanwaltschaft Graz Anklage wegen § 83 StGB erhoben, worüber das BFA am 09.03.2021 seitens der anklageerhebenden Behörde informiert wurde.

Der BF ist seit Februar 2021 über das Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen ADECCO bei der Österreichischen Post AG für 30 Wochenstunden zu einem Bruttostundenlohn von € 10,39 angestellt und daher selbsterhaltungsfähig. Er bezog bis 01.03.2019 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er hat grundlegende Deutschkenntnisse erworben, jedoch keine entsprechenden Zertifikate in Vorlage gebracht. Der BF hat in Österreich über eine Personalvermittlungsfirma bereits verschiedentliche Tätigkeiten als Hilfsarbeiter verrichtet. Er ist Mitglied im Verein „Verein JUKUS zur Förderung von Jugend, Kultur und Sport“.

In Österreich führt der BF kein Familienleben.

Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen Folgendes festgestellt:

Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020:

„Covid-19

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

Weitere Produkte der Staatendokumentation zu Afghanistan

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Rasuly-Paleczek Gabriele] (10.2020): Die aktuelle sozioökonomische Lage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038971 /AFGH_THEM_Die+aktuelle+sozio%C3%B6konomische+Lage+in+Afghanistan+%2 8Rasuly-Paleczek%29_2020-09.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Heugl, Katharina] (21.7.2020): Informationen zu sozioökonomischen und sicherheitsrelevanten Faktoren in der Provinz Balkh auf Basis von Interviews im Rahmen der FFM Marrar-e Sharif 2019, https://www.ecoi.net/en/docu ment/2034796.html

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM-Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.h tml

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Latek, Dina] (25.6.2020): Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2032976.html

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Durante, Xenia] (13.6.2019): Analyse der Staatendokumentation: Afghanistan - Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der

Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum November 2018 bis Jänner 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (4.2018): Fact Finding Mission Report Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1430912/5818_1524829439_03-onlineversion.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes- und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA (3.7.2014): Frauen in Afghanistan, https://www. ecoi.net/en/file/local/1216171/4236_1415347452_analy-afgh-frauen-in-afghanistan-2014 -02-07-as.doc

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan

MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM

23.9.2020) .

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher

Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA

12.11.2020) .

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA

12.11.2020) . In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS

12.11.2020) . In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA

30.6.2020) , wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN

17.5.2019) .

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ

21.4.2019) . Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC

17.3.2020) .

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreund

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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