Entscheidungsdatum
31.05.2021Norm
BBG §40Spruch
L511 2231155–1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a JICHA als Vorsitzende und den Richter Dr. DIEHSBACHER sowie den fachkundigen Laienrichter RR PHILIPP als Beisitzer über die Beschwerde XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice Landesstelle Oberösterreich vom 20.12.2019, Zahl: OB XXXX , betreffend Abweisung des Antrags auf Ausstellung eines Behindertenpasses, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und gemäß § 40 iVm § 41 Abs. 1 Bundesbehindertengesetz (BBG) festgestellt, dass der Grad der Behinderung fünfzig von Hundert (50 vH) beträgt und die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses vorliegen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Verfahrensinhalt
1. Verfahren vor dem Sozialministeriumservice [SMS]
1.1. Die Beschwerdeführerin stellte am 29.07.2019 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, sowie für den Fall, dass die Aktenlage die Vornahme von Zusatzeintragungen rechtfertige, die Aufnahme der entsprechenden Zusatzeintragungen in den Behindertenpass (Aktenzahl der elektronisch übermittelten Aktenteile [AZ] 2.6) und legte dazu im Verfahren medizinische Befunde vor (AZ 2.7-2.9).
1.2. Das SMS holte ein Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Orthopädie ein. Dieses Gutachten vom 18.11.2019 wurde auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 28.10.2019 unter Berücksichtigung der vorgelegten Befunde erstattet. Als Ergebnis der Begutachtung wurde die Funktionseinschränkung der entsprechenden Leidensposition nach der Einschätzungsverordnung zugeordnet und ein Gesamtgrad der Behinderung [GdB] 30 v.H. sowie die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel festgestellt (AZ 2.17).
1.3. Mit Bescheid des SMS vom 20.12.2019, Zahl: XXXX , wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 29.07.2019 gemäß §§ 40, 41 und 45 BBG abgewiesen, da sie mit einem Grad der Behinderung von 30 vH die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht erfülle (AZ 2.19).
Begründend verwies das SMS auf die Ergebnisse des Gutachtens vom 18.11.2019, welches als schlüssig erkannt wurde. Das Gutachten wurde als Beilage zum Bescheid übermittelt.
1.4. Mit Schreiben vom 19.02.2020, verbessert durch das Schreiben vom 20.07.2020 (OZ 3) erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde [Bsw] gegen den Bescheid des SMS vom 20.12.2019 (AZ 1.2).
Darin führt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen aus, sie habe große Probleme beim Treppensteigen oder beim Einsteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel, die Beine würden steif werden und sie müsse eine Pause einlegen oder sich festhalten. Bei jedem Aufstehen müsse sie kurz stehen bleiben bevor sie losgehe, um nicht umzufallen. Durch die Schwangerschaft (Geburt des Sohnes am 08.05.2020) habe sich der Zustand verschlechtert, sodass nun auch die Kraft in den Armen schwächer geworden sei.
2. Die belangte Behörde legte dem Bundesverwaltungsgericht [BVwG] am 20.05.2020 die Beschwerde samt Auszügen aus dem Verwaltungsakt in elektronischer Form vor (Ordnungszahl des gegenständlichen Gerichtsaktes OZ 1 [=AZ 1.1-1.3, 2.1 -2.19]).
2.1. Das BVwG holte ein Sachverständigengutachten aus dem Fachbereich der Orthopädie und der orthopädischen Chirurgie ein. Dieses Gutachten vom 04.11.2020 wurde auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin an diesem Tag sowie unter Einbeziehung des Vorgutachtens und der vorgelegten Befunde erstattet. Als Ergebnis der Begutachtung wurde die Funktionseinschränkung der entsprechenden Leidensposition nach der Einschätzungsverordnung zugeordnet und ein GdB von 50 vH festgestellt, sowie die Einholung eines neurologischen Gutachtens angeregt (OZ 5).
Das in der Folge eingeholte Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Neurologie vom 20.02.2021 wurde ebenfalls auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin sowie unter Einbeziehung des Vorgutachtens vom 04.11.2020 und der vorgelegten Befunde erstattet. Als Ergebnis der Begutachtung wurde die Funktionseinschränkung der entsprechenden Leidensposition nach der Einschätzungsverordnung zugeordnet und ein GdB von 50 vH festgestellt sowie die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in Frage gestellt, da die Beschwerdeführerin zu unbestimmten Zeiten nicht in der Lage ist kurze Wegstrecken zurückzulegen, und ein öffentliches Verkehrsmittel sicher zu benutzen (OZ 8).
Das Gesamtgutachten durch einen Facharzt für Allgemeinmedizin vom 27.03.2021 fasste die vorangegangenen Gutachten vom 04.11.2020 und 20.02.2021 ohne weitere Untersuchung der Beschwerdeführerin zusammen und stellte einen GdB von 50 vH fest (AZ 11).
2.2. Mit Parteiengehör vom 01.04.2021, zugestellt am 06.04.2021 im elektronischen Rechtsverkehr an das SMS sowie am 09.04.2021 per Rsa an den Beschwerdeführer, übermittelte das BVwG den Verfahrensparteien die Sachverständigengutachten vom 04.11.2020 (OZ 5), 20.02.2021 (OZ 8) und 27.03.2021 (OZ 11) mit dem Ersuchen um Stellungnahme und dem Hinweis, dass das BVwG beabsichtige, sich auf diese Gutachten zu stützen (OZ 13).
2.3. Keine der Verfahrensparteien nahm dazu Stellung.
II. Zu A) Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. entscheidungswesentliche Feststellungen
1.1. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich wohnhaft und stellte am 29.07.2019 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses.
1.2. Bei der Beschwerdeführerin besteht folgende Funktionseinschränkung, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern wird:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktions-einschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos.Nr.
Gdb %
1
Proxymal betonte myotone Muskeldystrophie Typ II (Ricker)
02.02.03
50
1.3. Der Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin beträgt 50 vH.
1.4. Die weiteren Leiden haben keine zusätzlichen negativen Auswirkungen und erreichen keinen Grad der Behinderung: leichtgradige depressive Verstimmung; Blinddarmoperation 2008; Operation des grauen Stars 2018; Currettage 2016; Kaiserschnitt 2020.
1.5. Es handelt sich um einen Dauerzustand.
2. Beweisaufnahme und Beweiswürdigung
2.1. Die Beweisaufnahme erfolgte durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Auszüge aus dem Verwaltungsverfahrensakt (OZ 1), aus denen sich auch der unter I. dargelegte Verfahrensgang ergibt. Zur Entscheidungsfindung wurden vom BVwG insbesondere folgende Unterlagen herangezogen:
? Sachverständigengutachten vom 04.11.2020 (OZ 5), 20.02.2021 (OZ 8) und 27.03.2021 (OZ 11)
? Beschwerde vom 19.02.2020 (AZ 1.2)
? Aufenthaltskarte Daueraufenthalt EU (AZ 2.11)
? Einsicht in das Zentrale Melderegister ZMR
2.2. Beweiswürdigung
2.2.1. Die allgemeinen Feststellungen (Punkt 1.1.) ergeben sich aus der Antragstellung und dem ZMR und sind unstrittig (AZ 2.6, AZ 2.11, OZ 1).
2.2.2. Im Hinblick auf die festgestellten Funktionseinschränkungen, deren Ausmaß, medizinische Einschätzung und deren Dauer, sowie der Gesamtgrad der Behinderung (Punkt 1.2.-1.4.) folgt der entscheidende Senat den Ausführungen in den aktuellen Gutachten, insbesondere aus dem Fachgebiet der Neurologie vom 20.02.2021 (OZ 8).
2.2.2.1. Es kommt im Vergleich zum vom SMS eingeholten orthopädischen Gutachten vom 18.11.2019 zu einer höheren Einschätzung des GdB, da es die zwischenzeitig eingetretene Verschlechterung der Gangmobilität der Beschwerdeführerin berücksichtigt. Der GdB im Ausmaß von 50 vH wurde von den drei vom Bundesverwaltungsgericht in Auftrag gegebenen Gutachten übereinstimmend festgestellt. Die Gutachten wurden alle nach der Entbindung des Sohnes der Beschwerdeführerin erstellt und berücksichtigen daher die während der Schwangerschaft eingetretene Verschlechterung ihres Gesamtzustandes. Die Erhöhung des GdB um 20 vH ergibt sich daraus, dass die Beschwerdeführerin langsam und unsicher geht, es ihr deutlich an Kraft beim Aufrichten aus der Hocke sowie beim Aufstehen von einem Sessel fehlt. Es liegen bei der Beschwerdeführerin Beeinträchtigungen der Mobilität sowie körperliche Beschwerden vor. Im Rahmen der Schwangerschaft ist es zu einer Verschlechterung der motorischen Symptomatik gekommen. Typisch für die Erkrankung der Beschwerdeführerin ist, dass die motorische Leistungsfähigkeit Schwankungen unterliegt. Die Feststellungen in den Gutachten sind nachvollziehbar, schlüssig, in sich widerspruchsfrei und übereinstimmend. Das orthopädische und das neurologische Gutachten basieren auf persönlichen Untersuchungen der Beschwerdeführerin. Die Gutachten berücksichtigen alle vorgelegten Befunde und die jeweiligen Vorgutachten (AZ 2.7-2.9; OZ 5, 8) und stehen weder mit diesen, noch mit dem Gutachten aus dem Fachgebiet der Orthopädie vom 18.11.2019 (AZ 2.17) in Widerspruch (vgl. dazu VwGH 26.02.2016, Ro2014/03/0004). Auch die Subsumtion unter die Positionsnummer der Einschätzungsverordnung ist nachvollziehbar.
2.2.3. Weder die Beschwerdeführerin noch das SMS sind den Feststellungen der aktuellen Gutachten oder der Subsumtion unter die Positionsnummer entgegengetreten (OZ 13). Zumal das Gutachten auch den erforderlichen Kriterien der Rechtsprechung entspricht und auch sonst keine Hinweise dahingehend hervorgekommen sind, dass die Beurteilungen im Gutachten nicht richtig wären, legt der erkennende Senat die im Gutachten getroffenen Feststellungen der rechtlichen Beurteilung zu Grunde.
3. Entfall der mündlichen Verhandlung
3.1. Der Anspruch einer Partei auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist kein absoluter (§ 24 VwGVG unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, [EMRK] noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 [GRC]). Nach der Rechtsprechung des EGMR und ihm folgend des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt unumstritten und nur eine Rechtsfrage zu entscheiden ist oder wenn die Sache keine besondere Komplexität aufweist (vgl. dazu für viele EGMR 12.11.2002, Döry / S, Rn37; VfGH 20.02.2015, B1534; sowie jüngst VwGH 18.12.2018, Ra 2018/03/0132, jeweils mwN).
3.2. Im gegenständlichen Fall ergab sich klar aus der Aktenlage, dass von einer mündlichen Erörterung keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten war. Der sich aus dem Akteninhalt ergebende Sachverhalt basiert zur Gänze aus den der Beschwerdeführerin bekannten vorliegenden Aktenteilen und ist in den entscheidungswesentlichen Punkten weder ergänzungsbedürftig noch erschien er in entscheidenden Punkten als nicht richtig (vgl. dazu VwGH 19.09.2018, Ra2018/11/0145).
4. Rechtliche Beurteilung
4.1.1. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes und die Entscheidung durch Senat ergeben sich aus § 6 Bundesgesetz über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes [BVwGG] iVm § 45 Bundesbehindertengesetz [BBG]. Das Verfahren des Bundesverwaltungsgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) geregelt. Verfahrensgegenständlich sind demnach neben dem VwGVG auch die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, sowie jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen sinngemäß anzuwenden, die das SMS im erstinstanzlichen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (§ 17 VwGVG).
4.1.2. Die Beschwerde gegen den Bescheid ist rechtzeitig und zulässig (§§7, 9 VwGVG).
4.1.3. Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des BBG lauten auszugsweise:
§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.
§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen […].
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpass auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) […] Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn […] ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt (Z3).
(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird. [...]
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
§§ 2 und 3 der Einschätzungsverordnung, BGBl. II 261/2010 idF BGBl. II 251/2012, sehen Folgendes vor:
§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.
(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.
(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.
§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht.
Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.
(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt (Teilstrich 1) oder zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen (Teilstrich 2).
(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.
4.2. Stattgabe der Beschwerde
4.2.1. Die bei der Beschwerdeführerin festgestellte Funktionseinschränkung ist nicht nur vorübergehend, weshalb eine Behinderung im Sinne des § 1 BBG vorliegt. Sie hat den ordentlichen Wohnsitz in Österreich und stellte am 29.07.2019 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, womit die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG erfüllt sind.
4.2.2. Der Grad der Behinderung ist im verfahrensgegenständlichen Fall gemäß § 40 und § 41 Abs. 1 BBG unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen nach der Einschätzungsverordnung einzuschätzen (VwGH 21.06.2017, Ra201 7/11/0040).
Die vom BVwG eingeholten Sachverständigengutachten sind (wie bereits im Zuge der Beweiswürdigung dargelegt) richtig, vollständig und schlüssig und die aktuellen Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin wurden gemäß der Einschätzungsverordnung eingestuft. Der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin beträgt zum Entscheidungszeitpunkt 50 vH und sie erfüllt somit die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG, wonach behinderten Menschen bei Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbstätigkeit von mindestens 50 vH ein Behindertenpass auszustellen ist.
4.2.3. Der Beschwerde ist daher stattzugeben und spruchgemäß festzustellen, dass die Voraussetzungen zur Ausstellung eines Behindertenpasses vorliegen. Das SMS ist gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG an die Rechtsansicht des BVwG gebunden und hat der Beschwerdeführerin ein Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung von 50 vH auszustellen.
4.2.4. Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin auch beantragten Vornahme von Zusatzeintragungen in den Behindertenpass ist festzuhalten, dass der angefochtene Bescheid ausschließlich die Abweisung des Antrags auf Ausstellung eines Behindertenpasses zum Gegenstand hatte.
4.2.4.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist "Sache" des Rechtsmittelverfahrens vor dem Verwaltungsgericht – ungeachtet des durch § 27 VwGVG vorgegebenen Prüfumfangs – jedenfalls nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches der vor dem Verwaltungsgericht belangten Verwaltungsbehörde gebildet hat (vgl. dazu für viele VwGH 30.06.2016, Ra2016/11/0044 RS3 mwN). Aufgrund dieser Beschränkung der Sache des Beschwerdeverfahrens ist das Verwaltungsgericht nicht befugt, über von der Behörde nicht behandelte Anträge abzusprechen. Ebenso wenig darf das Verwaltungsgericht ein zusätzliches Begehren zum Gegenstand seiner Entscheidung machen, welches über den bei der belangten Behörde gestellten und entschiedenen Antrag hinausginge.
4.2.4.2. Das BVwG ist daher verfahrensgegenständlich nicht berechtigt über die Vornahme von Zusatzeintragungen abzusprechen. Der Vollständigkeit halber ist an dieser Stelle auf die diesbezüglichen Ausführungen im Gutachten vom 20.02.2021 hinzuweisen, wonach die Zumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Frage zu stellen ist, da die Beschwerdeführerin zu unbestimmten Zeiten nicht in der Lage ist kurze Wegstrecken zurückzulegen, und ein öffentliches Verkehrsmittel sicher zu benutzen.
III. ad B) Unzulässigkeit der Revision:
Die gegenständliche Entscheidung stützt sich auf eine umfangreiche und einheitliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum BBG. Die angewendeten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes und der Einschätzungsverordnung sind (soweit für den vorliegenden Fall maßgeblich) eindeutig. Zur Unzulässigkeit der Revision bei eindeutiger Rechtslage (trotz fehlender Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes) etwa VwGH 28.05.2014, Ro2014/07/0053. Zur Schlüssigkeit von Gutachten VwGH 27.06.2018, Ra2018/09/0079; 28.06.2017, Ra2017/09/0015; zur Form der Auseinandersetzung mit dem Gutachten insbesondere VwGH 26.02.2016, Ro2014/03/0004. Zum rechtlichen Interesse an einer Feststellung des Grads der Behinderung VwGH 11.11.2015, Ra2014/11/0109. Zur Sache des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht VwGH 31.01.2017, Ra2015/03/0066 mwN und VwGH 30.06.2016, Ra2016/11/0044 RS3 mwN
Der Entfall der mündlichen Verhandlung steht weder mit der Judikatur der Höchstgerichte noch mit der Judikatur des EGMR in Widerspruch, siehe dazu insbesondere VwGH 26.01.2017, Ra2016/07/0061 mwN, und es ergeben sich auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage, so dass insgesamt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht vorliegen.
Schlagworte
Behindertenpass Grad der Behinderung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:L511.2231155.1.00Im RIS seit
18.08.2021Zuletzt aktualisiert am
18.08.2021