TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/11 W175 2112014-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.06.2021
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Entscheidungsdatum

11.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §9
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53
FPG §55

Spruch


W175 2112014-2/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Neumann als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.02.2019, Zl. 1046239601-180997875, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.12.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 25.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am selben Tag statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 09.07.2015.

2. Am 07.07.2015 langte ein psychotherapeutischer Bericht der Caritas ein, wonach der BF aufgrund einer Selbstverletzung, seiner depressiven Symptomatik und latenter Suizidgedanken in regelmäßiger Beratung und Behandlung sei.

3. Mit Bescheid vom 28.07.2015 wies das BFA den Antrag des BF sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab und traf eine Rückkehrentscheidung.

4. Gegen diesen Bescheid erhob der BF eine alle Spruchpunkte des Bescheides betreffende Beschwerde. Der BF zog die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 15.02.2016 zurück.

5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.02.2016 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.03.2017 erteilt. Betreffend die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, dass die Eltern des BF verstorben seien. In Afghanistan verfüge der BF über einen Onkel in Kabul, zu dem ein schlechtes Verhältnis bestehe. Darüber hinaus habe der BF noch zwei Tanten und einen Onkel väterlicherseits, deren derzeitiger Aufenthalt dem BF nicht genau bekannt sei. Zu dem noch lebenden Bruder bestehe seit vier Monaten kein Kontakt. Der BF vermute, dass dieser im Iran lebe. Im vorliegenden Fall sei zu berücksichtigen, dass die Sicherheitslage im Heimatdistrikt des BF immer prekärer werde, als es seit dem Jahr 2011 immer wieder zu Zusammenstößen zwischen der Nationalarmee und den Taliban komme, wobei sich dabei die Nationalarmee immer wieder zurückziehe. Außerdem sei im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass der BF in der Provinz Parwan geboren, dort aufgewachsen und während seines Aufenthaltes in Afghanistan ausschließlich in dieser Provinz gelebt habe. Hinzu komme, dass die Eltern des BF bereits verstorben seien und der Aufenthalt des Bruders des BF unbekannt sei. Abgesehen davon, dass der BF auch nicht über den aktuellen Aufenthaltsort seiner Verwandten (zwei Tanten und ein Onkel väterlicherseits) informiert sei, könne von dieser Seite keine Unterstützung des BF angenommen werden, als diese dem BF beziehungsweise dessen Bruder auch nach dem Tod ihrer Eltern weder unterstützt noch geholfen hätten, sodass er auch, zumindest in der Anfangsphase des Aufbaues einer neuen Existenz in Afghanistan, auf kein funktionierendes soziales Netz zurückgreifen könnte. Außerdem verfüge der BF weder über eine entsprechende Schul-, noch über eine Berufsausbildung, sodass er unter Berücksichtigung der Länderberichte in einer derartigen Situation entsprechende Probleme haben könnte, sich eine das Überleben sichernde Existenz aufzubauen. Im gegenständlichen Fall könne daher unter Berücksichtigung der den BF betreffenden individuellen Umstände nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung der oben dargelegten persönlichen Verhältnisse des BF und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Sicherheits- und Versorgungslage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde.

6. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.02.2016 wurde das Verfahren betreffend eine Asylzuerkennung wegen Zurückziehung der Beschwerde eingestellt.

7. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 06.04.2016 wurde der BF wegen § 125 StGB (Vergehen der Sachbeschädigung), § 83 Abs. 1 StGB (Vergehen der Körperverletzung) und § 107
Abs. 1 StGB (Vergehen der gefährlichen Drohung) zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 120 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 60 Tage Ersatzfreiheitsstrafe bedingt nachgesehen, unter Setzung einer Probezeit und Anordnung der Bewährungshilfe verurteilt. Als mildernd wurde die teilweise Geständigkeit, die Provokation, das Alter unter 21 Jahren und die Unbescholtenheit des BF, als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Vergehen gewertet.

8. Mit Bescheid des BFA vom 02.02.2017 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.03.2019 erteilt.

9. Der BF befand sich ab 14.03.2017 in Ersatzfreiheitsstrafe und wurde aus dieser am 14.04.2017 bedingt entlassen (Strafrest 30 Tage).

10. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 31.08.2018 wurde der BF wegen § 125 StGB, § 83 Abs. 1 StGB und § 105 Abs. 1 StGB (Vergehen der Nötigung) zu einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 180 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Die mit Urteil des Landegerichtes gewährte bedingte Strafnachsicht wurde wiederrufen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Als mildernd wurde die teilweise Geständigkeit und das Alter unter 21 Jahren, als erschwerend die einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen von drei Vergehen gewertet.

11. Am 08.01.2019 stellte der BF zuletzt einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.

12. Aus dem Abschlussbericht der LPD vom 17.04.2019 geht hervor, dass gegen den BF und weitere Personen der Verdacht der Vergehen gemäß §§ 83, 84, 91, 105 und 107 StGB (schwere Körperverletzung, Raufhandel, Nötigung, gefährliche Drohung) bestehe. Der BF habe am 20.01.2019 einer Person einen Faustschlag ins Gesicht versetzt, mit einem Messer bedroht und versucht, der Person in den Bauch zu stechen. Der BF sei 2017 wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß §§ 205, 205a StGB, im selbigen Jahr wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß § 83 StGB, ebenfalls im selbigen Jahr wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß
§ 27 SMG, im Jahr 2018 wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß §§ 105, 125 und 83 StGB, im selbigen Jahr wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß § 297 StGB und im Jahr 2019 wegen Verdachtes des Vergehens gemäß § 125 StGB angezeigt worden.

13. Der BF wurde am 22.01.2019 in die Justizanstalt überstellt.

14. Mit Aktenvermerk vom 24.01.2019 hielt das BFA fest, dass sich Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass der BF eine Gefahr für die Sicherheit der Republik und für die Allgemeinheit darstelle. Es sei von der Erfüllung des Tatbestandes des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG auszugehen.

15. Der BF wurde am 31.01.2019 durch das BFA einvernommen. Er gab zusammengefasst an, dass sein Bruder in Afghanistan, Provinz Parwan, lebe und arbeite. Der BF habe alle drei Monate Kontakt zu seinem Bruder. Der Bruder habe keine Probleme. Zu seinem Onkel väterlicherseits in Kabul habe er keinen Kontakt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan werde der BF finanzielle Probleme haben. Sein Bruder könne ihm nicht helfen, da dieser für sich selbst lebe. Zu seinen strafrechtlichen Verurteilungen befragt gab der BF an, nie mit einem Österreicher Probleme gehabt zu haben. Er habe Drogen verkauft und andere Sachen gemacht. Er habe auch Streit gehabt und als man ihn geschlagen habe, habe er zurückgeschlagen. In Österreich habe er rund neun oder zehn Monate auf einer Baustelle gearbeitet. Er habe auf der Baustelle Verputzer gelernt. Dem BF wurde zu Kenntnis gebracht, dass das BFA auch in Verbindung mit einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot erlassen könne. Der BF führte aus, dass er nicht gehen werde, er habe sich hier eingelebt. Sollte er abgeschoben werden, würde er wieder kommen.

Mit Aktenvermerk vom 31.01.2019 hielt das BFA fest, dass der BF den Einvernahmeraum verlassen und gesagt habe, er würde nichts unterschreiben. Die Einvernahmeleiterin habe den BF aufgefordert, zurück in den Einvernahmeraum zu kommen. Der BF habe dies ignoriert und sich auf den Boden im „Vorraum“ gesetzt.

16. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 08.01.2019 wurde abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt III.). Es wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte IV. bis VI.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).

Begründend führte das BFA aus, dass die Voraussetzungen, die zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geführt hätten, nicht mehr vorliegen würden. Die Lage in Afghanistan habe sich dahingehend geändert, dass etliche Reintegrationsprogramme für alleinstehende Personen ohne familiären Anhang bzw. die sich niemals im Herkunftsstaat aufgehalten haben, eingeführt worden seien und seitdem mit Erfolg betrieben werden würden. Zudem haben der BF Kontakt zu seinem Bruder, welcher ebenfalls in Afghanistan (Provinz Parwan) lebe. Auch könne ihn dieser, zumindest anfangs, finanziell unterstützen. Außerdem habe der BF einen Onkel in Kabul. Zudem sei der BF in Österreich zwei Mal strafrechtlich verurteilt worden und seit seiner Einreise nach Österreich sieben Mal angezeigt worden. Der BF habe in Österreich gearbeitet und den Beruf „Verputzer“ erlernt. Dem BF sei der Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der mangelnden Schul- bzw. Berufsausbildung und aufgrund fehlender sozialer Kontakte in Afghanistan zuerkannt worden. Da er nunmehr in Österreich gearbeitet habe und „Verputzer“ gelernt habe, weise er nunmehr eine Berufsausbildung auf, welche er bei einer Rückkehr nach Afghanistan anwenden könne. Außerdem habe der BF alle drei Monate Kontakt zu seinem Bruder, welcher sich in Afghanistan (Provinz Parwan) aufhalten würde. Da der BF damals den Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der mangelnden Schul- beziehungsweise Berufsausbildung und aufgrund dessen, dass er keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan gehabt habe und er dies nun alles erfüllen würde, sei ihm der Schutzstatus abzuerkennen. Außerdem habe der BF einen Onkel in Kabul. Er habe zwar keinen Kontakt mit diesem, habe jedoch vor der Ausreise noch bei diesem übernachtet. Somit könne der BF ohne Probleme wieder seinen Onkel aufsuchen oder seinen Bruder um finanzielle Hilfe bitten. Der BF könne nach Kabul zurückkehren. Darüber hinaus stehe dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif zur Verfügung. Der BF verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde. Betreffend das Einreisverbot wurde ausgeführt, dass der BF bereits zwei Mal gemäß §§ 83, 125 StGB verurteilt worden sei. § 53 Abs. 3 Z 1 FPG sei erfüllt.

17. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Das BFA stütze die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten darauf, dass dem BF der Status ausschließlich aufgrund der mangelnden Schul- und Berufsausbildung wie auch aufgrund des fehlenden sozialen Kontaktes in Afghanistan zuerkannt worden sei. Das BFA gehe nunmehr davon aus, dass der BF eine Berufsausbildung aufweise und in der Heimat über Familienangehörige in Form seines Bruders und Onkels verfüge. Dass sich die Bedrohungslage für Menschen wie den BF in Afghanistan seit seiner Ausreise nicht geändert habe, ergebe sich jedoch aus den Länderfeststellungen. Die Rückkehrbefürchtungen des BF seien daher nachvollziehbar. Er müsse im Falle der Rückkehr mit einer unmenschlichen Behandlung rechnen, da die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor volatil sei. In Afghanistan würden keine effektiven Schutzmechanismen für die Bürger, sich vor Übergriffen militanter und terroristischer Gruppierungen effektiv zu schützen, existieren. Der BF würde daher bei einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten, da kriminelle Terrorgruppen wie die Taliban de facto im gesamten Gebiet Afghanistans straflos vorgehen, terrorisieren und verfolgen würden. Dem BF stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Auch wäre der BF als Rückkehrer aus Europa einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Das BFA habe sich zu wenig und zu oberflächlich mit der persönlichen Lage des BF wie auch mit den Länderberichten befasst. Die Bedrohungslage, aufgrund welcher dem BF im Jahr 2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, bestehe nach wie vor. Die Lage in Afghanistan habe sich nicht verbessert. Auch hätten sich die persönlichen Verhältnisse des BF nicht geändert. Er habe bereits bei der Einvernahme vor dem BFA angegeben, dass nach wie vor kein intensiver Kontakt zu Familienangehörigen in Afghanistan bestehe. Eine Ansiedlung in Kabul sei ihm nicht zumutbar. Der BF verfüge über kein soziales Auffangnetz. Der BF bereue seine in Österreich begangenen Straftaten. Er werde nach seiner Haftentlassung, so schnell wie möglich ins Arbeitsleben einsteigen. Auch habe er in Österreich einige Monate bei verschiedenen Arbeitgebern gearbeitet. Er sei in Österreich tief verwurzelt. Der BF lebe in Österreich seit rund drei Jahren in einer traditionell geschlossenen Ehe mit einer afghanischen Frau, welche in Österreich den Status einer Asylberechtigten habe. Es liege eine Verletzung des Art. 8 EMRK vor. Betreffend das Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass der BF seine Straftaten bereue. Ein zehnjähriges Einreiseverbot erscheine nicht gerechtfertigt.

18. Mit Urteil eines Landegerichtes vom 05.03.2019 wurde der BF wegen § 297 Abs. 1 1. Fall StGB (Vergehen der Verleumdung) zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Als mildernd wurde nichts und als erschwerend die Vorstrafenbelastung und der rasche Rückfall gewertet.

19. Mit Urteil eines Landegerichtes vom 08.05.2019 wurde der BF wegen § 83 Abs. 1 StGB,
§§ 15, 83 Abs. 1 StGB (versuchte Körperverletzung), §§ 15, 84 Abs. 4 StGB (Verbrechern der versuchten schweren Körperverletzung) sowie § 125 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Der BF wurde von der Anklage wegen § 107 Abs. 1 und 2 1. Fall StGB (Vergehen der gefährlichen Drohung) freigesprochen. Als mildernd wurde die teilweise Geständigkeit, der teilweise Versuch und die Provokation, als erschwerend die Vorstrafen und das Zusammentreffen von mehreren Vergehen mit einem Verbrechen gewertet.

20. Mit der Verständigung der Behörde von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft vom 21.05.2019 wurde mitgeteilt, dass das Ermittlungsverfahren gegen den BF wegen § 27 Abs. 2 SMG eingestellt wurde.

21. Mit Schreiben vom 28.05.2019 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die Polizeiinspektion betreffend die im Abschlussbericht vom 17.04.2019 genannten Anzeigen des BF um Mitteilung und Übermittlung der diesbezüglichen Erledigungen der Staatsanwaltschaft beziehungsweise des Strafgerichtes.

22. Mit Schreiben vom 03.07.2019 teilte die LPD dem BFA mit, dass aufgrund des Ersuchens des Bundesverwaltungsgerichtes der Akt an die Behörde abzutreten sei.

23. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 19.09.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der nun zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

24. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 29.06.2018, die UNHCR Guidelines zu Afghanistan von 30.08.2018 und der EASO Bericht Sozioökonomische Kennzahlen vom 20.04.2019 wurden durch das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme am 16.10.2019 in das Verfahren eingebracht.

Eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde für den 03.12.2019 anberaumt.

25. Mit Mail vom 31.10.2019 teilte das BFA mit, dass der BF am 04.11.2019 aus der Haft entlassen werde. Dem BF sei mitgeteilt worden, dass er sich nach Haftentlassung meldepflichtig anmelden müsse.

26. Der BF wurde am 04.11.2019 aus der Haft entlassen.

27. Am 12.11.2019 ersuchte das BFA um Mitteilung, ob der BF die Ladung des Bundesverwaltungsgerichtes übernommen habe. Mit Mail vom 12.11.2019 teilte das Bundesverwaltungsgericht mit, dass die Ladung der rechtlichen Vertretung des BF zugestellt worden sei.

28. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.12.2019 eine mündliche Verhandlung durch. Der BF erschien unentschuldigt nicht zur Verhandlung. Die rechtliche Vertretung des BF teilte mit, dass dieser über die Verhandlung informiert und auch darauf vorbereitet worden sei. Derzeit sei dieser jedoch nicht erreichbar. Der BF habe angegeben, traditionell verheiratet zu sein. Seine Frau sei asylberechtigt und habe ein Kind. Der BF sei derzeit nicht berufstätig. Das Bundesverwaltungsgericht brachte die im Akt einliegenden aktuellen Länderberichte zu Afghanistan ein.

29. Am 06.02.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Abschlussbericht der LPD gegen den BF und weitere Personen wegen des Verdachtes auf Raufhandel, Körperverletzung und Ordnungsstörung ein. Der BF habe am 19.11.2019 seiner obgenannten traditionell verheirateten Ehefrau mehrere Ohrfeigen und Faustschläge ins Gesicht und weiteren Personen Schläge ins Gesicht versetzt. Die Frau des BF habe in ihrer Niederschrift angegeben, dass sich der BF nach Frankreich abgesetzt habe und sich nicht mehr in Österreich aufhalten würde. Der BF sei am Tag nach dem Vorfall zu ihr nach Hause gekommen, habe sie geschlagen und mit dem Umbringen bedroht. Es sei mit dem BFA Rücksprache gehalten worden. Der BF halte sich laut IZR tatsächlich in Frankreich auf. Es habe erhoben werden könne, dass der BF vermutlich auf rechtlichen Wege nicht nach Österreich zurückkehren werde.

30. Mit der Verständigung der Behörde von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft vom 19.02.2020 wurde mitgeteilt, dass das Ermittlungsverfahren gegen den BF und weitere Mitbeschuldigte wegen § 91 StGB (Raufhandel) eingestellt wurde.

31. Mit der Verständigung der Behörde von der Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft vom 24.02.2020 wurde mitgeteilt, dass gegen den BF wegen § 83 Abs. 1 StGB (Körperverletzung) Anklage erhoben wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos. Betreffend die vorgebrachte traditionelle Eheschließung in Österreich und das Kind seiner traditionellen Ehefrau wurden keine Unterlagen vorgelegt.

Er stammt aus dem Dorf Sufi Khel, Dahan-e Estama, Distrikt Shinwari, Provinz Parwan. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Iran, reiste der BF nach Europa.

Der BF besuchte rund vier bis fünf Jahre lang die Schule in Afghanistan. Er arbeitete in Afghanistan für rund fünf bis sechs Jahre als Küchenhilfe/Tellerwäscher, in einem Hotel und für rund ein Jahr als (Bei-)Fahrer.

Die Eltern und ein Bruder des BF sind verstorben. In Afghanistan verfügt er über einen Onkel väterlicherseits in Kabul, zu dem kein Kontakt besteht. Darüber hinaus hat der BF noch zwei Tanten und einen Onkel väterlicherseits in Afghanistan. Diese leben in der Provinz Bamyan; der BF hat keinen Kontakt zu diesen. Überdies leben zwei Onkel des BF im Iran, mit welchen er sich gut versteht.

Ein Bruder des BF lebt und arbeitet in der Heimatprovinz des BF. Zu diesem hat der BF nunmehr wieder alle drei Monate Kontakt.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit der afghanischen Gesellschaft vertraut.

Der BF litt an Schlafstörungen in der JA und nahm Kopfschmerztabletten ein. Ansonsten ist der BF gesund; er leidet an keinen schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen, körperlichen Einschränkungen oder einer Immunschwäche.

1.2. Zur Aberkennung des subsidiären Schutzes:

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.02.2016 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Begründend wurde ausgeführt, dass die Eltern des BF verstorben seien. In Afghanistan verfüge der BF über einen Onkel in Kabul, zu dem ein schlechtes Verhältnis bestehe. Darüber hinaus habe der BF noch zwei Tanten und einen Onkel väterlicherseits in Afghanistan. Der derzeitige Aufenthalt von diesen sei dem BF nicht genau bekannt. Von den Verwandten seien der BF und dessen Bruder nicht unterstützt worden, nachdem ihre Eltern verstorben seien. Zu dem noch lebenden Bruder bestehe seit vier Monaten kein Kontakt. Der BF vermute, dass dieser im Iran lebe. Im vorliegenden Fall sei zu berücksichtigen, dass die Sicherheitslage im Heimatdistrikt des BF immer prekärer werde, als es seit dem Jahr 2011 immer wieder zu Zusammenstößen zwischen der Nationalarmee und den Taliban komme, wobei sich dabei die Nationalarmee immer wieder zurückziehe. Außerdem sei im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass der BF in der Provinz Parwan geboren, dort aufgewachsen und während seines Aufenthaltes in Afghanistan ausschließlich in dieser Provinz gelebt habe. Hinzu komme, dass die Eltern des BF bereits verstorben seien und der Aufenthalt des Bruders des BF unbekannt sei. Abgesehen davon, dass der BF auch nicht über den aktuellen Aufenthaltsort seiner Verwandten (zwei Tanten und ein Onkel väterlicherseits) informiert sei, könne von dieser Seite keine Unterstützung des BF angenommen werden, als diese dem BF beziehungsweise dessen Bruder auch nach dem Tod ihrer Eltern weder unterstützt noch geholfen hätten, sodass er auch, zumindest in der Anfangsphase des Aufbaues einer neuen Existenz in Afghanistan, auf kein funktionierendes soziales Netz zurückgreifen könnte. Außerdem verfüge der BF weder über eine entsprechende Schul-, noch über eine Berufsausbildung, sodass er unter Berücksichtigung der Länderberichte in einer derartigen Situation entsprechende Probleme haben könnte sich eine das Überleben sichernde Existenz aufzubauen. Im gegenständlichen Fall könne daher unter Berücksichtigung der den BF betreffenden individuellen Umstände nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung der oben dargelegten persönlichen Verhältnisse des BF und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Sicherheits- und Versorgungslage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde.

Es wird festgestellt, dass die nunmehrige Aberkennung des subsidiären Schutzes zu Recht erfolgt ist. Die persönliche Situation des BF stellt sich nun anders dar. Der BF befindet sich aufgrund seines nunmehrigen Lebensalters aktuell persönlich nicht mehr in der gleichen (gleich vulnerablen) Lage wie zum Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz und der Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung. In der subjektiven Lage des BF hat sich seit dem Zuerkennungszeitpunkt des Status des subsidiär Schutzberechtigten insofern etwas geändert, als dieser inzwischen in Österreich als Volljähriger Berufserfahrung in einem Imbiss und in der Baubranche gesammelt, laut eigenen Angaben den Beruf des „Verputzers“ erlernt hat und ihm diese Berufserfahrung bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu Gute kommen wird. Überdies hat der BF nunmehr Kontakt zu seinem in der Provinz Parwan aufhältigen und erwerbstätigen Bruder. Der BF kann somit auf sozialen Kontakte in Afghanistan zurückgreifen.

1.3. Zum (Privat)Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hielt sich zumindest seit November 2014 (bis zu seiner freiwilligen Ausreise im Dezember 2019) durchgehend in Österreich auf; er stellte am 24.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.02.2016 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Der BF verfügt über sehr geringe Deutschkenntnisse; es wurden keine Deutschkursbesuchsbestätigungen vorgelegt.

Der BF hat in Österreich Berufserfahrung gesammelt. Er arbeitete eigenen Angaben zu Folge rund neun bis zehn Monate auf einer Baustelle und hat den Beruf des Verputzers erlernt. Aus dem AJ-WEB Auskunftsverfahren ergeben sich Tätigkeiten des BF als geringfügig Beschäftigter beziehungsweise als Arbeiter von Mai bis September 2017 mit tageweisen Unterbrechungen bei verschiedenen Arbeitgebern, als Arbeiter von November 2017 bis Jänner 2018, als geringfügig Beschäftigter von April bis Juni 2018 und als Arbeiter von Juli bis August 2018.

Der BF bezog von 25.11.2014 bis 07.11.2017 und von 11.08.2018 bis 22.01.2019 Leistungen aus der Grundversorgung.

Er leistete keine ehrenamtlichen Tätigkeiten und war weder Mitglied in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation.

Der BF verfügt in Österreich über keine relevanten schützenswerten familiären oder privaten Bindungen. Es leben keine Angehörigen in Österreich. Der BF brachte vor, in Österreich mit einer afghanischen Staatsangehörigen traditionell verheiratet zu sein, welche in Österreich den Status einer Asylberechtigten und ein Kind habe. Es wurden keine diesbezüglichen Nachweise vorgelegt.

Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 06.04.2016 wurde der BF wegen § 125 StGB, § 83
Abs. 1 StGB und § 107 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 120 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 60 Tage Ersatzfreiheitsstrafe bedingt nachgesehen, unter Setzung einer Probezeit und Anordnung der Bewährungshilfe verurteilt. Als mildernd wurde die teilweise Geständigkeit, die Provokation, das Alter unter 21 Jahren und die Unbescholtenheit des BF und als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Vergehen gewertet.

Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 31.08.2018 wurde der BF wegen § 125 StGB, § 83
Abs. 1 StGB und § 105 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 180 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Die mit Urteil des Landegerichtes gewährte bedingte Strafnachsicht wurde wiederrufen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Als mildernd wurde die teilweise Geständigkeit und das Alter unter 21 Jahren und als erschwerend eine einschlägige Vorstrafe und das Zusammentreffen von drei Vergehen gewertet.

Mit Urteil eines Landegerichtes vom 05.03.2019 wurde der BF wegen § 297 Abs. 1 1. Fall StGB zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je EUR 4,-, im Nichteinbringungsfalls 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Als mildernd wurde nichts und als erschwerend die Vorstrafenbelastung und der rasche Rückfall gewertet.

Mit Urteil eines Landegerichtes vom 08.05.2019 wurde der BF wegen § 83 Abs. 1 StGB, §§ 15, 83 Abs. 1 StGB, §§ 15, 84 Abs. 4 StGB sowie § 125 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Der BF wurde von der Anklage wegen § 107 Abs. 1 und 2
1. Fall StGB freigesprochen. Als mildernd wurde die teilweise Geständigkeit, der teilweise Versuch und die Provokation und als erschwerend die Vorstrafen und das Zusammentreffen von mehreren Vergehen mit einem Verbrechen gewertet.

Es wird festgestellt, dass aufgrund der Schwere und Intensität der Straftaten des BF ein Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren gerechtfertigt ist.

Der BF befand sich von 14.03.2017 bis 14.04.2017 und von 22.01.2019 bis 04.11.2019 in Haft.

Seit der Haftentlassung am 04.11.2019 weist der BF im Bundegebiet keine aufrechte Meldeadresse auf. Der BF reiste am 27.12.2019 freiwillig nach Frankreich aus. Der Aufenthaltsort des BF ist unbekannt.

Am 24.02.2020 wurde gegen den BF wegen § 83 Abs. 1 StGB Anklage erhoben.

Überdies gehen aus dem Akt diverse strafrechtliche Anzeigen gegen den BF hervor. Der BF wurde unter anderem im Jahr 2017 wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß §§ 205, 205a StGB und ebenfalls im selbigen Jahr wegen des Verdachtes des Vergehens gemäß § 27 SMG angezeigt.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Dem BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in seine sichere Herkunftsprovinz Parwan kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Herkunftsprovinz des BF ist jedoch nicht sicher erreichbar.

Der Bruder des BF ist in der Heimatprovinz des BF aufhältig und dort erwerbstätig. Zu diesem hat der BF regelmäßig Kontakt. Onkel und Tanten des BF sind weiterhin in Afghanistan wohnhaft. Zu diesen hat der BF keinen Kontakt. Überdies sind im Iran zwei Onkel des BF wohnhaft, zu welchen er ein gutes Verhältnis hat. Der BF kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorrübergehend durch seinen Bruder finanziell und auch moralisch unterstützt werden.

Der BF kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Er ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 01.04.2021, Version 3 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO).

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan:

„COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 31.03.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).

Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und A

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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