TE Vwgh Beschluss 2021/7/30 Ra 2021/14/0232

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Veröffentlicht am 30.07.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/14/0233

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in den Revisionssachen des 1. A B und des 2. C D, beide vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 8. April 2021, 1. L525 2165591-1/13E und 2. L525 2165595-1/12E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1        Die Revisionswerber sind (in den Jahren 1995 und 1997 geborene) Brüder und Staatsangehörige Pakistans. Sie stellten am 4. Juli 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, den sie im Wesentlichen mit Misshandlungen und einer Verfolgung sowohl durch ihren Vater als auch durch ihren Großvater, welcher eine mächtige Person in Pakistan sei, begründeten.

2        Mit den Bescheiden jeweils vom 30. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Revisionswerber ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Pakistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die belangte Behörde jeweils mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgerichtnach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig sei.

4        Die Revisionswerber erhoben gegen diese Erkenntnisse Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 7. Juni 2021, E 1699-1700/2021-7, die Behandlung der Beschwerde ablehnte und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurden die gegenständlichen Revisionen eingebracht.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Revisionen begründen ihre Zulässigkeit zunächst mit dem Vorbringen, das Bundesverwaltungsgericht habe keine zielgerichteten Fragen zum Bestehen eines schützenwerten Familienlebens gestellt und die dazu beantragten Zeugen nicht einvernommen. Es habe auch jegliche Erhebungen vor Ort, wie Befragung der Nachbarn, unterlassen und den Revisionswerbern zu Erhebungsergebnissen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl kein Parteiengehör eingeräumt.

9        Damit machen die Revisionen Verfahrensmängel geltend, deren Relevanz, weshalb also bei Vermeidung dieser Mängel in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, bereits in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung dargetan werden muss. Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 11.5.2021, Ra 2021/14/0057, mwN). Eine solche Relevanzdarstellung lässt die Zulässigkeitsbegründung vermissen.

10       Wenn in den Revisionen das Unterbleiben weiterer Ermittlungen durch Recherche vor Ort gerügt wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob amtswegige Erhebungen erforderlich sind, regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darstellt, weil es sich dabei um eine einzelfallbezogene Beurteilung handelt. Solchen Fragen kann nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechtes auf dem Spiel stehen. Derartiges legen die Revisionswerber nicht dar. Zudem besteht ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens des Asylwerbers durch Recherche im Herkunftsstaat nicht (vgl. VwGH 2.2.2021, Ra 2020/14/0488, mwN).

11       Zur geltend gemachten Verletzung des Parteiengehörs im Zusammenhang mit der Stellungnahme des Vertrauensanwalts genügt es darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde erfolgte Verletzung des Parteiengehörs durch die mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht verbundene Möglichkeit einer Stellungnahme saniert werden kann, wenn der damit bekämpfte Bescheid die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens vollständig wiedergegeben hat (vgl. VwGH 8.8.2017, Ra 2017/19/0082 bis 0084, mwN). Dies ist gegenständlich der Fall, weil sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit der Stellungnahme des Vertrauensanwaltes in seinen Bescheiden ausführlich auseinandersetzte und die Revisionswerber dieser Stellungnahme weder in den Beschwerden noch in der mündlichen Verhandlung substantiiert entgegentraten oder sich dazu äußerten.

12       Die Revisionswerber wenden sich in ihrem Zulässigkeitsvorbringen weiters gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG). Das Bundesverwaltungsgericht sei hinsichtlich der Frage, ob die Rückkehrentscheidung dauerhaft für unzulässig zu erklären und ob den Revisionswerbern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen sei, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Es habe sämtliche Integrationsmerkmale dahingehend relativiert, dass diese zu einem Zeitpunkt entstanden seien, in dem sich die Revisionswerber ihres unsicheren Aufenthalts bewusst gewesen seien, und trotz der außergewöhnlich guten Integration festgestellt, dass „Merkmale einer besonderen Integration in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht nicht zu Tage getreten“ seien. Es bedürfe zur Wahrung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit klarstellender Aussagen des Verwaltungsgerichtshofes.

13       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG.

14       Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. zum Ganzen VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0189 bis 0191).

15       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 28.4.2021, Ra 2021/14/0131, mwN).

16       Bei dieser Beurteilung ist somit stets auf die den konkreten Einzelfall betreffenden Aspekte abzustellen, weshalb schon von daher der in der Revision angesprochene Klärungsbedarf nicht besteht (vgl. VwGH 3.6.2020, Ra 2020/20/0161, mwN).

17       Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. etwa VwGH 26.2.2021, Ra 2021/14/0020; 7.10.2020, Ra 2020/14/0333, jeweils mwN).

18       Das Bundesverwaltungsgericht führte eine umfassende Interessenabwägung durch und berücksichtigte dabei alle für und gegen die Revisionswerber sprechenden entscheidungswesentlichen Umstände. Hinsichtlich der Ausführungen zum Familienleben der Revisionswerber mit in Österreich aufhältigen Verwandten geht die Revision zudem nicht vom festgestellten Sachverhalt aus (vgl. zum Nichtvorliegen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung, wenn sich das Zulässigkeitsvorbringen vom festgestellten Sachverhalt entfernt, VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0004, mwN).

19       Dass sich das Bundesverwaltungsgericht bei der Gewichtung der herangezogenen Umstände von den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien entfernt oder diese in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte, ist nicht zu sehen.

20       In der Revision werden demnach keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 30. Juli 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140232.L00

Im RIS seit

18.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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