TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/21 W163 2129639-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.01.2021
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Entscheidungsdatum

21.01.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W163 2129639-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Daniel LEITNER als Einzelrichter über die Beschwerde des Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.05.2016, Zahl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

I.1. Verfahrensgang

1.       Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste als unbegleiteter mündiger Minderjähriger unrechtmäßig und schlepperunterschützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 27.12.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Am selben Tag fand die Erstbefragung des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Ein gesetzlicher Vertreter des BF war dabei nicht anwesend.

3.       Am 19.03.2015 wurde im Auftrag des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) ein medizinisches Sachverständigengutachten zum Alter des BF erstellt. Das höchstmögliche Mindestalter zum Zeitpunkt der Antragstellung wurde mit 16,9 Jahren festgestellt. Als fiktives Geburtsdatum wurde der XXXX angeführt. Die Minderjährigkeit des BF wurde damit bestätigt.

4.       Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 11.04.2015 wurde aufgrund des Sachverständigengutachtens die Minderjährigkeit des BF festgestellt und der XXXX als (fiktives) Geburtsdatum festgelegt.

5.       Am 14.01.2016 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen, wobei auch die Vertreterin seines gesetzlichen Vertreters anwesend war.

6.       Am 01.02.2016 brachte die Vertreterin des gesetzlichen Vertreters des BF eine Stellungnahme u.a. zu den aktuellen Länderberichten zum Herkunftsland ein.

7.       Mit im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 20.05.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.) Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 20.05.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).

8.       Gegen Spruchpunkt I. dieses am 24.05.2016 rechtswirksam zugestellten Bescheids erhob der BF fristgerecht Beschwerde, welche am 16.06.2016 beim BFA einlangte. Darin wurde u.a. beantragt der Beschwerde stattzugeben und dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

9.       Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) am 08.07.2016 vom BFA vorgelegt.

10.      Am 31.05.2019 informierte das Bundesamt das BVwG darüber, dass dem BF mit Bescheid vom selben Tag der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt und eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde.

11.      Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 19.06.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF und seine Rechtsvertreterin teilnahmen. Ein Vertreter des BFA nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil. Im Rahmen der Verhandlung legte der BF Integrationsunterlagen und weiterführende Länderinformationen vor.

12.      Mit Eingaben vom 14.08.2020 legte die Rechtsvertretung des BF einen medizinischen Befund vor und beantragte die Einvernahme einer Zeugin zum Beweis der Integration des BF.

13.      Mit Eingabe vom 17.08.2020 legte die Rechtsvertretung des BF weitere Integrationsunterlagen vor.

14.      Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache, und in der Rechtssache des BF hinsichtlich der Aberkennung des subsidiären Schutzes, am 19.08.2020 eine gemeinsame öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF und sein Rechtsvertreter teilnahmen. Ein Vertreter des BFA nahm angekündigt nicht an der Verhandlung teil.

15.      Am 01.09.2020 brachte die Rechtsvertretung des BF fristgerecht eine Stellungnahme ein und legte weitere Integrationsunterlagen vor. Die Stellungnahme wurde dem BFA übermittelt. Die gesetzte Frist für eine replizierende Stellungnahme verstrich ungenutzt.

16.      Mit der heutigen Entscheidung des BVwG zur GZ W163 2129639-2 wurde der Beschwerde des BF gegen die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben und seine befristete Aufenthaltsberechtigung um 2 Jahre verlängert.

I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:

a)       Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei

1.       Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren.

Der BF ist Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist sunnitischer Moslem. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er versteht aber auch Dari.

Der BF stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX (auch XXXX ) in der Provinz Nangarhar (Afghanistan). Der BF wuchs dort mit seinen Eltern und sieben Geschwistern auf. Die Eltern und alle vier verheirateten Schwestern des BF leben in der Heimatprovinz, aber nicht mehr im Heimatort. Der BF hat unregelmäßig telefonischen Kontakt zu seinen Eltern in Afghanistan und unterstützt diese auch finanziell. Die Eltern des BF gehen aufgrund ihres Alters keiner Erwerbstätigkeit mehr nach und werden auch von einem Onkel mütterlicherseits, der ebenfalls in Nangarhar wohnt, finanziell unterstützt. Die drei älteren Brüder des BF reisten nach ihm aus Afghanistan aus und befinden sich derzeit in Frankreich (zuletzt Paris). Der BF hat mit ihnen regelmäßig telefonischen Kontakt. In Afghanistan leben auch mehrere Onkel und Tanten, zu denen der BF jedoch keinen Kontakt hat.

Der Beschwerdeführer besuchte drei Jahre lang eine informelle Schule im Heimatdorf. Er arbeitete schon im Kindesalter als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft seiner Nachbarn und als Verkäufer in einem Laden.

Der BF ist gesund, volljährig, ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung am 27.12.2014 durchgehend in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2. Zu den Flucht - und Verfolgungsgründen:

Der BF ist in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht.

Der BF hat nahe Familienangehörige im Heimatstaat.

Dem BF kommt der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Österreich zu.

b) Zur Lage im Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, Stand 21.07.2020:

"Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

[…]

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

[…]

Nangarhar

Letzte Änderung: 22.4.2020

Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul (NPS o.D.na; vgl. UNOCHA 16.4.2010, UNOCHA 4.2018na). Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad (NPS o.D.na; vgl. OPr 1.2.2017na). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena (AB19.9.2016; VOA 28.6.2019)), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar und Surkh Rud (CSO 2019; vgl. IEC 2018na, UNOCHA 4.2014na, NPS o.D.na) sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar (CSO 2019; vgl. IEC 2018na).

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Nangarhar für den Zeitraum 2019-20 auf 1.668.481 Personen – davon 263.312 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad (CSO 2019). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken (NPS o.D.na). Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft lebten in der Provinz Nangarhar, insbesondere in und um Jalalabad (AAN 23.9.2013). Viele von ihnen haben Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen wie z.B. Unsicherheit verlassen. Mit Stand September 2018 lebten noch 60 Familien in der Gemeinde in Nangarhar (SW 23.9.2018).

Die asiatische Autobahn AH-1 führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara zum afghanisch-pakistanischen Grenzübergang Torkham (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA 4.2014na). Die Provinz, die an die ehemaligen Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (FATA) Pakistans grenzt, dient als inoffizieller Korridor für in- und ausländische Aufständische (AAN 27.9.2016; vgl. VOA 28.6.2019; PF 15.5.2019; NA 25.1.2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 war Nangarhar in der östlichen Region die führende Provinz beim Schlafmohnanbau, obwohl die Anbaufläche 2018 im Vergleich zu 2017 um 9% gesunken ist. Der Rückgang betraf die Distrikte Khogyani, Chaparhar und Lalpoor, während in Kot, Shinwar und Achin ein Anstieg verzeichnet wurde. Die meisten staatlich durchgeführten Mohnvernichtungsaktionen fanden in der Provinz Nangarhar statt (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

In Nangarhar, die als strategische Provinz gilt (RY 27.4.2019), war seit 2011 eine Verschlechterung der politischen und sicherheitspolitischen Situation zu beobachten (AAN 27.9.2016; vgl. TBIJ 30.7.2018, NA 25.1.2018). Korruption, lokale Machtkämpfe und das Versagen, effektive Dienstleistungen zu erbringen, untergruben das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanische Regierung, die die Bevölkerung ungeschützt gegen Aufständische zurückließ, aber auch der Rückzug der internationalen Streitkräfte in der Provinz ab dem Jahr 2013 trug dazu bei (AAN 27.9.2016). Nichtsdestotrotz sind Bemühungen der Regierung auf dem Weg, um Sicherheit zu gewährleisten, Landraub und Korruption vorzubeugen sowie die Koordinierung zwischen den Sicherheits- und Rechtsorganen zu verbessern (PAJ 20.1.2019). So arbeitet die UNAMA auch weiterhin auf lokaler Ebene mit ansässigen Gemeinschaften und Behörden, um Frieden und Konfliktlösungsbemühungen umzusetzen und voranzutreiben; so auch in der Provinz Nangarhar, wo UNAMA eine Friedensjirga zwischen zwei Stämmen im Distrikt Sher Zad einberief – an der zum ersten Mal auch Frauen eine aktive Rolle einnahmen. Diese Jirga führte zu einem Beschluss über die Verteilung von Wasser, der auch angenommen wurde (UNGASC 14.6.2019).

Auch ebnete ein politisches und militärisches Vakuum, das die Provinz seit Jahren heimgesucht hatte, rund um das Jahr 2016 den Weg für den Aufstieg des afghanischen Zweiges des Islamischen Staates, dem Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) (AAN 27.9.2016). So erleichterten beispielsweise Stammesrivalitäten innerhalb des Distriktes Shinwar den Aufstieg des ISKP in der Provinz (AAN 27.9.2016). Verschiedene militante Gruppen – afghanische, ausländische, sowie salafistische Kämpfer innerhalb der Taliban – trugen dazu bei, die Taliban in Nangarhar zu destabilisieren – viele von ihnen schlossen sich dem ISKP an (AAN 27.9.2016).

Im Februar 2019 galt Nangarhar als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans (UNSC 1.2.2019). Die Schätzungen über die Stärke des ISKP gehen auseinander: so geht eine Quelle von rund 3.000 Kämpfern im Osten Afghanistans (Provinzen Nangarhar und Kunar) aus (UNAMA 24.2.2019), während die ISKP-Stärke von einer anderen Quelle in ganz Afghanistan – jedoch insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen – im Juni 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt wurde (UNSC 13.6.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelang konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

Die Taliban sind in Nangahar aktiv und kontrollieren manche Gebiete (NAT 31.7.2019; vgl. BB 31.7.2019; KP 6.7.2019); wie z.B. in den Distrikten Khugyani und Sher Zad (REU 24.4.2019).

Militärische Spezialeinheiten, auch als counter-terrorism pursuit teams bezeichnet, sind in den Provinzen Nangarhar und Khost tätig. Diese Kräfte, die inoffiziell von der US Central Intelligence Agency (CIA) ausgebildet und beaufsichtigt werden und für die Bekämpfung des Aufstands zuständig sind; diesen werden außergerichtliche Tötungen und Folter vorgeworfen (NYT 31.12.2018; vgl. DP 28.1.2018). Die in Nangarhar aktive Miliz wird 02-Einheit genannt. Sie wird vom afghanischen Geheimdienst NDS befehligt und von der CIA unterstützt und ausgebildet (TP 5.5.2019; vgl. TBIJ 8.2.2019). NDS-Operationen stehen außerhalb der Befehlskette der ANDSF (UNAMA 30.7.2019), weswegen Quellen eine mangelnde Rechenschaftspflicht für die Handlungen der NDS-Einheiten kritisieren (TBIJ 8.2.2019; vgl. TIN 21.8.2019; UNAMA 30.7.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit regulärer staatlicher Sicherheitskräfte liegt die Provinz Nangarhar unter der Verantwortung des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 9.6.2019), das unter die NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) fällt, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Nangarhar gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

 

2019

2020 (bis 31.3.2020)

 

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

Achin

50

75

1

3

Bati Kot

14

5

2

2

Behsud

 

4

 

1

Chaparhar

10

13

 

 

Dara-e-Nur

5

 

1

 

Deh Bala

17

42

1

4

Dur Baba

2

2

 

 

Goshta

 

 

 

 

Hesarak

4

12

 

1

Jalalabad

44

55

2

1

Kama

1

3

 

 

Khugyani

58

109

11

12

Kot

176

5

18

1

Kuzkunar

2

4

 

 

Lalpoor

 

5

 

5

Muhmand Dara

18

15

7

9

Nazyan

 

 

 

 

Pachiragam

5

28

 

1

Rodat

11

10

 

 

Sher Zad

 

34

 

15

Shinwar

3

9

 

1

Spin Ghar*

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

Surkh Rud

8

13

1

3

Insg.

428

443

44

59

*temporärer Distrikt (ACLED 9.4.2020; ACLED 3.4.2020; GIM o.D.)

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.070 zivile Opfer (356 Tote und 714 Verletzte) in der Provinz Nangarhar. Dies entspricht einem Rückgang von 41% gegenüber 2018. Die Hauptursachen dafür waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von Kämpfen am Boden und Selbstmordangriffen (UNAMA 2.2020).

Seit dem Jahr 2018 intensivierten die staatlichen Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen den ISKP. Bei rund 300 Luft- und Bodenoperationen in ganz Afghanistan seit April 2018, jedoch vorwiegend in den Distrikten Khugyani, Pachiragam und Kot der Provinz Nangarhar, wurden ca. 1.200 IS-Kämpfer getötet (UNSC 13.6.2019). Bei regelmäßigen Operationen in der Provinz werden neben ISKP-Kämpfern (z.B. AfTAG 28.6.2019; KP 27.1.2019; PAJ 4.11.2018; TN 26.3.2018; UNGASC 7.12.2018; NAT 31.7.2019), deren hochrangige ISKP-Vertreter (z.B. KP 29.7.2019; KP 31.12.2018; AN 27.12.2018; NAT 26.8.2018; News 27.8.2018) auch Talibanaufständische getötet (NYT 10.3.2019; KP 18.1.2019; RY 10.6.2019). Auch wurde im April 2019 die Sicherheitsoperation Khalid durch die afghanische Regierung gestartet, die sich auf die südlichen Regionen, Nangarhar im Osten, Farah im Westen, sowie Kunduz, Takhar und Baghlan im Nordosten, Ghazni im Südosten und Balkh im Norden konzentrierte (UNGASC 14.6.2019).

Immer wieder kommt es auch zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Mitgliedern der Taliban und des ISKP (REU 24.4.2019; vgl. VOA 28.6.2019; VOA 25.4.2019; TBIJ 30.7.2018; UNGASC 7.12.2018).

[…]

Rekrutierung durch regierungsfeindliche Gruppierungen

UNAMA dokumentierte glaubwürdige Vorwürfe über die Rekrutierung von 23 Buben durch regierungsfeindliche Gruppen (darunter pakistanische Taliban, afghanische Taliban und IS) im ersten Halbjahr 2018. In einzelnen Fällen wurden Kinder insbesondere in den südlichen Provinzen als Selbstmordattentäter, menschliche Schutzschilde oder Bombenleger eingesetzt (USDOS 13.3.2019) Obwohl die Taliban eine interne Richtlinie haben, keine Kinder zu rekrutieren, gibt es Hinweise auf Kinderrekrutierungen, insbesondere postpubertärer Buben (EASO 6.2018). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 13.3.2019; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zum Training nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018).

Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017). Die Taliban haben keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer, deren Motive der Wunsch nach Rache und Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations-und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019).

Quellen haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 27.6.2017). Eine Quelle verweist hier auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet, meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen. Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Die erweiterte Familie kann einer Quelle zufolge allerdings auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass – wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen – die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017)."

II. Beweiswürdigung

Der Beweiswürdigung liegen folgende Erwägungen zugrunde:

II.1. Zum Verfahrensgang

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und der Gerichtsakten des BVwG.

Der BF hat im Verfahren diverse Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich sowie weiterführende Länderberichte vorgelegt (vgl. insb. Anlagen ./A und./B des Protokolls der mV vom 19.06.2019).

Außerdem wurde im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 19.08.2020 eine Zeugenbefragung der Frau Maria Fleiß, Mutter der Freundin des BF, zum Beweis der Integration des BF durchgeführt.

II.2. Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei

1.       Zur Person des Beschwerdeführers

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des BF getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben des BF im Verfahren vor der belangten Behörde und vor dem BVwG (vgl. Protokoll der mV vom 19.06.2019 [OZ 7], S. 4f). Der BF hat keine Identitätsdokumente vorgelegt. Die Feststellungen zur Identität gelten ausschließlich für die Identifizierung der Person des BF im Asylverfahren.

Zum Geburtsdatums ist festzuhalten, dass der BF während der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (AS 15) angab am XXXX geboren zu sein. Im Auftrag des BFA wurde im März 2015 ein medizinisches Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung von XXXX erstellt wurde (AS 83ff). Dieser kam zu dem S

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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