TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/8 W172 2189912-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.02.2021
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Entscheidungsdatum

08.02.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W172 2189912-1/22E

Schriftliche Ausfertigung des am 21.08.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 2001, StA. Afghanistan, vertreten durch RAe TSCHÜTSCHER, KAPFERER & BATTISTI, Burggraben 4/4, 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2018, Zl. 15-1094844900-151774095, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am XXXX 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am XXXX 2015 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde) fand am 19.10.2017 statt.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: „BFA-VG“) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: „FPG“) erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde.

4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.05.2020 und am 21.08.2020 eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an den Verhandlungen.

Am Schluss der Verhandlung vom 21.08.2020 wurde die gegenständliche Entscheidung mündlich verkündet.

Als Zeugin wurde in der Verhandlung vom 22.05.2020 XXXX einvernommen.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX 2001. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Sayed an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Logar geboren. In Afghanistan lebt der Onkel des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer besuchte keine Schule. Der Beschwerdeführer erlernte keinen Beruf. Der Beschwerdeführer arbeitete mehrere Jahre in einer Schneiderei in Afghanistan. Seit dem XXXX 2015 hält sich der Beschwerdeführer in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer verfügt über fortgeschrittene Deutschkenntnisse auf Niveau B1. Der Beschwerdeführer besuchte zahlreiche Integrationskurse sowie berufsqualifizierende Kurse.

Seit März 2019 ist der Beschwerdeführer in einem Altersheim ehrenamtlich tätig.

Der Beschwerdeführer konnte in Österreich Freundschaften zu anderen Asylwerbern, seinem Unterkunftsgeber und Mitgliedern seiner Gemeinde knüpfen.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Einschränkung von Seiten des rechten Hüftgelenks mit einer Dysplasiearthrose und Hüftknopfnekrose sowie einer zusätzlichen Beinverkürzung von ca. sechs cm rechtsseitig (Gesamtgrad der Behinderung: 50 Prozent).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hält sich nicht an islamische Vorschriften und hat eine säkular-liberale Weltanschauung. Der Beschwerdeführer führt in Österreich eine westlich-geprägte Lebensweise. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, dass ihm dort, aufgrund seiner westlich-geprägten Lebensweise sowie seiner säkular-liberalen bzw. nicht-konfessionellen Einstellung, Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität droht.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (letzte Information eingefügt am 21.07.2020);

UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018;

EASO, Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019;

EASO, Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018.

„Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan

„Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.6.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.6.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.6.2019).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime (USDOS 21.6.2019).

Anmerkung: Zu Konversion, Apostasie und Blasphemie siehe Unterabschnitt 3.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 21.6.2019).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 21.6.2019). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 21.6.2019).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 21.6.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        BBC (11.4.2019): Afghanistan’s one and only Jew, https://www.bbc.com/news/av/world-asia-47885738/afghanistan-s-one-and-only-jew, Zugriff 2.9.2019

?        CIA – Central Intelligence Agency (30.4.2019): The World Factbook – Afghanistan, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/af.html, Zugriff 2.5.2019

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2004321.html, Zugriff 3.5.2019

?        ICRC – International Committee of the Red Cross (o.D.): National Implementation of IHL, https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl-nat.nsf/implementingLaws.xsp?documentId=598034855221CE85C12582480054D831&action=openDocument&xp_countrySelected=AF&xp_topicSelected=GVAL-992BU6&from=state&SessionID=DNMSXFGMJQ, Zugriff 2.9.2019

?        UP – Urdu Point (16.8.2019): Afghanistan's Only Jew Has No Plans To Emigrate, Says Lives 'Like A Lion Here', https://www.urdupoint.com/en/world/afghanistans-only-jew-has-no-plans-to-emigra-691600.html, Zugriff 2.9.2019

?        USDOS – U.S. Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Afghanistan, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2019/05/AFGHANISTAN-2018-INTERNATIONAL-RELIGIOUS-FREEDOM-REPORT.pdf, Zugriff 24.6.2019

?        USDOS – U.S. Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom: Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/1436774.html, Zugriff 2.9.2019

?        USE – U.S. Embassy in Afghanistan (o.D.): Marriage, https://af.usembassy.gov/u-s-citizen-services/local-resources-of-u-s-citizens/marriage/, Zugriff 3.5.2019

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (AA 2.9.2019).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 21.6.2019) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323).

Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie (AA 2.9.2019); auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen – weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017; vgl. USDOS 21.6.2019) und auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte (USDOS 21.6.2019).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (AA 2.9.2019). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 4.2.2019). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 1.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2004321.html, Zugriff 3.5.2019

?        LIFOS - Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet (21.12.2017): Temarapport: Afghanistan –Kristna, apostater och ateister, https://www.ecoi.net/en/file/local/1420820/1226_1515061800_171221551.pdf, Zugriff 6.5.2019

?        MoJ - Ministry of Justice (15.5.2017): Strafgesetz, http://moj.gov.af/content/files/OfficialGazette/01201/OG_01260.pdf, Zugriff 3.5.2019

?        RA KBL – Lokaler Rechtsanwalt in Kabul (1.6.2017): Auskunft per E-Mail.

?        USDOS – US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom – Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/1436774.html, Zugriff 3.5.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 22.4.2020

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind (Casolino 2011). In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council – AUC) beraten (USDOS 29.5.2018). Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht (REU 24.11.2018; vgl. USDOS 29.5.2018).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (APE 3.2017). Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen – einschließlich Menschenrechtsverträge – vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (APE 3.2017; vgl. UNAMA 22.2.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden (APE 3.2017).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tief greifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht (USIP 3.2015).

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen (AA 2.9.2019). Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Was oft zu einer Diskriminierung von Frauen führte. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren (USDOS 11.3.2020). Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen (CR 11.2018). Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politische Einflussnahme und weit verbreitete Korruption beeinflusst (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019, FH 4.2.2019). Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent (AA 2.9.2019).

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Obwohl die Verfassung das Recht auf öffentliche Prozesse vorsieht, finden nur in einigen Provinzen solche öffentlichen Prozesse statt. Auch verlangt das Gesetz von Richter/innen eine Vorankündigung von fünf Tagen vor einer Verhandlung. Nicht alle Richter/innen folgen diesen Vorgaben und viele Bürger beschwerten sich über Gerichtsverfahren, die sich oft über Jahre hinziehen. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten rechtzeitig über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt – sofern es die Ressourcen erlauben – sich auf öffentliche Kosten von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert (USDOS 11.3.2019).

Richterinnen und Richter:

Das Justizsystem leidet unter einem Mangel an Richtern - insbesondere in unsicheren Gebieten; weswegen viele Fälle durch informelle, traditionelle Mediation entschieden werden (USDOS 11.3.2020). Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land (CR 11.8.2018).

Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 13.3.2019) basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetzen (FH 4.2.2019). Ein Mangel an Richterinnen – insbesondere außerhalb von Kabul – schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019). Nichtsdestotrotz, sind in Afghanistan 257 Richterinnen tätig (13% - insgesamt 2.029 Richterinnen und Richter) (USODS 13.3.2020). Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan (FMF 18.4.2019).

Sowohl Angeklagte, als auch deren Rechtsanwälte haben das Recht, vor den Verhandlungen Beweise und Dokumente im Zusammenhang mit den Verfahren zu prüfen. Nichtsdestotrotz sind Gerichtsdokumente trotz des Ersuchens der Verteidiger vor der Verhandlung oft nicht zur Prüfung verfügbar (USDOS 11.3.2020). Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen (FH 4.2.2019). Die Richterschaft zeigt sich respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive (USDOS 11.3.2020). Anklage und Verhandlungen weisen eine Reihe von Schwächen auf: dazu zählen das Fehlen einer angemessenen Vertretung, übermäßige Abhängigkeit von unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen, willkürlichen Entscheidungen sowie Gerichtsentscheidungen, die nicht veröffentlicht werden (FH 4.2.2019).

Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems (AA 2.9.2019). Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes (FH 4.2.2019; vgl. AA 2.9.2019). Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das „Anti-Corruption Justice Center“ (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen (AJO 10.10.2017). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (ATL 9.3.2017; vgl. TN 22.4.2019). Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken (TN 22.4.2019). Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates (USDOD 6.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        AJO – Afghanistan Justice Organization (10.10.2017): Anti-Corruption Justice Center (ACJC) Coordination Meeting with Civil Society Organizations, https://www.afghanjustice.org/article/articledetail/anticorruption-justice-center-acjc-coordination-meeting-with-civil-society-organizations, Zugriff 21.5.2019

?        APE – Archivio Penale (3.2017): Dalla Comunità internazionale, F. Romoli, Il nuovo codice penale afghano tra speranze della comunità internazionale e resistenze interne, http://www.archiviopenale.it/File/Download?codice=ee07681d-820f-4ab2-a953-d41228bf7fd8, Zugriff 21.5.2019

?        ATL – Atlantic, the (9.3.2017): The Impossible Job of Afghanistan's Attorney General, https://www.theatlantic.com/international/archive/2017/03/afghanistan-justice-attorney-general/517014/, Zugriff 21.5.2019

?        Casolino, Ugo Timoteo (2011): "Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, Ricerca elaborata e discussa nell’ambito del Dottorato di ricerca in Sistema Giuridico Romanistico, Università degli studi di Tor Vergata, Facoltà di Giurisprudenza – Roma, http://eprints.bice.rm.cnr.it/3858/1/TESI-TIM_Definitiva.x.SOLAR._2011.pdf, Zugriff 21.5.2019

?        CR – Conciliation Ressources (11.8.2018): Institutionalising inclusive and sustainable justice in Afghanistan: Hybrid possibilities, https://www.c-r.org/accord/afghanistan/institutionalising-inclusive-and-sustainable-justice-afghanistan-hybrid, Zugriff 22.5.2019

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004321.html, Zugriff 21.5.2019

?        FMF – Feminist Majourity Foundation (18.4.2019): Afghanistan Now Has 260 Female Judges, https://feminist.org/blog/index.php/2017/04/18/afghanistan-now-has-260-female-judges/, Zugriff 26.8.2019

?        TN – Tolonews (22.4.2019): Attorney General Defends Performance But Critics Remain Skeptical, https://www.tolonews.com/afghanistan/attorney-general-defends-performance-critics-remain-skeptical, Zugriff 26.8.2019

?        UNAMA – United Nations Assistance Mission in Afghanistan (22.2.2018): UNAMA welcomes Afghanistan’s new penal code - calls for robust framework to protect women against violence, https://unama.unmissions.org/unama-welcomes-afghanistan%E2%80%99s-new-penal-code-calls-robust-framework-protect-women-against-violence, Zugriff 21.5.2019

?        USDOD – United States Department of Defense (6.2019): Enhancing Security and Stability in Afghanistan, https://media.defense.gov/2019/Jul/12/2002156816/-1/-1/1/ENHANCING-SECURITY-AND-STABILITY-IN-AFGHANISTAN.PDF, Zugriff 23.7.2019

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Afghanistan https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/afghanistan/, Zugriff 3.4.2020

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Afghanistan, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/afghanistan/, Zugriff 2.4.2020

?        USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004129.html, Zugriff 21.5.2019

?        USIP – United States Institute of Peace (3.2015): Islamic Law, Customary Law, and Afghan Informal Justice, https://www.usip.org/sites/default/files/SR363-Islamic-Law-CustomaryLaw-and-Afghan-Informal-Justice.pdf, Zugriff 21.5.2019

Alternative Rechtsprechungssysteme

Letzte Änderung: 22.4.2020

Das formelle Justizsystem ist in urbanen Zentren stärker ausgeprägt, wo es näher an der Zentralregierung ist, jedoch schwächer in ländlichen Gebieten (USDOS 11.3.2020). In den Großstädten entschieden die Gerichte in Strafverfahren auch weiterhin im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Zivilrechtsfälle werden oft durch informelle Systeme wie beispielsweise staatliche Mediation über das Huquq-Büro des Justizministeriums oder durch Verhandlungen zwischen den Streitparteien beigelegt: diese Mediationen werden von Gerichtspersonal oder privaten Rechtsanwälten geführt. Nachdem das formelle Rechtssystem in ländlichen Gebieten oft nicht vorhanden ist (USDOS 13.3.2019), nutzen Bewohner des ländlichen Raumes lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras (beratschlagende Versammlungen, normalerweise von Männern, die von der Gemeinde nominiert werden) und Jirgas häufiger als die städtische Bevölkerung (AF 4.12.2018; vgl. USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.2.2019). Diese Streitschlichtungsmechanismen werden sowohl bei kriminellen Vergehen, als auch bei zivilen Disputen, einberufen (USDOS 11.3.2020). In diesen Shuras oder Jirgas werden eine Mischung aus Varianten des staatlichen Rechts und der Scharia (islamisches Recht) angewandt (FH 4.2.2019). Es kommt insbesondere in paschtunischen Siedlungsräumen weiter auch zu traditionellen Formen privater Strafjustiz, bis hin zu Blutfehden (AA 2.9.2019).

Informelle Justizmechanismen werden von vielen Personen auch wegen ihrer schnelleren und meist weniger kostenintensiven Tätigkeit bevorzugt (AF 4.12.2018). Der Großteil der Bevölkerung hat unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe kein Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und die Justizorgane. Sie werden als korrupt und zum Teil auch gefährlich wahrgenommen, weshalb ihre Hilfe in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen wird (AA 2.9.2019; vgl. AF 4.12.2018). In entlegenen Gebieten Afghanistans macht es die zunehmende Kontrolle der Taliban der afghanischen Regierung beinahe unmöglich, Gerichte in Distrikten zu betreiben, in welchen die Taliban stark präsent sind (DW 15.3.2017).

Die Taliban haben ihr eigenes Rechtswesen in den Gebieten unter ihrer Kontrolle eingerichtet (FH 4.2.2019). Die Parallelregierung der Taliban ist bei einigen Afghanen beliebt. So berichteten Bewohner in Logar über das Gerichtssystem der Gruppierung, dass es eine bessere, schnellere und weniger korrupte Justiz bietet als staatliche Gerichte. In zunehmendem Maße wenden sich Menschen an die Taliban, um Eigentums- und Familienstreitigkeiten beizulegen, da Richter und Staatsanwälte oft Bestechungsgelder verlangen (CBC 24.12.2018). Zusätzlich berichten Betroffene in Einzelfällen von unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Parallelsystem der Taliban; wie -z.B. im Falle eines Landdisputes in Helmand, in denen beide Seiten vor dem Taliban-Gericht angehört wurden und erst danach eine Entscheidung getroffen wurde (DW 15.3.2017).

Viele Talibankommandanten sprechen willkürliche Bestrafungen ohne Berücksichtigung des Taliban‘schen Rechtssystems aus (FH 4.2.2019). Jedoch gibt es höchstwahrscheinlich Bestrafungen für diese Kommandanten, wenn die Anführer davon erfahren. Die Taliban haben nur geringe Möglichkeiten, willkürliche Bestrafungen zu verhindern, jedoch ein System der Bestrafung, wenn diese Dinge bekannt werden (ODI 6.2018).

Auch andere nicht-staatliche Gruppen setzen ein paralleles, auf der Scharia basierendes Rechtssystem um. Bestrafungen beinhalten Exekution und Verstümmelung (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019, DW 15.3.2017).

Jedoch besteht bei der Nutzung informeller Justizmechanismen oft keine Wahlfreiheit. Viele Frauen, die Gewaltverbrechen an die staatlichen Behörden melden wollen, werden gezwungen, die informellen Systeme zu nutzen. Dies führt häufig dazu, dass die Täter ungestraft bleiben und die Frauen weiterhin Gefahren ausgesetzt sind (AF 4.12.2018).

In der Gesellschaft der Paschtunen wird das Pashtunwali zur Regelung aller gesellschaftlichen und internen Angelegenheiten der Gemeinschaft als zentrale Autorität herangezogen, so wie sie sich in den Vorschriften des Pashtunwali manifestiert. Dieses sind die Folgenden: Melmastiya (Gastfreundschaft), Nang (Ehre), Nanawatai (Abbitte leisten), Ghairat (Würde) usw. Die gesellschaftlichen Institutionen wie die Jirga (Ältestenversammlung zur Lösung von Streitigkeiten), Maraka (Ältestenrat zur Lösung kleinerer Probleme) usw. stellen demokratische Strukturen dar. Desgleichen gibt es für Rechtsangelegenheiten eine Justiz in Form der Jirga (alternative Streitbeilegung), Tigah (Waffenruhe), Nogha (Strafzahlung) usw.. Auch eine Exekutive ist vorgesehen in Form der Lashkar (Bürgermiliz), Tsalwashtees (Friedenskräfte), Cheegha (Aufruf zum Handeln) und Ähnliches (BFA 7.2016).

Anmerkung: für mehr Informationen zum Paschtunwali siehe das Dossier der Staatendokumentation; zugänglich lt. untenstehender Quellenangabe.

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        AF – Asia Foundation (4.12.2018): A survey of the Afghan People - Afghanistan in 2018, https://asiafoundation.org/wp-content/uploads/2018/12/2018_Afghan-Survey_fullReport-12.4.18.pdf, Zugriff 22.5.2019

?        BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation (7.2016): Dossier der Staatendokumentation: AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf, Zugriff 22.5.2019

?        CBC News – Canadian Broadcasting Corporation (24.12.2018): Aid agencies under threat in Afghanistan as Taliban attempts to tax them, https://www.cbc.ca/news/world/afghanistan-aid-agencies-taliban-tax-1.4958009, Zugriff 20.5.2019

?        DW – Deutsche Welle (15.3.2017): The disturbing trend of Taliban justice in Afghanistan, https://www.dw.com/en/the-disturbing-trend-of-taliban-justice-in-afghanistan/a-37950678, Zugriff 22.5.2019

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004321.html, Zugriff 21.5.2019

?        ODI - Overseas Development Institute (6.2018): Life under the Taliban shadow government, https://www.odi.org/sites/odi.org.uk/files/resource-documents/12269.pdf, Zugriff 22.5.2019

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Afghanistan, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/afghanistan/, Zugriff 2.4.2020

Todesstrafe

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 2.9.2019). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, hat die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen von 54 auf 14 Delikte reduziert (AI 10.4.2019). Vorgesehen ist die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. (MoJ 15.5.2017: Art. 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.5.2017: Art. 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AI 10.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch sog. „Zina“, Straßenraub). In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können (AA 2.9.2019).

Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, welche eine Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiterhin Todesurteile vollstreckt werden (AA 2.9.2019). Im Jahr 2018 wurden in Afghanistan drei Menschen hingerichtet (AI 10.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Alle wurden am 28.1.2018 wegen Entführung und Mord an einem Kind exekutiert. Zahlen zu eventuellen weiteren Exekutionen liegen jedoch nicht vor (AI 10.4.2019). Zu Jahresende 2018 befanden sich mindestens 343 Personen im Todestrakt (AI 10.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Im Jahr 2018 wurden in Afghanistan 44 Todesurteile umgewandelt und 50 zum Tode Verurteilte aufgrund der Vergebung durch die Opferfamilien begnadigt. Es gibt eine Initiative der Regierung, alle Todesurteile neu zu untersuchen (AI 10.4.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        AI – Amnesty International (10.4.2019): Death Sentences and Executions 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/2006174/ACT5098702019ENGLISH.PDF, Zugriff 13.5.2019

?        MoJ - Ministry of Justice (15.5.2017): Strafgesetz: http://moj.gov.af/content/files/OfficialGazette/01201/OG_01260.pdf, Zugriff 13.5.2018

Sexuelle Orientierung und Genderidentität

Letzte Änderung: 22.4.2020

Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen desselben Geschlechtes (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.2.2019, MoJ 15.5.2017: Art. 645, 649). Der Geschlechtsverkehr zwischen Männern ist eine Straftat, die – laut afghanischem Strafgesetzbuch, Artikel 646 – mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, Geschlechtsverkehr zwischen Frauen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, geahndet wird (USDOS 11.3.2020).

Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, FH 4.2.2019). Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review (UPR)-Verfahrens im Jänner 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Beim UPR Afghanistans im Januar 2019 standen LGBTTI nicht auf der Agenda. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden (AA 2.9.2019).

Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechts-verkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z.T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund (AA 2.9.2019).

Homosexualität wird weitverbreitet tabuisiert und als unanständig betrachtet. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft werden diskriminiert, misshandelt, vergewaltigt und verhaftet (USDOS 11.3.2020).

Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Vor allem aufgrund der starken Geschlechtertrennung kommt es immer wieder zu freiwilligen oder erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (AA 2.9.2019).

Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten. Die Scharia verbietet daher auch die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen (AA 2.9.2019). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 18.9.2017).

Gespräche über Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vgl. Bamik 7.2018) und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018).

Es besteht eine niedrige soziale Toleranz gegenüber Personen mit einer sexuellen Orientierung oder Genderidentität außerhalb der erwarteten Normen der Heterosexualität. Ein solches Bekenntnis ist ein soziales Tabu und wird als unislamisch betrachtet (EASO 12.2017).

Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 2.9.2019). Bacha Bazi sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653).

Bei den Bacha Push handelt es sich i. d. R. nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 2.9.2019; vgl. NGI 6.3.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt. Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (CAI 28.3.2019; vgl. OF 16.5.2018).

Anmerkung: Informationen zum gesellschaftlichen und strafrechtlichen Umgang mit Bacha Bazi finden sich im Unterkapitel Fehler! Textmarke nicht definiert. „Kinder“.

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        Bamik, Hamidullah (7.2018): Talking about Sexual Attitudes and Behaviors; A Cultural and Social Taboo in Afghanistan, https://www.researchgate.net/publication/326446311_Talking_about_Sexual_Attitudes_and_Behaviors_a_cultural_and_Social_Taboo_in_Afghanistan / http://www.outlookafghanistan.net/topics.php?post_id=21274, http://www.outlookafghanistan.net/topics.php?post_id=21284, Zugriff 9.5.2019

?        CAI – Central Asian Institute (28.3.2019): Afghan Girls Raised as Boys, https://centralasiainstitute.org/bacha-posh/, Zugriff 9.5.2019

?        DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (18.9.2017): DFAT Country Information Report Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1419296/4792_1512554335_country-information-report-afghanistan.pdf, Zugriff 9.5.2019

?        EASO - European Asylum Support Office (12.2017): Afghanistan - Individuals targeted under societal and legal norms, https://www.ecoi.net/en/file/local/1419802/90_1513325370_easo-201712-afghanistan-targeting-society.pdf, Zugriff 9.5.2019

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004321.html, Zugriff 9.5.2019

?        MoJ - Ministry of Justice (15.5.2017): Strafgesetz: http://moj.gov.af/content/files/OfficialGazette/01201/OG_01260.pdf, Zugriff 9.5.2019

?        NGI – National Geographic Italia (6.3.2018): Afghanistan, le ragazze che crescono come maschi, http://www.nationalgeographic.it/wallpaper/2018/03/06/foto/afghanistan_ragazze_vestite_da_ragazzo-3888228/1/?refresh_ce, Zugriff 9.5.2019

?        OF – Ordine Futuro (16.5.2018): Bacha bazi-bacha posh, https://www.ordinefuturo.it/2018/05/16/bacha-bazi-bacha-posh/, Zugriff 9.5.2019

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Afghanistan, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/afghanistan/, Zugriff 2.4.2020“

Resümee

Aus dem oben angeführten Länderberichtsmaterial, insbesondere auch zur Situation von Rückkehrern in den afghanischen Großstädten wie Kabul, Herat oder Mazar-i Sharif, geht im Wesentlichen zusammengefasst Folgendes hervor:

Vor dem Hintergrund eines in den vergangenen fünf Jahren aus verschiedenen Gründen erfolgten massiven Einbruchs der afghanischen Wirtschaft stellt sich auch in der Stadt Kabul - neben einer prekären Sicherheitslage - die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären oder sonstigen sozialen Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung nur unzureichend dar, weshalb diese mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert und bei fehlender Bildung bzw. Fachausbildung in ernste Versorgungsschwierigkeiten und eine akute Gefährdung ihres Überlebens geraten werden. Der Zugang zu Arbeit, Wohnraum und sonstigen überlebenswichtigen Ressourcen erfolgt in Afghanistan in der Regel über bestehende Kontakte und Netzwerke.

Näher ausgeführt bedeutet dies, dass die für die Grundversorgung benötigten Waren auch für die breite Schicht der Bevölkerung in der Stadt Kabul so teuer geworden sind, dass Hilfsarbeiter in der Regel am Rande der Stadt in Slums unter schwierigen und menschenunwürdigen (hierbei u.a.: hygienischen) Bedingungen ohne Wasch-, Koch- oder Heizgelegenheit unter ständiger Gefahr des Verlusts ihrer Behausung leben. Die Situation ist von einer hohen Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Der weitgehende Abzug internationaler Truppen, der Einbruch von Investitionen und die Verringerung der Entwicklungshilfe führten dabei in jüngster Vergangenheit zu Problemen v.a. innerhalb des Baugewerbes und des Dienstleistungssektors.

Schätzungen zufolge leben ca. drei Millionen Afghanen in Pakistan und ca. 2,5 Millionen Afghanen in Iran, worunter sich auch viele im Exil geborene Afghanen befinden. Die Stadt Kabul als Hauptzielort von Rückkehrbewegungen ist massiv vom starken Anstieg der Zahl der (auch unfreiwilligen) Rückkehrer aus Pakistan, der im Jahresvergleich gleichbleibend großen Zahl an (auch unfreiwilligen) Rückkehrern aus dem Iran und von den vom Konflikt (sowie auch von Naturkatastrophen) betroffenen Binnenvertriebenen (v.a. aus der Zentralregion) betroffen, weshalb sich die Wohnraumsituation sowie die Lage im Dienstleistungsbereich als extrem schwierig darstellen.

Angesichts der aus den o.a. Länderberichten ersichtlichen aktuellen politischen Lage in Afghanistan ist zudem eine längerfristige und ausreichende Unterstützung von staatlicher Seite sehr unwahrscheinlich; aus den o.a. Länderberichten zum Herkunftsstaat geht auch nicht hervor, dass Rückkehrern automatisch z.B. eine dauerhafte Wohngelegenheit zur Verfügung gestellt werden würde.

Bei der vorliegenden Beurteilung sind auch Richtlinien bzw. Berichte des UNHCR von Bedeutung, denen nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Indizwirkung zukommt (s. u.a. VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103; vgl. auch VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). Laut den o.a. Richtlinien des UNHCR vom 19.04.2016 müssen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtslage von intern vertriebenen afghanischen Staatsangehörigen bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative berücksichtigt werden, wobei angesichts des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Gefüges der Gesellschaft auf Grund jahrzehntelang währender Kriege, massiver Flüchtlingsströme und interner Vertreibung hierfür jeweils eine Einzelfallprüfung notwendig ist. Weiters hält UNHCR in seinen Richtlinien fest, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten nicht gegeben ist. Generell ist nach UNHCR eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar, wenn die betroffene Person im Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe hat und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Betroffenen auch tatsächlich zu unterstützen. Auch in seinen Anmerkungen von Dezember 2016 bleibt UNHCR bei seiner Empfehlung, dass es ein starkes soziales Netzwerk im vorgeschlagenen Gebiet der Neuansiedlung geben muss, wenn die Zumutbarkeit einer Neuansiedlung bewertet werden soll. Die einzigen Ausnahmen von dieser Anforderung der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf dar; diese Personen können „unter bestimmten Umständen" ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen Auch nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender in der aktuellsten Fassung vom 30.08.2018 steht eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in Kabul allgemein nicht zur Verfügung. Unter bestimmten Umständen könnten aber alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne familiäre und soziale Unterstützung in urbaner und semi-urbaner Umgebung leben, soweit diese Umgebung über die notwendige Infrastruktur und Lebensgrundlagen verfüge, um die Grundbedürfnisse des Lebens zu decken und soweit diese einer wirksamen staatlichen Kontrolle unterliegen würden.

2.       Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und durch Einvernahme von XXXX als Zeugin.

Folgende Beweismittel brachte der Beschwerdeführer in das Verfahren ein, nämlich zu:

- gesundheitlichen Beschwerden (Konvolut an medizinischen Bestätigungen und Gutachten sowie der Behindertenpass des Beschwerdeführers);

- Deutschsprachkursen (diverse Dokumente, einschließlich ÖSD Zeugnis zur Integrationsprüfung (Sprachkompetenz - Niveau B1) vom 08.12.2019);

- schulische Ausbildung und/oder sonstige berufsqualifizierende Maßnahmen (Schulbesuchsbestätigung der polytechnischen Schule XXXX vom 08.07.2016, Bestätigung des XXXX betreffend die Absolvierung eines Boardingkurses vom 12.12.2019 samt Zertifikat, Bestätigung bezüglich eines Berufsvorbereitungstrainings vom Verein „ XXXX “ vom 11.05.2020 und ein Zeitungsbericht des XXXX Bildungsinstitutes (Ausgabe XXXX ));

- gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten (Bestätigung der XXXX vom 13.05.2020 sowie vom Jugendrotkreuz XXXX vom Juni 2019 und Bestätigungen der XXXX Wasserwacht aus den Jahren 2016 und 2017);

- Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten (Teilnahmebestätigungen und Fotos vom Jugendhaus „ XXXX “);

- sonstige Integrationsmaßnahmen und -bemühungen (diverse Unterstützungsschreiben).

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seine familiäre Situ

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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