Entscheidungsdatum
11.03.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W159 2214670-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.02.2021, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte (spätestens) am 29.04.2016 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz, zu dem er am 30.04.2016 durch die Polizeiinspektion XXXX einer Erstbefragung unterzogen wurde. Als Fluchtgrund gab er schon damals an, dass die Taliban von ihm verlangt hätten, dass er seine Arbeit als Computerfachmann aufgeben solle. Er habe das nicht getan und sei von ihnen bedroht worden und daraufhin nach Kabul geflüchtet, wo sie ihn auch verfolgt hätten, sodass er ausgereist sei. Er wurde im Zulassungsverfahren am 30.07.2016 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, einvernommen, wobei insbesondere der Fluchtweg Gegenstand dieser Einvernahme war und der Beschwerdeführer angab, dass er auf keinen Fall zurück nach Ungarn wolle, weil die Polizei ihn dort geschlagen habe. Schon zum damaligen Zeitpunkt legte er afghanische Schulzeugnisse, Bestätigungen über Computerkurse, eine Arbeitsbestätigung des XXXX und einen Dienstausweis der Firma XXXX vor. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, vom 06.08.2016, Zl. XXXX wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, als unzulässig zurückgewiesen und für die Prüfung des Antrages Ungarn für zuständig erklärt, sowie unter Spruchteil II. die Außerlandesbringung angeordnet und die Abschiebung nach Ungarn für zulässig erklärt.
Der Antragsteller erhob gegen diesen Bescheid, vertreten durch den XXXX , Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
Dieses wies die Beschwerde mit Erkenntnis vom 26.08.2016, Zl. XXXX als unbegründet ab.
Am 24.02.2017 stellte der nunmehrige Beschwerdeführer den verfahrensgegenständlichen zweiten Asylantrag und gab zu seinen Fluchtgründen an, dass am 15.12.2016 seine Eltern von den Taliban ermordet worden seien, weil er sich geweigert habe, für die Taliban zu arbeiten.
Nach Zulassung zum Asylverfahren erfolgte am 08.10.2018 eine ausgiebige Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark. Eingangs der Einvernahme gab der Antragsteller an, dass er gesund sei und keine Medikamente nehme. Er sei am XXXX im Dorf XXXX , in der Provinz Baghlan geboren und legte eine Tazkira im Original sowie einen Führerschein im Original vor. Er gab dazu an, dass diese ihm seine Frau vor sechs Monaten geschickt habe. Weiters legte er über die bisher unterbreiteten Dokumente hinaus einen Drohbrief der Taliban sowie ein Schreiben der Sicherheitsbehörde im Original vor. Zum Tod seiner Eltern führte er aus, dass ihn ein Freund und Nachbar namens XXXX angerufen habe und ihm mitgeteilt habe, dass seine Eltern ums Leben gekommen wären. Daraufhin habe er seine Frau angerufen, sie habe das auch so bestätigt. Seine Eltern seien von den lokalen Taliban getötet worden, er habe darüber auch eine Bestätigung. Weites habe er Deutschzertifikate A1 und A2 sowie diverse Integrationsunterlagen, die er vorlegte.
Er sei Sunnit, Tadschike und afghanischer Staatsangehöriger, habe eine Grundschule und eine weiterführende Schule besucht und auch Englisch gelernt und Computerkurse gemacht. Er habe eine Zeitlang in einem Fotogeschäft gearbeitet. Geschwister habe er keine. Bis zur siebenten Klasse habe er bei seinen Eltern in Baghlan gelebt, ab der achten Klasse in Kabul. Die Eltern hätten Grundstücke gehabt und wäre dort Reis angebaut worden. Später habe er bei der Firma XXXX als EDV-Mitarbeiter gearbeitet, er sei zuständig gewesen für die Dienstkarten der Soldaten der afghanischen Nationalarmee, er habe 14 Monate dort gearbeitet. Er sei verheiratet, seine Ehefrau XXXX sei seine Cousine mütterlicherseits. Sie hätten nur traditionell vor dem Mullah geheiratet, er habe einen Sohn und zwei Töchter, welche Zwillinge seien. Mit staatlichen Behördenorgangen in Afghanistan habe er keine Probleme gehabt. Zu den Fluchtgründen gefragt gab er an, dass er sechs bis sieben Monate nach Beginn seiner Tätigkeit bei der Firma XXXX ihn sein Vater angerufen habe, er solle nach Baghlan kommen, denn die Taliban wären bei ihm gewesen und hätten gefordert, dass der Beschwerdeführer die Datenbank der Nationalarmee den Taliban zur Verfügung stelle. Er hätte das nicht ernst genommen und mit seiner Arbeit weitergemacht. Als er bei der Geburt seiner Töchter wieder in Baghlan gewesen sei, hätten vier bis fünf Taliban an der Haustüre geklopft und ihn dann direkt aufgefordert dem lokalen Kommandanten der Taliban die Datenbank der Nationalarmee zur Verfügung zu stellen. Einige Monate später, bei einem neuerlichen Besuch in Baghlan, wären wiederum Taliban gekommen und hätten ihn entführen wollen. Nachdem seine Eltern und seine Frau zu schreien begonnen hätten und er versprochen habe, wenn sie ihm etwas Zeit geben würden, dass er ihnen die Datenbank zur Verfügung stellen würde, wären sie wieder abgezogen. Er habe sich dann nur mehr in Kabul aufgehalten, habe jedoch dort einen Drohbrief der Taliban vorgefunden und sei damit zum Bezirkssicherheitsamt gegangen und habe um Schutz gebeten. Dies sei jedoch abgelehnt worden. Er habe dann die Wohnung in Kabul wechseln müssen und habe er sich entschlossen, das Land zu verlassen, da die Taliban ihn auch in Kabul hätten finden können. Ca. sechs bis sieben Monate nach seiner Ankunft in Österreich hätten die lokalen Taliban dann seine Eltern umgebracht. Die Taliban hätten ihm gedroht, wenn er ihren Aufforderungen nicht nachkommen würde, würden sie ihn töten. Nach dem Erhalt des Drohbriefes und der Weigerung der Polizei, ihm Personenschutz zur Verfügung zu stellen, habe er noch eine Wohnung für seine Frau finden und Dokumente für die Ausreise besorgen müssen, dann sei er ausgereist. In Österreich lebe er von der Unterstützung der XXXX in einem Asylwerberquartier in XXXX . Er habe auch schon Deutschkurse gemacht und besuche die externe Hauptschule. Weiters habe er in der Gemeinde bei freiwilligen Arbeiten geholfen und auch ein Praktikum bei einem Fotografen gemacht. Es sei ihm auch eine Lehre als Koch und Kellner zugesagt worden. Außerdem mache er Sport bei XXXX . Gefragt nach einer allfälligen inländischen Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif gab er an, dass die Sicherheitslage in Herat schlechter sei als in Kabul und er auch in Kabul von den Taliban verfolgt worden sei. Über Vorhalt, dass er seine schwangere Frau mit zwei kleinen Kindern in Afghanistan zurückgelassen habe und diese auch eventuell in Gefahr wären, gab er an, dass sich eine Frau leichter verborgen halten könne und wenn sie rausgehe, dann nur in einer Burka. Sowohl der Drohbrief der Taliban als auch ein Schreiben der Polizeidirektion des XXXX . Stadtbezirkes von Kabul wurden übersetzt.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 14.01.2019 wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz vom 24.02.2027 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.
Nach kursorischer Darstellung des Verfahrensganges wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und Feststellungen zu Afghanistan getroffen.
Beweiswürdigend wurde zunächst ausgeführt, dass hinsichtlich der Identität keine Feststellung möglich gewesen sei, da in Afghanistan die Beschaffung von echten oder gefälschten Gefälligkeitsdokumenten praktisch jeglichen Inhaltes jederzeit möglich sei. Das betreffe auch den vorgelegten Drohbrief und das Schreiben der Sicherheitsbehörde. Die Angaben zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, sowie zum Familienstand würden als glaubhaft erachtet, nicht glaubhaft seien jedoch die Angaben zu den Fluchtgründen. Es gäbe Widersprüche hinsichtlich der Angaben zur Dauer des Arbeitsverhältnisses mit der Firma XXXX und dem Vorfall mit dem Drohbrief, auch sei es unplausibel, dass der Antragsteller nach Erhalt des Drohbriefes seine Heimat nicht unverzüglich und auf schnellstem Weg verlassen habe. Selbst bei hypothetischer Wahrannahme des Vorbringens, handle es sich bei der Verfolgung um ein privates kriminelles Vorgehen.
Zu Spruchpunkt I. wird zunächst darauf hingewiesen, dass das Vorbringen als unglaubwürdig qualifiziert worden sei, da der Antragsteller insbesondere nicht eine herausragende persönliche Gefährdung durch die Taliban dargetan habe.
Zu Spruchpunkt II. wurde nach Darlegung der bezughabenden Rechtslage und Judikatur darauf hingewiesen, dass keine Gründe ersichtlich wären, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse einer lebensbedrohenden Gefährdung iSd Art. 2 oder 3 EMRK ausgesetzt wäre und in ganz Afghanistan auch keine derart extreme Gefährdungslage bestehe, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre eine Gefährdung iSd des § 8 AsylG ausgesetzt wäre. Außerdem würde dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung stehen. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 von amtswegen lägen nicht vor (Spruchpunkt III.).
Zu Spruchpunkt IV. wurde insbesondere dargelegt, dass der Antragsteller in Österreich keine Angehörigen oder sonstigen Anknüpfungspunkte habe und seine nächsten Angehörigen vielmehr in Afghanistan leben würden. Der Antragsteller sei wohl unbescholten, aber er sei nicht nur unrechtmäßig eingereist, sondern habe auch eine rechtskräftige Entscheidung betreffend die Zuständigkeit Ungarns missachtet und erneut einen Asylantrag gestellt. Im Übrigen sei sein Privatleben in Österreich als gering einzustufen und wären seine Bindungen zu seinem Herkunftsstaat wesentlich stärker als jene zu Österreich, sodass letztlich ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht zu erteilen gewesen und eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Schließlich wurde auch dargelegt, dass sich im vorliegenden Fall keine Gefährdung iSd § 50 FPG ergeben habe und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des EGMR entgegenstehe (Spruchpunkt V.). Auch Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise wären nicht hervorgekommen (Spruchpunkt VI.).
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller, vertreten durch den XXXX , fristgerecht gegen alle Spruchteile Beschwerde und beantragte auch ausdrücklich die Anberaumung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zur persönlichen Einvernahme des Beschwerdeführers.
Zunächst wurde der bisherige Verfahrensgang kursorisch wiedergegeben und insbesondere darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer unter das Risikoprofil der UNHCR falle, nämlich Zivilisten, die tatsächlich oder vermeintlich mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese unterstützen würden und er deswegen in das Visier der Taliban geraten sei. Zu Spruchpunkt II. wurde auf die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan sowie auf die extreme Ernährungsunsicherheit, insbesondere auch in jenen Gegenden, die von der Behörde als mögliche inländische Fluchtalternative angenommen worden seien, verwiesen. Schließlich sei er auch als Zurückkehrer aus dem westlichen Ausland besonderen Gefahren ausgesetzt und habe sich der Beschwerdeführer gut in Österreich integriert und solide Deutschkenntnisse erworben.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 16.02.2021 an. Der Beschwerdeführer legte eine Vollmacht der Bundesbetreuungsagentur vor. Die belangte Behörde ließ sich für die Nichtteilnahme an der Verhandlung entschuldigen, der Beschwerdeführer erschien zu der Beschwerdeverhandlung in Begleitung einer Mitarbeiterin der BBU. Diese legte ein Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung, ein Semesterzeugnis der Bundeshandelsakademie für Berufstätige, eine Arbeitsbestätigung des XXXX sowie ein Unterstützungsschreiben der Pension XXXX vor.
Der Beschwerdeführer hielt die Beschwerde und das bisherige Vorbringen aufrecht und wollte korrigieren, dass er nicht 14 Monate, sondern 21 Monate bei der Firma XXXX gearbeitet habe, dass er bei der Polizei nur drei Minuten zu den Fluchtgründen und die restliche Einvernahme zum Fluchtweg befragt wurde und schließlich, dass im Bescheid nicht korrekt wiedergegeben wurde, dass er den Drohbrief auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bekommen habe, sondern er vielmehr diesen erhalten habe, als er auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei.
Er sei afghanischer Staatsbürger, Tadschike und sunnitischer Moslem und übe seine Religion auch in Österreich aus. Er sei im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Baghlan, XXXX geboren. Die ersten sieben Jahre der Schule habe er noch in XXXX besucht, dann sei er zur weiteren Ausbildung nach Kabul gegangen. In der Schulzeit habe er auch Englisch- und Computerkurse besucht und habe er dann zwei Jahre bei einem Fotografen gearbeitet. Seit März 2013 sei er verheiratet, er habe zwei Töchter, die im Jahr XXXX geboren sind und Zwillinge seien. Als er Afghanistan verlassen habe, war seine Frau mit seinem Sohn schwanger. Seine Frau lebe mit den Kindern in Kabul, die Eltern hätten in Baghlan landwirtschaftliche Grundstücke gehabt und davon hätten sie gelebt. In Afghanistan habe er für die Firma XXXX gearbeitet und zwar in der Abteilung, die zuständig gewesen sei für den Druck der Karten für das afghanische Militär. Er habe von Februar 2014 an 21 Monate lang dort gearbeitet, der Vertrag wäre wohl schon abgelaufen, aber er sei verlängert worden. Nach den 21 Monaten sei er geflüchtet. Der Chef der Firma namens XXXX sei wohl ein geborener Afghane, habe aber die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Diese Firma habe die Reparatur der Waffen für die afghanische Nationalarmee durchgeführt und auch Karten für das Militär gedruckt. Ungefähr 100 bis 150 Personen wären bei diesem Unternehmen beschäftigt gewesen und konnte der Beschwerdeführer in der Folge auch die genauen Örtlichkeiten des Firmensitzes bzw. der Büroräumlichkeiten angeben. Befragt zu seiner näheren Tätigkeit führte er aus, dass es einen eigenen Bereich gegeben habe, wo die Fotos gemacht worden seien, dies seien direkt mit dem Computer verbunden gewesen. Es habe eine Datenbank gegeben, er habe die Namen in diese eingetragen und die Fotos hinzugefügt und bearbeitet. Die Abteilung sei auch für den Ausdruck der IT-Karten zuständig gewesen. Über Vorhalt, dass er bei der Erstbefragung (AS 67) angegeben habe, dass er Fotojournalist gewesen sei, gab er an, dass er freiwillig bei einer von ihm namentlich bezeichneten lokalen NGO mitgearbeitet habe.
Mit afghanischen Behördenorganen habe er keine Probleme gehabt, auch mit Privatpersonen nicht, jedoch mit den Taliban, welche sechs bis sieben Monate nach dem Beginn seiner Tätigkeit für die Firma XXXX begonnen hätten. Sein Vater habe ihn angerufen, dass er nach Baghlan kommen solle und habe er dort ihm gesagt, dass die Taliban verlangt hätten, ihnen die Datenbank für das afghanische Militär zur Verfügung zu stellen. Er habe das nicht ernst genommen und sei dann wieder zurück nach Kabul gefahren. Erst zur Geburt seiner Töchter sei er dann wieder nach Baghlan zurückgekehrt und wären vier bis fünf Taliban in das Haus hineingestürmt und hätten ihn direkt nach den Daten bzw. nach der Datenbank des afghanischen Militärs gefragt. Seine Frau und die Kinder wären ihm dann nach Kabul gefolgt. Beim nächsten Besuch bei seinen Eltern, ca. drei bis vier Monate später, seien wiederum Taliban gekommen, hätten ihn festgehalten und hätten ihn entführen wollen, aber seine Eltern und seine Frau hätten geschrien und er habe versprochen, den Taliban die gewünschten Daten zur Verfügung zu stellen, worauf sie wieder weggegangen wären.
Eines Tages, als er auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei, habe er einen Drohbrief der Taliban unter der Türschwelle gefunden. Wie die Taliban ihn in Kabul hätten ausfindig machen können, wisse er auch nicht. Sie hätten ihn aufgefordert, dass er bei ihnen mitarbeiten solle, falls er dies verweigern würde, würden sie ihn töten. Er sei dann auf die lokale Polizeistation gegangen und habe die Unterlagen vorgelegt. Die Polizeibeamten hätten jedoch gesagt, dass sie nicht die Möglichkeit hätten, ihn unter Polizeischutz zu stellen. Er sei dann nicht mehr zur Arbeit gegangen. Über Vorhalt, dass er nach der selbst vorgelegten Urkunde (AS 135) nur bis Jänner 2015 bei der Firma XXXX gearbeitet habe, der Drohbrief jedoch vom Dezember 2015 datiere, gab er an, dass er bereits ausgeführt habe, dass er länger bei dieser Firma gearbeitet habe, nämlich solange, bis er den Brief erhalten habe. Er sei einfach nicht mehr hingegangen und habe niemandem Bescheid gegeben, sondern habe alles für seine Flucht vorbereitet. Er sei noch ca. eineinhalb Monate in Afghanistan gewesen, habe sich einerseits um eine Wohnung für seine Frau und seine Kinder kümmern müssen und dann um einen Flug und ein Visum für den Iran. Auf Vorhalt, dass es nicht plausibel sei, dass jemand, der sich in Lebensgefahr befinde, sich noch mehr als eineinhalb Monate Zeit lasse, um sich Dokumente und eine Wohnung für die Gattin zu organisieren und nicht sofort ausreise, gab er an, dass er keine andere Wahl gehabt habe. Er hätte nur zu Fuß über die pakistanische Grenze flüchten können, diese würde jedoch teils von den Taliban kontrolliert, das habe er vermeiden wollen. Bis zum Tag seiner Flucht habe er dann keinen Kontakt zu den Taliban gehabt und sei er am 24.03.2016 mit dem Flugzeug in den Iran geflogen, dann weiter per Auto oder zu Fuß über die Türkei nach Bulgarien, dann weiter nach Serbien, von dort nach Ungarn und nach Österreich. Seine Frau sei damals schwanger gewesen und er habe nicht riskieren wollen, dass ihr etwas passiere, deswegen habe er sie zurücklassen müssen. Auf die Frage der Rechtsvertreterin, was passiert wären, wenn er nach Erhalt des Drohbriefs in Kabul verblieben wäre, gab er an, dass er mit Sicherheit sagen könne, dass die Taliban ihn getötet hätten, weil sie in der Folge sogar seine Eltern getötet hätten, nämlich am 15.12.2016. Seine Ehefrau, die Kinder und sein Schwiegervater wären noch in Afghanistan, Kontakt habe er nur zu seiner Ehefrau. Sie gehe nur sehr wenig hinaus und wenn, dann in einer Burka. Sie schneidere hauptsächlich für die Nachbarn in der Umgebung.
Vom Tod seiner Eltern habe er von einem Freund, der auch früher sein Nachbar gewesen sei, erfahren. Seine Frau habe ihm das anfangs nicht erzählen wollen, aber sie habe ihm das dann bestätigt. Seine Eltern seien von den örtlichen Taliban in der Nacht des 15.12.2016 erschossen worden. Näheres wisse er nicht zur Ermordung seiner Eltern.
Gesundheitliche Probleme habe er nicht, er habe nur Angst und Stress wegen seiner Familie. Im Moment mache er nichts in Österreich, er habe sich von der HAK wegen der Fahrtkosten abmelden müssen, weil er sich diese nicht mehr leisten habe können. Manchmal helfe er bei der Gemeinde und arbeite er auch als Hausmeister im XXXX , dürfe aber nur geringfügig tätig sein. Er habe schon eine Lehrstelle als Fotograf gefunden. Über die Schule habe er viele Freunde kennengelernt und wies er auch diesbezügliche Fotos vor. Wenn er in Österreich bleiben dürfe, möchte er gerne eine Lehre als Fotograf machen, möchte sich dann in Zukunft als Pressefotograf selbständig machen, ihn würden vor allem Kulturveranstaltungen interessieren.
Wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, sei er sich sicher, dass ihn das gleiche Schicksal ereilen würde wie seine Eltern. Auf Vorhalt, dass er relativ jung, gesund und arbeitsfähig sei und Schulausbildung und Berufserfahrung habe, ob er sich nicht in Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen könne, gab er an, dass er, als er Afghanistan verlassen habe, Kabul sicherer gewesen sei als Mazar-e Sharif oder eine andere Provinz, aber er sei auch dort von den Taliban gefunden und verfolgt worden.
Am Schluss der Verhandlung wurde den Verfahrensparteien das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 (soweit verfahrensrelevant) unter Einräumung einer Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme zur Kenntnis gebracht. Weiters wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers verlesen, in dem keine Verurteilung aufscheint. Die Stellungnahme der Beschwerdeführervertreterin bezieht sich ausschließlich auf die Gewährung von subsidiärem Schutz, insbesondere im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der tadschikischen Volksgruppe an und ist sunnitischer Moslem. Er wurde XXXX im Distrikt XXXX , in der Provinz Baghlan geboren und hat dort bis zur siebenten Klasse die Schule absolviert, anschließend besuchte er bis zur 12. Klasse die Schule in Kabul und belegte auch Englisch- und Computerkurse. In der Folge arbeitete er bei einem Fotografen und auch für eine lokale NGO. 2013 heiratete er und hat mit seiner Frau Zwillingstöchter sowie einen Sohn, der erst während seiner Flucht zur Welt kam. Ab Februar 2014 arbeitete er für 21 Monate für die Firma XXXX , die einerseits Waffen für die afghanische Nationalarmee wartete und andererseits Identitätskarten für die Militärangehörigen herstellte. Der Beschwerdeführer war persönlich mit der Herstellung dieser Karten betraut, der Eigentümer dieser Firma war ein US-amerikanischer Staatsbürger afghanischer Abstammung. Der Beschwerdeführer hatte in seiner Tätigkeit Zugriff auf die Datenbank der afghanischen Nationalarmee, was den Taliban bekannt wurde. Sie versuchten zunächst seinen Vater unter Druck zu setzen, dass er seinen Sohn zur Herausgabe dieser Datenbank bewegt. Beim Besuch in Baghlan zur Geburt seiner Töchter, forderten die Taliban direkt vom Beschwerdeführer die Herausgabe dieser Datenbank und er nahm daraufhin seine Familie mit nach Kabul. Beim nächsten Besuch in Baghlan versuchten die Taliban den Beschwerdeführer zu entführen, wegen des Widerstandes seiner Eltern und seiner Frau und des Versprechens des Beschwerdeführers, die Daten zur Verfügung zu stellen, ließen sie davon ab. Im Dezember 2015 erhielt er in Kabul einen Drohbrief der Taliban, in dem sie ihn nochmals aufforderten, seine Tätigkeit aufzugeben und mit den Taliban zusammenzuarbeiten, wobei sie ihm gleichzeitig im Falle einer Nichterfüllung ihrer Forderungen mit Festnahme und Ermordung drohten. Der Beschwerdeführer begab sich daraufhin mit diesem Drohbrief zur örtlichen Polizeidirektion, die Polizei weigerte sich jedoch, ihm entsprechenden Schutz zu gewähren. Daraufhin entschloss sich der Beschwerdeführer Afghanistan zu verlassen, organisierte Ausreisedokumente und eine Wohnung für seine Frau und die Kinder und flog am 24.03.2016 mit dem Flugzeug in den Iran und gelangte von dort aus auf dem Landweg bis nach Österreich. Er stellte, nach irregulärer Einreise, am 29.04.2016 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz, der jedoch in einer rechtskräftigen Dublin-Entscheidung mündete. Am 24.02.2017 stellte er einen zweiten, den nunmehr verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Zwischenzeitig waren seine Eltern von den Taliban ermordet worden. Seine Ehefrau lebt mit den nunmehr drei Kindern nach wie vor in Kabul, der Beschwerdeführer hat Kontakt zu ihr. Seine Frau arbeitet als Schneiderin, verlässt aber nur sehr selten und wenn, dann mit einer Burka bekleidet, das Haus.
Der Beschwerdeführer leidet in Österreich unter keinen manifesten gesundheitlichen oder psychischen Problemen, er macht sich lediglich um seine Familie Sorgen. Er hat in Österreich Deutschdiplome bis A2 erworben und auch einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Er begann auch mit dem Besuch der Handelsakademie, musste diese jedoch abbrechen, weil er sich die Fahrtkosten nicht leisten konnte. Er hat mehrfach gemeinnützige Arbeit, z.B. für die Gemeinde Leibnitz, verrichtet und arbeitet auch geringfügig als Hausmeister in seiner Unterkunft ( XXXX ), außerdem hat er bereits ein Praktikum bei einem Fotografen gemacht und möchte in Österreich eine Lehre als Fotograf absolvieren und anschließend als Pressefotograf im Kulturbereich arbeiten. Der Beschwerdeführer ist unbescholten.
Zu Afghanistan wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:
1. Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Letzte Änderung: 14.12.2020
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan
MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.92020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher
Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16. 07.2020.pdf, Zugriff 20.9.2020
• AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pan demic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020
• F 24 (18.11.2020): https://www.flightradar24.com/38.14,61.2/4 , Zugriff 31.10.2020
• Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-c ovid-19 , Zugriff 28.9.2020
• IMPACCT - IMPortation And Customs Clearance Together (14.8.2020): COVID-19 Afghanistan Bulletin n° 7-CIQP: 14 August 2020, https://wiki.unece.org/download/attachments/101548399/Af ghanistan_-jCOVID-19j-jCIQPjBulletin_7.pdf?version=1&modificationDate=1597746065204&a pi=v2 , Zugriff 18.11.2020
• IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html , Zugriff 17.11.2020
• IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-1 9-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm _campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff 17.11.2020
• Martin, Lucile / Parto, Saeed (11.2020): On Shaky Grounds - COVID-19 and Afghanistan's Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace, https://www.fes-asia.org/news/on-shaky -grounds/, Zugriff 18.11.2020
• NH - The New Humanitarian (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid , Zugriff 18.11.2020
• NYT - New York Times, The (31.7.2020): Border Clashes With Pakistan Leave 15 Afghan Civilians Dead, Officials Say, https://www.nytimes.com/2020/07/31/world/asia/afghanistan-pakistan-border. html , Zugriff 17.11.2020
• RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (21.8.2020): Pakistan Reopens Key Border Crossing With Afghanistan, https://gandhara.rferl.org/a/pakistan-reopens-key-border-crossing-with-afghani stan/30796100.html , Zugriff 17.11.2020
• RW - Relief Web [Hall, Samuel] (9.2020): Brief report on the impact of COVID-19 on the situation of elderly people, https://www.ecoi.net/en/document-search/?asalt=8b1bb51cc9&country%5B% 5D=afg&countryOperator=should&useSynonyms=Y&sort_by=origPublicationDate&sort_order=d esc&content=Covid-19&page=5, Zugriff 17.11.2020
• STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM- Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html , Zugriff
17.9.2020
• UNAMA- United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.8.2020): Afghanistan - PROTECTION OF CIVILIANS IN ARMED CONFLICT MIDYEAR REPORT: 1 JANUARY - 30 JUNE 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2020_-_27_july-revi sed_10_august.pdf, Zugriff 18.11.2020
• UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (12.11.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-12-0, Zugriff 17.11.2020
• UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-15 , Zugriff 17.11.2020
• UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (30.6.2020): Humanitarian Response Plan Afghanistan 2018-2021, https://www.who.int/health-cluster/countries/a fghanistan/Afghanistan-Humanitarian-Response-Plan-COVID-19-June-2020.pdf?ua=1 , Zugriff 17.11.2020
• WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-against- covid-19-afghanistan , Zugriff 19.11.2020
• WHO - World Health Organisation (17.11.2020): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 17.11.2020
• WHO - World Health Organization (8.2020): Situation Report August 2020, http://www.emro.whoj nt/images/stories/afghanistan/situation-report-august2020.pdf?ua=1,20.10.2020
• WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 - SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports /documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 19.11.2020
2. Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Elec- tion Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigstenAkteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Ca- solino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.10.2020): Afghanistan: Politisches Porträt, https://www.au swaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/politisches-portraet/204718 , Zugriff 6.11.2020
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16. 07.2020.pdf, Zugriff 22.10.2020
• AAN - Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan's 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga, https://www.afghanistan-analysts.org/the-resul ts-of-afghanistans-2018-parliamentary-elections-a-new-but-incomplete-wolesi-jirga/, Zugriff 22.10.2020
• AAN - Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President‘s CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document), https://www.afghanistan-anal ysts.org/the-presidents-ceo-decree-managing-rather-then-executive-powers/, Zugriff 22.10.2020
• AJ - Aljazeera (5.10.2020): Afghan president Ghani arrives in Qatar as peace talks drag on, https: //www.aljazeera.com/news/2020/10/5/afghan-president-ghani-arrives-in-qatar-as-peace-talks-dr ag-on , Zugriff 22.10.2020
• AJ - Al-Jazeera (7.5.2020): US Afghan envoy to meet Taliban in Qatar in new efforts for peace, https://www.aljazeera.com/news/2020/05/afghan-envoy-meet-taliban-qatar-efforts-peace-20050 7044349083.html , Zugriff 22.10.2020
• BBC (22.9.2020): Afghan-Taliban peace talks: What's next?, https://www.bbc.com/news/world-asi a-54255862 , Zugriff 22.9.2020
• Casolino, Ugo Timoteo (2011): „Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, Ricerca elaborata e discussa nell'ambito del Dottorato di ricerca in Sistema Giuridico Romanistico - Unificazione del Diritto - Universita degli studi di Tor Vergata - Roma, Facolta di Giurisprudenza, http://eprints.bice .rm.cnr.it/3858/1/TESI-TIM_Definitiva.x.SOLAR._2011.pdf, Zugriff 22.10.2020
• CoA- Constitution of Afghanistan (26.1.2004): The Constitution of Afghanistann, http://www.afghanembassy.com.pl/afg/images/pliki/TheConstitution.pdf, Zugriff 22.10.2020
• DOA- Daily Outlook Afghanistan (17.3.2019): Challenges of Political Parties in Afghanistan, http: //www.outlookafghanistan.net/topics.php?post_id=23136 , Zugriff 22.10.2020
• DP - Die Presse (17.5.2020): Afghanische Rivalen Ghani und Abdullah einigten sich auf Machtteilung, https://www.diepresse.com/5814955/afghanische-rivalen-ghani-und-abdullah-einigten-sich -auf-machtteilung , Zugriff 22.10.2020
• DW - Deutsche Welle (18.2.2020): Afghanistan’s Ashraf Ghani wins second term, https://www.dw .com/en/afghanistans-ashraf-ghani-wins-second-term/a-52423554, Zugriff 6.11.2020
• DZ - Die Zeit (21.4.2019): https://www.zeit.de/news/2019-08/23/usa-taliban-gespraeche-in-katar- wieder-aufgenommen , Zugriff 22.10.2020
• EASO - European Asylum Support Office (8.2020): Afghanistan: State structure and security forces, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/2020_08_EASO_COI_Report_Afghanistan_s tate_structure_and_security_forces.pdf, Zugriff 22.10.2020
• EC - Economist, the (18.5.2019): Why Afghanistan’s government is losing the war with the Taliban, https://www.economist.com/asia/2019/05/18/why-afghanistans-government-is-losing-the-war-with -the-taliban , Zugriff 22.10.2