TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/15 W250 2216257-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.03.2021
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Entscheidungsdatum

15.03.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W250 2216261-1/15E

W250 2216259-1/10E

W250 2216257-1/10E

W250 2216258-1/10E

W250 2216256-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX geb. XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. XXXX , 4.) mj. XXXX , geb. XXXX und 5.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Nadja LORENZ, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1.) vom 14.02.2019, Zl. XXXX , 2.) vom 14.02.2019, Zl. XXXX , 3.) vom 15.02.2019, Zl. XXXX , 4.) vom 15.02.2019, Zl. XXXX und 5.) vom 14.02.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

XXXX , XXXX und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 27.06.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer (W250 2216261-1) ist mit der Zweitbeschwerdeführerin (W250 2216259-1) verheiratet. Diese haben zwei leibliche Töchter, die Dritt- (W250 2216257-1) und die Viertbeschwerdeführerin (W250 2216258-1), sowie einen leiblichen Sohn, den Fünftbeschwerdeführer (W250 2216256-1).

2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 27.06.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass sie aus Angst um ihr Leben vor ca. 20 Jahren aus Afghanistan geflüchtet seien, weil dort Krieg zwischen den Hazara und den Paschtunen geherrscht habe. Aus den Vereinigten Arabischen Emiraten seien sie ausgereist, weil das Visum nicht verlängert worden sei. Sie könnten nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren, da kein Bezug mehr zu Afghanistan bestehe und sie Angst vor der Situation dort hätten.

3. Am 09.11.2016 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als Bundesamt oder belangte Behörde bezeichnet) im Dublin-Verfahren einvernommen.

4. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 25.11.2016 wurden die Anträge auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 – AsylG 2005 zurückgewiesen und festgestellt, dass Norwegen für das Asylverfahren der Beschwerdeführer zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer angeordnet und festgestellt, dass die Überstellung nach Norwegen zulässig sei. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.12.2016 (zum Erstbeschwerdeführer W233 2142816-1/4Z) wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.01.2017 (zum Erstbeschwerdeführer W233 2142816-1/5E) wurden die angefochtenen Bescheide behoben und die Asylverfahren der Beschwerdeführer zugelassen.

5. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 09.05.2017 wurden die Anträge auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurückgewiesen und festgestellt, dass Norwegen für das Asylverfahren der Beschwerdeführer zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer angeordnet und festgestellt, dass die Überstellung nach Norwegen zulässig sei. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.06.2017 (zum Erstbeschwerdeführer W235 2142816-2/3Z) wurde den gegen die oben zitierten Bescheiden eingebrachten Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.07.2017 wurden die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt zurückgewiesen. Am 02.08.2017 wurde das Verfahren in Österreich zugelassen.

6. Am 15.02.2018 wurde der Erstbeschwerdeführer vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Er gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er aufgrund des Krieges zwischen den Paschtunen und den Hazara aus Afghanistan geflüchtet sei. Aufgrund einer finanziellen Unterstützung seines Vaters an eine Partei im Bürgerkrieg werde der Erstbeschwerdeführer und seine gesamte Familie (auch seine Brüder und Schwestern) von einem Kommandanten einer Partei und einem Parteivorsitzenden verfolgt. Aus diesem Grund könne er mit seiner Familie nicht nach Afghanistan zurückkehren. Als er im Jahr 2011 in Mazar-e-Sharif gewesen sei, um die Hochzeit seines Bruders zu organisieren, sei auf ihn im Auto geschossen worden. In Österreich lebe er gemeinsam mit seiner Familie und der Familie seines Bruders sowie mit seiner Mutter und seiner Schwester in engem familiären Kontakt. Sie alle würden sich gegenseitig unterstützen. Der Erstbeschwerdeführer legte zahlreiche Unterlagen zum Beweis seiner Integrationsbemühungen vor: ein bestandenes B1 Deutsch Sprachzertifikat, Unterlagen zur Bestätigung seiner selbständigen Tätigkeit in Österreich, seine Heiratsurkunde, Schulnachrichten seiner Kinder und medizinische Unterlagen zu seinem Neffen.

7. Am 22.06.2018 wurde die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Sie gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie mit ihren Eltern aufgrund des Krieges aus Afghanistan weggegangen sei. Sie wolle nicht nach Afghanistan zurückkehren, da sie einen Beruf erlernen und arbeiten wolle. Für ihre Kinder wünsche sie sich eine Zukunft und Bildung die sie in Afghanistan nicht erhalten würden. Die Zweitbeschwerdeführerin legte zwei Schreiben betreffend der Integrationsbemühungen der Familie vor.

8. Am 22.06.2018 wurde die Drittbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Sie gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie in Afghanistan nicht leben könne und bezog sich auf die Fluchtgründe ihres Vaters. Zusätzlich gab sie an, als Frau in Afghanistan nicht leben zu können, da Mädchen und Frauen dort sehr schlecht behandelt werden und sie keine Rechte hätte.

9. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 14.02.2019 (zum Erst-, zur Zweit- und zum Fünftbeschwerdeführer) bzw. 15.02.2019 (zur Dritt- und Viertbeschwerdeführerin), zugestellt am 21.02.2019, wurden die Anträge auf internationalen Schutz jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkte II.) abgewiesen, Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkte III.). Gleichzeitig wurden gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.). Als Frist für die freiwillige Ausreise wurden 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkte VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Die Beschwerdeführer würden in Österreich – abgesehen voneinander – zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

10. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die oben genannten Bescheide fristgerecht am 19.03.2019 Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass die belangte Behörde ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen sei, da sie über die angegebenen Feinde des Erstbeschwerdeführers und seiner Familie nicht ausreichend ermittelt hätte. Der namentlich genannte Anführer einer sunnitischen Gruppierung habe Massaker an schiitischen Hazara verübt und sei nach wie vor in Afghanistan aktiv. Auch der zweite vom Erstbeschwerdeführer namentlich genannte Parteikommandant sei bekannt und zahlreicher Kriegsverbrechen bezichtigt. Weiters wurde vorgebracht, die Dritt- und Viertbeschwerdeführerin hätten den westlichen Lebensstil bereits internalisiert. Eine Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführer würde aufgrund des intensiven Kontaktes und der gegenseitigen Unterstützung mit den weiteren in Österreich lebenden Familienmitgliedern einen Eingriff in ihr Recht auf Familienleben darstellen.

Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung anberaumen, den Bruder des Erstbeschwerdeführers als Zeugen einvernehmen, der Beschwerde stattgeben und die Bescheide dahingehend abändern, dass den Anträgen der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz stattgegeben wird, in eventu dahingehend abändern dass ihnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklären, in eventu die angefochtenen Bescheide beheben und an die belangte Behörde zurückverweisen.

Zu den zahlreichen im Verfahren bereits vorgelegten Unterlagen (medizinische Gutachten, Schulnachrichten, Fotos, zahlreiche Unterstützungsschreiben, Firmenbuchauszug, etc.) wurden die Schulnachrichten der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer zum Beweis über ihren außerordentlich guten Schulerfolg, sowie ein Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem zum Beweis der Gewerbeberechtigung des Erstbeschwerdeführers vorgelegt (AS 1337 bis 1342 aus W250 2216261-1).

11. Das Bundesamt legte am 20.03.2019 die Verwaltungsakte vor.

12. Mit Dokumentenvorlage vom 12.07.2019 legten die Beschwerdeführer weitere Unterlagen betreffend ihre Integration in Österreich vor: Jahres- und Abschlusszeugnis 2018/2019 der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.

13. Mit Dokumentenvorlage vom 04.02.2021 legten die Beschwerdeführer weitere Unterlagen betreffend ihre Integration in Österreich vor: zehn Unterstützungsschreiben betreffend die gesamte Familie, ein Auszug aus dem Gewerbeinformationssystems Austria, Deutschkursbestätigungen betreffend die Zweitbeschwerdeführerin, ein Patientenbrief, sowie Schulnachrichten und Jahreszeugnisse betreffend die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.02.2021 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi/Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Die Beschwerdeführer legten ein weiteres Empfehlungsschreiben betreffend die Viertbeschwerdeführerin und eine Schulnachricht betreffend den Fünftbeschwerdeführer vor.

15. Mit Stellungnahme vom 24.02.2021 brachten die Beschwerdeführer vor, dass vor dem Hintergrund der durch das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung am 10.02.2021 ins Verfahren eingebrachten Länderberichte festzustellen sei, dass die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer westlichen Orientierung ständiger Bedrohung, struktureller Gewalt sowie unmittelbaren Einschränkungen und dadurch auch der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wären. Die Beschwerdeführer seien zudem als Iran-Rückkehrerinnen anzusehen da sie die überwiegende Zeit ihres Lebens nicht in Afghanistan verbracht hätten. Eine Innerstaatliche Fluchtalternative stünde ihnen als vulnerable Gruppe (Familie mit drei minderjährigen Kindern) nicht zur Verfügung. Die Beschwerdeführer seien, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen in Österreich rechtmäßig niedergelassenen Familienangehörigen, tief in Österreich verwurzelt und verankert. Die Kinder würden in Österreich in die Schule gehen und fließend Deutsch sprechen. Zudem befinde sich die Familie seit beinahe fünf Jahren durchgehend im Bundesgebiet und weise eine überaus tiefgehende Integration auf. Die Beschwerdeführer würden daher jedenfalls über ein schutzwürdiges Privatleben verfügen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und gab als Geburtsdatum den XXXX an, welches von der belangten Behörde mit XXXX protokolliert wurde. Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet, die Hochzeit fand im Jahr 1999 im Iran statt. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben zwei leibliche, minderjährige und ledige Töchter; die Drittbeschwerdeführerin die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt, und die Viertbeschwerdeführerin die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt, sowie einen leiblichen minderjährigen und ledigen Sohn, den Fünftbeschwerdeführer der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt.

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara, schiitische Moslems und sprechen Farsi bzw. Dari als Muttersprache. Die Zweitbeschwerdeführerin bezeichnet sich als Hazara und Angehörige der turkmenischen Volksgruppe (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 AS 443 f.; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 AS 421, 425 f.; Verhandlungsprotokoll vom 10.02.2021 = VP, S. 7, 8 f, 22 f.).

Die Beschwerdeführer haben keine Verwandten in Afghanistan. Die Mutter, zwei Schwestern und zwei Brüder des Erstbeschwerdeführers leben mit ihren Familien in Österreich. Zu diesen haben die Beschwerdeführer intensiven Kontakt. Die Beschwerdeführer pflegen die pflegebedürftige Mutter des Erstbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer sind in Österreich sehr gut integriert.

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in Kabul in Afghanistan geboren. Er hat elf Jahre lang eine Schule in Kabul besucht und ein Jahr lang Medizin studiert (BF 1 AS 1003, VP, S. 7 f.). Wegen des Krieges verließ er Kabul und lebte vier Jahre lang in Mazar-e Sharif. Der Erstbeschwerdeführer lebte anschließend ca. zehn Jahre lang im Iran und in Kasachstan, wo er Textilien verkaufte. Später lebte er in den Vereinigten Arabischen Emiraten und arbeitete als Gebrauchtwagenhändler. In Österreich arbeitete er selbständig im Handel mit Autoersatzteilen und ist derzeit arbeitslos. Er versteht und spricht sehr gut Deutsch (VP, S. 8 f).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in Kabul in Afghanistan geboren wo sie ca. 13 Jahre lang lebte, anschließend verbrachte sie ca. sechs Jahre in Mazar-e-Sharif (BF 2 AS 421 f. VP, S. 22 f.). Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte zwei Jahre lang die Schule in Afghanistan (VP, S. 22). Sie besucht in Österreich einen Deutschkurs und kümmert sich um ihre Schwiegermutter und ihre Kinder (VP, S. 23).

1.1.4. Die Kinder des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin wurden im Iran geboren wo sie ca. zehn Jahre lebten und von wo aus sie anschließend mit ihren Eltern in die Vereinigten Arabischen Emirate zogen (BF2 AS 402 f., VP, S. 29f). Die Beschwerdeführer reisten, da sie in den Vereinigten Arabischen Emiraten als Schiiten Probleme bekamen, nachdem sie dort ca. sechs Jahre gelebt hatten (BF2 AS 402 f.), nach Russland, von wo aus sie weiter nach Norwegen reisten. Unter Umgehung der Grenzkontrollen reisten sie schließlich nach Österreich ein und stellten am 27.06.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.5. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind in Österreich sehr gut integriert. Sie sprechen Deutsch und haben viele österreichische Freunde (VP, S. 12 f).

1.1.6. Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten. Die Beschwerdeführer sind gesund.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Erstbeschwerdeführer wurde in Afghanistan im Jahr 1993 nicht von einem Kommandanten der Paschtunen bedroht oder verfolgt.

Der Erstbeschwerdeführer wurde im Jahr 2011 in Mazar-e-Sharif nicht persönlich konkret angegriffen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem Erstbeschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch den genannten Kommandanten der Paschtunen, durch die Taliban, staatliche Organe oder durch andere Personen.

1.2.2. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde nicht persönlich konkret verfolgt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht ihr weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch staatliche Organe oder durch andere Personen. Die Zweitbeschwerdeführerin ist keine alleinstehende Frau, sie befände sich bei einer Rückkehr in ihrem Familienverband und wäre somit keiner Gefahr ausgesetzt.

1.2.3. Darüber hinaus droht den Beschwerdeführern keine konkrete und individuelle physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan wegen ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara. Weder Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten noch der Volksgruppe der Hazara oder der Tadschiken sind in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

1.2.4. Der Fünftbeschwerdeführer ist zehn Jahre alt, er besucht in Österreich ein Gymnasium. Dem Fünftbeschwerdeführer droht aufgrund seines Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch ist er deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn dem Fünftbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden den Fünftbeschwerdeführer in die Schule schicken und ihm eine Schulbildung ermöglichen. Dem Fünftbeschwerdeführer droht in Afghanistan weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.2.5. Die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin sind jedoch auf Eigenständigkeit bedachte Frauen, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sind. Die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin sprechen fließend Deutsch und nutzten in Österreich die gegebenen Freiheiten und Chancen und möchten diese auch nicht mehr ablegen. Die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin besuchen die Oberstufe eines Gymnasiums und haben einen sehr guten Schulerfolg zu verzeichnen (OZ/12). Sie treffen sich in ihrer Freizeit mit Freunden, gehen einkaufen und bewegen sich selbständig im öffentlichen Raum. Sie spielen Volleyball und Fußball (VP, S. 12, 28, 29). Sie haben beide Pläne für ihre Zukunft, sie wollen studieren und Ärztinnen werden (VP, S. 13, 28, 29).

Die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin lehnen die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und können sich nicht vorstellen, nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben, wobei auch ihre Eltern ihr westliches Leben unterstützen.

Vor diesem Hintergrund würden die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frauen angesehen werden.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer herangezogen:

?        Auszüge aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB)

?        die UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

?        EASO Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020

?        ACCORD – Das Schulsystem in Afghanistan, Mai 2020

?        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Afghansitan Bildungsmöglichkeiten für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Bildungsmöglichkeiten für Kinder)

?        Analyse der Staatendokumentation – Afghanistan – Gesellschaftliche Einstellungen zu Frauen in Afghanistan vom 25.06.2020 (Analyse)

1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

1.3.2. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).

1.3.2.1. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentierT. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 18.3.).

1.3.2.2. Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.2.).

1.3.3. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1). Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.3.4. Frauen

Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert, sie können ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft jedoch oft nur eingeschränkt verwirklichen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen (LIB Kapitel 19.1).

Traditionen, Rollenbilder, die Sicherheitslage, ländliche Umgebungen und die Armut bzw. beschränkte finanzielle Ressourcen sind Faktoren dafür, dass Mädchen seltener die Schule besuchen als Buben. Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich seit 2015 erhöht. Es gibt Bildungsprogramme für Mädchen und junge Frauen, die sich auch mit sicheren Transportmöglichkeiten für diese befassen. Es gibt auch Stipendien für Frauen (LIB Kapitel 19.1).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert. Der Anteil der Erwerbsbeteiligung bei Frauen hat sich auf 27% erhöht. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB Kapitel 19.1).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB Kapitel 19.1).

Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen, doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann eine alleinstehende Frau selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In den Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif können sich Frauen auch ohne männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen (LIB Kapitel 19.1).

Fußballspielerinnen und –spieler beschuldigten hochrangige Beamte des afghanischen Fußballverbandes des sexuellen und körperlichen Missbrauchs. Nach diesen öffentlichen Vorwürfen kämpften die Fußballspielerinnen mit erschwerten Bedingungen, wie etwa Gewalt, Drohungen, Verleumdungen und Entlassungen aus dem Fußballteam. In manchen Fällen baten die Familien die Spielerinnen mit dem Fußballspielen aufzuhören. Wie Fußballspielerinnen in Afghanistan behandelt werden – auch jene, die keine Vorwürfe sexuellen Missbrauchs geltend gemacht haben – veranschaulicht wie innerhalb der afghanischen Gesellschaft mit Weiblichkeit in der Öffentlichkeit sowie der Teilnahme von Frauen an sportlichen Aktivitäten, umgegangen wird. (Analyse Seite 13)

1.3.5. Bewegungsfreiheit von Frauen

Auch die Bewegungsfreiheit afghanischer Frauen unterscheidet sich regional und ist abhängig von der familiären Situation bzw. der Sicherheitslage. In den urbanen Regionen finden sich unterschiedliche familiäre Einstellungen zu Frauenrechten. Manche Familien erlauben Frauen, ohne Begleitung das Haus zu verlassen, zu arbeiten und studieren zu gehen. Andere Familien wiederum akzeptieren dies nicht.

Ob eine Frau sich alleine von einem Ort zum anderen Ort bewegen kann – indem sie ein privates Auto mietet oder mit dem Bus fährt – kommt unter anderem auch auf die Einstellung ihrer Familie an. In manchen Fällen lernen afghanische Frauen Autofahren, um unabhängiger von ihren Ehemännern zu sein. Kein Gesetz in Afghanistan verbietet Frauen das Autofahren. Selbst in der Stadt Kabul sieht man selten Frauen ein Auto lenken. Zwischen 2012 und 2016 erhielten insgesamt 1.189 Frauen in der Hauptstadt einen Führerschein. (Analyse Seite 23)

Neben anderen Herausforderungen, sind afghanische Frauen in der Hauptstadt Kabul auch aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten Belästigungen ausgesetzt. Um Frauen durch die afghanische Hauptstadt Kabul zu navigieren, wurde das Pilotprojekt „Pink Shuttle“ ins Leben gerufen; ein Transportservice, bei dem nur Frauen als Fahrerinnen eingesetzt werden, um weibliche Passagiere und ihre Kinder durch die afghanische Hauptstadt Kabul zu befördern. Das Transportservice wird derzeit nur einer begrenzten und vorab genehmigten Anzahl von Passagieren angeboten. Vier Fahrerinnen sind derzeit bei Pink Shuttle angestellt, welches von der italienischen NGO Nove Onlus betrieben und von USAID (US Agency for International Development) unterstützt wird.

Nur wenige öffentliche Bereiche existieren in der Stadt Kabul, in denen Frauen vor Belästigung geschützt sind. Mehr als ein halbes Dutzend Gärten und Parks in Kabul wurden in den letzten Jahren speziell für Frauen instand gesetzt, um sie sicherer und zugänglicher zu machen. Ausgewählte Tage an denen nur Frauen alleine in den Park gehen können sowie genügend Einrichtungen dieser Art werden als hilfreich angesehen, um afghanischen Frauen öffentliche Bereiche zugänglich zu machen. Bagh-e Zanana als einziger Frauengarten der Stadt, dient gleichzeitig auch als Marktplatz für Frauen. In den Chihilsitoon Garden dürfen mittwochs nur Frauen und Kinder. In einem örtlichen Kino sind wöchentliche Filmvorführungen nur für Frauen vorgesehen und an einem weiteren Tag für Familien. Solche Initiativen sind dem Bürgermeister von Kabul zufolge, entscheidend, um Frauen stärker am Leben teilhaben zulassen. Im neuen Entwicklungsplan von Kabul sind mehr Bereiche für Frauen, einschließlich Märkte und Parkanlagen sowie ein verbessertes öffentliches Verkehrsnetz vorgesehen, um die Mobilität zu erleichtern und damit den Zugang zu Arbeitsplätzen zu verbessern. (Analyse Seite 23)

1.3.6. Berufstätigkeit von Frauen

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten. Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 20.5.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.6.2020; vgl. WS 26.11.2019). Für das Jahr 2020 wurde der Anteil der arbeitenden Frauen von der Weltbank mit 22,8% angegeben (WB 21.6.2020). (LIB Kapitel 19.1).

Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein. Seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 treten afghanische Frauen, insbesondere gebildete, für verbesserte Frauenrechte in Afghanistan ein. Sie berichten nach wie vor mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben – sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamistischer Gruppierungen oder gewöhnlichen afghanischen Männern. Diese ablehnenden Einstellungen, kulturelle Einschränkungen, aber auch sexuelle Belästigung wirken hinderlich für Frauen, wenn es darum geht Eigenverantwortung zu übernehmen. Zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten herrscht eine Kluft; anders als in der Hauptstadt Kabul haben sich westliche Ansichten, vor allem in den von Taliban kontrollierten Gebieten, wie z.B. Kunduz und Kunar, nicht verbreitet. Die Stadt Kabul kann hier nicht als repräsentativ für das ganze Land gesehen werden. (Analyse Seite 15)

1.3.7. Bildung für Mädchen

Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (LIB Kapitel 19.1).

Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (LIB Kapitel 19.1).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (LIB Kapitel 19.1).

Es gibt akutell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28 %) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a). Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht (LIB Kapitel 19.1).

1.3.8. Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Talibanherrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab (LIB Kapitel 19.2).

Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Zuhause und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (LIB Kapitel 19.2).

In Afghanistan gibt es öffentliche und kostenlose Grundschulen. Alle Kinder haben ein Recht auf den Schulbesuch, aber die Eltern sind nicht verpflichtet ihre Kinder in die Schule zu schicken (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.05.2019 betreffend Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 9). Es gibt auch kostenpflichtige private Schulen, in Herat kann die Schulgebühr für private Schulen bis zu 1.500 USD kosten. Der Anteil an Privatschülern in Afghanistan beträgt zwischen 2% und 5% (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 2, 5). Kabul ist der gebildetste Teil von Afghanistan, die Provinz Kabul hat eine der höchsten Schulbesuchsraten unter den Elementarschülern. In der Stadt Kabul gingen ca. 22% der Kinder nicht in die Schule, der Anteil von Mädchen, die keine Schule besuchen, liegt unter 30% (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 3 f). In der Stadt Herat besuchen 79,6% der Buben und 76,2% der Mädchen eine Elementarschule, 42,3% der Buben und 41,7% der Mädchen besuchen eine Sekundarschule. Die Alphabetisierungsrate ist in der Stadt Mazar-e Sharif höher als in der Stadt Herat. Die Provinz Balkh hat eine der höchsten Einschulungsraten für Mädchen in Afghanistan (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 5). Mädchen, Kinder die in ländlichen Gebieten wohnen, Kuchis, Kinder mit Behinderungen und Kinder in schlechten wirtschaftlichen Lagen haben schlechtere Bildungschancen (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 3). Die schlechte wirtschaftliche Lage einer Familie kann dazu beitragen, dass Kinder die Schule nicht besuchen. Das traditionelle Rollenverständnis bei Mädchen, die eine ablehnende Einstellung der Familie eines Mädchens zur Notwendigkeit der Schulbildung für Mädchen und die Verheiratung von Mädchen im jungen Alter, führt dazu, dass Mädchen seltener die Schule besuchen (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 2, 10). Rund 60% der Kinder in Afghanistan, die keine Schule besuchen, sind Mädchen. Ein Großteil der Kinder, die keine Schule besuchen, lebt im ländlichen Raum (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 4). Binnenvertriebene und Rückkehrer haben erschwerten Zugang zu Bildung, wobei im Städtischen Bereich die Schulbesuchsrate höher als im ländlichen Gebiet ist. Auch das Fehlen einer Tazkira kann einen Schulbesuch erschweren oder verhindern (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 4).

Ökonomische Zwänge, mangelnde Qualität der gebotenen Schulbildung sowie tradierte Vorstellungen altersgemäßer Beschäftigung der Kinder veranlasst Eltern ihre Kinder anstelle eines Schulbesuchs arbeiten zu lassen. In den Städten gibt es Arbeitsmöglichkeiten ähnlich einem Lehrlingsverhältnis. Hierbei kann es jedoch zu Misshandlungen durch den Arbeitgeber kommen, es besteht für die Lehrlinge nur wenig Schutz. Die Bezahlung der Lehrlinge ist – verglichen mit anderen Formen der Kinderarbeit – sehr gering. Da Kinder, die gleichzeitig arbeiten und zur Schule gehen mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert sind (Ausgrenzung in der Schule, negative Einstellung der Schule und des Arbeitgebers, Doppelbelastung, etc), begünstigt dies einen Schulabbruch der Kinder (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 2, 11 f).

Kinderarbeit ist in Afghanistan offiziell verboten. Viele Familien sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen. Daher ist eine konsequente Umsetzung des Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt Programme, die es Kindern erlauben sollen, neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z.B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) sind gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen (LIB Kapitel 19.2).

Viele Kinder sind unterernährt. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (LIB Kapitel 19.2).

Es sind insbesondere zwei Faktoren zentral: 1.) ob eine Familie intakt ist, oder bedeutsame Ernährer der Familie (Väter) fehlen; 2.) ist auch die Haltung der Familien, insbesondere der Eltern, gegenüber Kinderarbeit und Bildung von Bedeutung. Kinderarbeit ist unter IDPs weiter verbreitet, als in anderen Bevölkerungsschichten (LIB Kapitel 19.2).

Arbeitende Kinder sind besonders gefährdet, Gewalt oder sexuellen Missbrauch zu erleiden. Dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch andere Personen geschehen. Für Kinder, welche ungeschützt im öffentlichen Raum arbeiten, besteht beispielsweise ein erhöhtes Risiko von Entführungen, sexuellen Übergriffen und in manchen Fällen auch Tötungen (LIB Kapitel 19.2).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die Verwaltungs- und Gerichtsakten der Beschwerdeführer, durch Einvernahme der Erst- bis Viertbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden (Auszüge ZMR, GVS, Strafregister) und die durch die Beschwerdeführer ins Verfahren eingebrachten Unterlagen: zahlreiche Unterstützungsschreiben, Schulnachrichten, Jahreszeugnisse, Firmenbuchauszüge, ärztliche Befunde der Mutter des Erstbeschwerdeführers, Deutschkursteilnahmebestätigungen, Deutschkurszertifikate, Kursteilnahmebestätigungen, etc. (AS 1031 bis 1093 und BF1 OZ/12).

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

2.1.1. Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer ergeben sich aus ihren Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführer gelten ausschließlich zur Identifizierung der Personen der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer, zu den familiären Verhältnissen der Beschwerdeführer zueinander, ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, der Religion und der Muttersprache der Beschwerdeführer gründen sich auf den diesbezüglich schlüssigen Aussagen der Beschwerdeführer im Verfahren. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen der Beschwerdeführer zu zweifeln. Die Feststellung zur Heirat des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin basiert auf den übereinstimmenden und im Verfahren gleichlautenden Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin und der im Verfahren vor der belangten Behörde vorgelegten Heiratsurkunde (AS 1079).

Dass die Beschwerdeführer in Österreich sehr gut integriert sind ergibt sich aus den zahlreichen im Verfahren vorgelegten Unterstützungsschreiben, Kursbestätigungen und Teilnahmebestätigungen sowie aus den glaubwürdigen Angaben der Beschwerdeführer in der Verhandlung am 10.02.2021.

2.1.2. Die Feststellungen zum Erstbeschwerdeführer basieren auf seinen Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme am 15.02.2018 vor der belangten Behörde sowie seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.02.2021.

2.1.3. Die Feststellungen zur Zweitbeschwerdeführerin basieren auf ihren Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme am 15.02.2018 vor der belangten Behörde sowie ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.02.2021.

2.1.4. Die Feststellungen zum Leben der Beschwerdeführer und der Einreise sowie das Datum der Antragstellung ergeben sich aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung am 10.02.2021 sowie aus den Akteninhalten.

2.1.5. Dass die Kinder, die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer, in Österreich sehr gut integriert sind haben der Erstbeschwerdeführer und die Zweit-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig vorgebracht. Selbiges ergibt sich auch aus den zahlreichen im Verfahren vorgelegten Unterstützungsschreiben, Schulbesuchsbestätigungen und Kursbestätigungen.

2.1.6. Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Erst- bis Viertbeschwerdeführer ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Strafregisterauszug jeweils vom 01.03.2021). Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Fünftbeschwerdeführers ergibt sich aus der Strafunmündigkeit aufgrund seines Alters. Dass die Beschwerdeführer gesund sind, haben sie im Verfahren vorgebracht.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

2.2.1. Zum Fluchtvorbringen wurde von dem Erstbeschwerdeführer vorgebracht, dass er mit seinen Eltern Kabul aufgrund des Bürgerkrieges zwischen den Paschtunen und den Hazara verlassen habe und nach Mazar-e-Sharif geflüchtet sei (VP S.13 f.). Sie hätten Kabul verlassen, da sie von einem Kommandanten der Paschtunen bedroht worden seien der auch das Haus der Schwester des Erstbeschwerdeführers bombardiert hätte. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan bestünde nach wie vor die Gefahr, durch diesen Kommandanten getötet zu werden (VP S.14 f.). Aus Mazar-e-Sharif seien sie aufgrund der Bedrohung durch die Taliban geflüchtet. Im Jahr 2011 sei der Erstbeschwerdeführer nach Mazar-e-Sharif zurückgekehrt. Dabei sei von Unbekannten auf ihn geschossen worden (VP S.14 f.).

Diesem Vorbringen kommt aus nachfolgenden Gründen keine Glaubhaftigkeit zu:

Das Gericht geht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung aufgrund des dabei vom Erstbeschwerdeführer gewonnenen persönlichen Eindrucks davon aus, dass ihm hinsichtlich seines Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukommt. Der Erstbeschwerdeführer wurde zu Beginn der Verhandlung angehalten, sein Vorbringen detailliert, konkret und nachvollziehbar zu gestalten. Diesen Anforderungen ist er jedoch nicht gerecht geworden, zumal er lediglich eine grobe Rahmengeschichte präsentierte. Zudem ergaben sich viele Widersprüche und Unplausibilitäten, die seine Angaben unglaubhaft scheinen lassen. Das Gericht verkennt zwar nicht, dass die behaupteten Vorfälle schon einige Zeit zurückliegen und deshalb Erinnerungslücken einer vollkommen detaillierten Erzählung entgegenstehen können. Dass der Erstbeschwerdeführer die Ereignisse jedoch in einer derart oberflächlichen und nicht stringenten Weise wie in der mündlichen Verhandlung schildern würde, wäre allerdings nicht anzunehmen, hätten sich die Ereignisse tatsächlich so zugetragen und wären sie von fluchtauslösender Intensität.

Der Erstbeschwerdeführer erläuterte in der Verhandlung nur sehr vage und ungenau von wem er in Afghanistan bedroht worden sei: „Aus dem Grund haben wir damals Afghanistan verlassen, weil wir Probleme mit diesen Menschen, diesen Terroristen hatten.“ (VP S.14). Der Erstbeschwerdeführer gab in der Verhandlung an, er habe Kabul verlassen müssen, da seine Familie von einem Kommandanten der Paschtunen bedroht worden sei, der auch das Haus der Schwester des Erstbeschwerdeführers bombardiert hätte. In welchem Jahr sich dies ereignet hat, konnte der Erstbeschwerdeführer in der Verhandlung nicht angeben (VP S.16). Er gab an, bei einer Rückkehr nach Afghanistan bestünde nach wie vor die Gefahr durch den Kommandanten getötet zu werden (VP S.14 f.). Warum von dem Kommandanten ihm gegenüber eine konkrete Gefahr ausging, konnte der Erstbeschwerdeführer jedoch nicht darlegen. Bei der Schilderung warum ihm aktuell konkret bei einer Rückkehr Gefahr drohen würde blieb er sehr allgemein und vage: „Weil meine Feinde noch immer dort sind und stark und mächtig und immer noch an der Macht sind. Daher ist es nicht möglich, dort zu leben.“ (VP S.17)

Auch bei der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 15.02.2018 brachte der Erstbeschwerdeführer nur vage vor, dass sein Vater aufgrund einer finanziellen Unterstützung im Zuge des Bürgerkrieges an eine Partei Probleme mit den Terroristen bekommen hätte, und dass deshalb seine ganze Familie und auch er bedroht werden würde (AS 1003).

In der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde wurde er mehrfach aufgefordert die Personen, die er als seine „Feinde“ bezeichnete, zu beschreiben, anzugeben was sie arbeiten, ihr familiäres Umfeld zu beschreiben, ihren Wohnort zu nennen, etc. Der Erstbeschwerdeführer konnte jedoch bis auf die zwei Namen und die Funktionen der zwei Personen in der namentlich genannten Partei, keine genauen Angaben machen (AS 1011 bis 1013).

Auch mit dem Vorbringen in der Beschwerde, der namentlich genannte Anführer einer sunnitischen Gruppierung habe Massaker an schiitischen Hazara verübt und sei nach wie vor in Afghanistan aktiv, konnte der Erstbeschwerdeführer keine konkrete Gefahr ihm gegenüber glaubhaft machen. Auch das Vorbringen der zweite vom Erstbeschwerdeführer namentlich genannte Parteikommandant sei bekannt und zahlreicher Kriegsverbrechen bezichtigt, ist ein allgemeines Vorbringen, das keine konkrete Bedrohung dem Erstbeschwerdeführer gegenüber darlegt (Seite 3 f. der Beschwerde vom 19.03.2019).

Das Vorbringen in der Beschwerde, der Erstbeschwerdeführer könne keine genaueren Angaben über seine Feinde machen, da die Probleme des Erstbeschwerdeführers hauptsächlich daraus entstanden seien, dass er der Familie seines Vaters angehöre, der im Konflikt mit diesen Männern gestanden sei (Seite 7 der Beschwerde vom 19.03.2019), ist lediglich eine Bedrohung dem Vater des Erstbeschwerdeführers gegenüber zu entnehmen und bekräftigt nicht seinen eigenen, konkreten Fluchtgrund.

Der Beschwerdeführer gab in der Verhandlung an, er sei im Jahr 2011 nach Mazar-e-Sharif zurückgekehrt um die Hochzeitsfeier seines Bruders gemeinsam mit dem Vater der Braut zu organisieren. Dabei seien er und der Vater der Braut sowie ein Freund des Vaters der Braut - als sie im Auto auf dem Weg vom Hotel, in dem die Hochzeit gefeiert werden sollte, zurück zum Wohnsitz w

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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