TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/16 W203 2198577-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.03.2021
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Entscheidungsdatum

16.03.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W203 2198577-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.05.2018, Zl. 1123789706 - 161043565, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.03.2020 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer stellte am 27.07.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er an, dass er am XXXX in Kunduz, Afghanistan geboren und ledig sei. Er gehöre der tadschikischen Volksgruppe an und sei schiitischer Moslem. Er habe neun Jahre lang die Grundschule besucht und sei in Afghanistan zuletzt als Bauer berufstätig gewesen. In Afghanistan lebten noch seine Mutter sowie ein 19-jähriger und ein 13-jähriger Bruder des Beschwerdeführers. Drei Brüder und eine Schwester des Beschwerdeführers befänden sich aktuell in Österreich. Der Beschwerdeführer gab an, dass er vor ca. sechs Monaten beschlossen habe, Afghanistan zu verlassen, da in Kunduz Krieg geherrscht und die Familie keinen Schutz vor den Taliban gehabt habe. Im Falle einer Rückkehr fürchte er, von den Taliban getötet zu werden.

3.       Am 19.04.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen dieser Befragung gab er an, dass er Paschtune und in der Provinz Kunduz, im Dorf XXXX , geboren sei. Er habe die Schule zunächst in seinem Heimatdorf, später auch im Dorf XXXX besucht. Er habe aber die Schule in der zehnten Klasse aufgrund des Umstandes, dass die Taliban Kunduz eingenommen hätten, abbrechen müssen. Nachdem der Vater des Beschwerdeführers, der als Landwirt und Tierzüchter tätig gewesen sei, getötet worden sei, hätten dessen Brüder die Versorgung der Familie übernommen. Inzwischen lebe niemand mehr aus der Familie des Beschwerdeführers in Afghanistan, dessen Mutter und dessen Onkel würden mittlerweile im Iran leben.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass dessen Bruder namens XXXX in Rumänien Medizin studiert habe. Nach vier Jahren sei dieser nach Afghanistan zurückgekommen, um für sein Land zu arbeiten. Neun Tage, nachdem der Bruder des Beschwerdeführers nach Hause zurückgekehrt sei, seien in der Nacht sechst Taliban zum Haus der Familie gekommen und hätten vom Vater des Beschwerdeführers verlangt, dass dessen Sohn, der im Ausland Medizin studiert habe, für die Taliban arbeiten solle. Sollte er die Zusammenarbeit mit den Taliban verweigern, wäre für diese klar, dass er ein „Agent für die Ausländer“ sei. Die Taliban hätten den Angaben des Vater des Beschwerdeführers, dass dessen von den Taliban gesuchter Sohn nicht nach Hause gekommen sei, nicht geglaubt und das Haus durchsucht, den Gesuchten aber nicht finden können, da dieser inzwischen durch ein Fenster geflohen sei. Daraufhin hätten die Taliban gedroht, dass sie – falls man ihnen den gesuchten Bruder des Beschwerdeführers nicht ausliefere – an dessen Stelle den Beschwerdeführer, dessen Vater und dessen Brüder mitnehmen würden. Unmittelbar danach sei XXXX , der Bruder des Beschwerdeführers, geflohen. Vier Tage danach, als die Brüder des Beschwerdeführers mit Feldarbeiten beschäftigt gewesen wären und nur der Beschwerdeführer, dessen Vater und die Frauen zu Hause gewesen seien, seien die Taliban nochmals zum Haus der Familie gekommen und hätten den Vater des Beschwerdeführers mitgenommen. Weitere zwei Tage danach sei ein mit drei Taliban besetztes Auto bei dem Haus vorgefahren, dabei sei der Leichnam des Vaters des Beschwerdeführers vor der Eingangstür aus dem Auto geworfen worden. Der Vater des Beschwerdeführers sei zunächst misshandelt und anschließend mit zehn bis zwölf Schüssen in die Brust getötet worden. Einer der Insassen des Autos habe angekündigt, dass die Taliban nochmals kommen und alle mitnehmen würden. Die Familie habe daraufhin beschlossen, XXXX , welches sich in der Hand der Taliban befunden habe, zu verlassen, und in das Dorf XXXX , welches sich in der Hand der Regierung befunden habe, zu ziehen. Nach mehr als zwei Jahren sei schließlich auch XXXX von den Taliban erobert worden und diese hätten auch das nunmehrige Haus der Familie des Beschwerdeführers aufgesucht. Die Taliban hätten der Familie des Beschwerdeführers ausgerichtet, dass sie sie – egal, wohin sie auch gingen - überall finden würden. Der Beschwerdeführer und dessen Brüder seien von den Taliban geschlagen, misshandelt und zum Teil verletzt worden. Die Taliban hätten auch geplant gehabt, alle mit dem Auto mitzunehmen, allerdings hätten sie kurzfristig abziehen müssen, weil sie „woanders gebraucht“ worden wären. Einer der Taliban habe auch gemeint, sie könnten die Familie ruhig einstweilen zurücklassen, weil diese ohnehin nirgendwohin fliehen könne, weil ganz Kunduz in der Hand der Taliban sei. Nachdem einige der Brüder kurz im Krankenhaus behandelt werden hätten müssen, seien sie noch in derselben Nacht mit zwei gemieteten Autos in die Stadt Kunduz und von dort weiter nach Kabul geflohen. Auch in Kabul hätten der Beschwerdeführer und dessen Familie Angst gehabt, von Spionen der Taliban entdeckt und verraten zu werden. Nach ein paar Monaten und nachdem ein Nachbar der Familie deren Grundstücke verkauft gehabt hätte, habe die Familie – auf zwei Gruppen aufgeteilt - schließlich unter Einsatz der durch die Grundstücksverkäufe erwirtschafteten finanziellen Mittel schlepperunterstützt Afghanistan verlassen.

4.       Mit Bescheid vom 15.05.2018, Zl. 1123789706 - 161043565, (im Folgenden: angefochtener Bescheid) wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (Spruchpunkt I) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass nicht festgestellt werden habe können, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan Verfolgung aus einem asylrelevanten Grund drohe.

5.       Gegen den angefochtenen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 12.06.2018 fristgerecht Beschwerde.

6. Einlangend am 18.06.2018 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen.

7. Am 03.03.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der der Beschwerdeführer bzw. dessen Vertretung sowie die belangte Behörde als Parteien geladen waren. Ein Vertreter der belangten Behörde erschien zur Verhandlung nicht.

Zu Beginn der Verhandlung legte der Beschwerdeführer u.a. eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs (Niveau B1), mehrere Bestätigungen über gemeinnützige Tätigkeiten des Beschwerdeführers in der Gemeinde XXXX , Fotos betreffend die Teilnahme des Beschwerdeführers am Nikolausmarkt in XXXX sowie eine Bestätigung über den Austritt des Beschwerdeführers aus der islamischen Glaubensgemeinschaft vom 04.12.2019 vor.

Nachgefragt, warum er aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten sei, gab der Beschwerdeführer an, dass es dafür viele Gründe gebe. Erste Zweifel habe er nach den Vorfällen in XXXX gehegt. Er sei nur zwangsweise Moslem gewesen, er habe nie die Möglichkeit gehabt, sich frei für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung zu entscheiden. Je mehr er über den Islam nachgedacht habe, desto mehr sei er zur Ansicht gelangt, dass dieser nichts als Unglück über die Gesellschaft und auch über ihn selbst gebracht habe. Als Moslem habe er nur „Schwierigkeiten, Unglück und Leid“ erlebt und erfahren. Viele islamische Vorschriften seien nicht mehr zeitgemäß und auf die „moderne Zeit“ nicht übertragbar. Bei der Verrichtung der Gebete müsse man sich niederwerfen, was gleichsam wie „Reden mit dem Boden“ erscheine, was dem Beschwerdeführer absurd vorkomme. Die Sitten und Vorschriften im Islam – z.B., dass man einem Dieb die Hand abhacken müsse, sodass dieser den Rest seines Lebens betteln müsse – passten überhaupt nicht mehr in die „moderne Zeit“. Die alten Sitten und Vorschriften des Islam würden von vielen – z.B. den Taliban – nur vorgeschützt, um leichter an deren eigene Ziele zu gelangen. Nach Ansicht des Beschwerdeführers hätten Männer und Frauen „denselben Wert“, gemäß dem Islam sei das aber nicht der Fall. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde der Austritt des Beschwerdeführers aus der islamischen Glaubensgemeinschaft für ihn eine große Gefahr darstellen, es würde ihm die Todesstrafe durch Köpfen oder Erschießen drohen. Er wolle auch in Afghanistan seine Ansichten gegenüber dem Islam nicht verbergen und würde sich auch durch den Nichtbesuch der Moschee „verdächtig“ machen.

Der Beschwerdeführer gab auch an, dass er tatsächlich Paschtune und nicht Tadschike sei. Der zuständige Polizeibeamte habe das aber bei der Erstbefragung „einfach so“ falsch protokolliert, obwohl er nie gesagt habe, Tadschike zu sein.

Nach seinen Fluchtgründen befragt wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen seine bereits bei der Befragung durch die belangte Behörde getätigten Angaben.

Im Rahmen der Verhandlung gab der Beschwerdeführer über seine Vertretung eine schriftliche Stellungnahme zu seinem Beschwerdevorbringen ab, in der er im Wesentlichen u.a. ausführte, dass er sich während seines Aufenthalts in Österreich vom Islam abgewendet habe. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er asylrelevante Verfolgung einerseits auf der ihm durch die radikalislamischen Taliban unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung und andererseits aufgrund seines Abfalls vom Islam. Der Beschwerdeführer sei ein „aufgeklärter junger Mann mit gefestigter areligiöser Überzeugung“, der keiner Religion (mehr) folge und über ein durch Selbstbestimmung geprägtes Menschenbild verfüge. Er könnte bzw. würde seine Apostasie auch in Afghanistan nicht verleugnen. Aus den Länderberichten gehe hervor, dass Apostasie in Afghanistan mit der Todesstrafe geahndet werde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu dessen Situation im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er wurde als schiitischer Moslem in Afghanistan in der Provinz Kunduz geboren und hat dort ca. neun Jahre lang die Grundschule besucht. Er hat – nachdem die Taliban sein Heimatdorf eingenommen hatten – dieses im Kindesalter mit seiner Familie verlassen und sich für etwas mehr als zwei Jahre in einem benachbarten Dorf niedergelassen. Nachdem die Taliban auch am neuen Aufenthaltsort der Familie des Beschwerdeführers die Macht übernommen hatten, ist dieser zunächst nach Kunduz und anschließend nach Kabul übersiedelt, bevor er schließlich mit weiteren Familienangehörigen Afghanistan zu Beginn des Jahres 2016 verlassen hat.

In Afghanistan sind der Beschwerdeführer sowie dessen gesamte Familie aufgrund des Umstandes, dass ein Bruder des Beschwerdeführers, der im Ausland Medizin studiert hatte, nach dessen Rückkehr nicht bereit war, für die Taliban zu arbeiten und dass dessen Familie trotz mehrmaliger Intervention durch die Taliban nicht bereit war, diesen an die Taliban auszuliefern, in das Visier der Taliban geraten. Die Familie des Beschwerdeführers wurde auch mehrmals von den Taliban aufgesucht, bedroht und misshandelt, der Vater des Beschwerdeführers wurde von den Taliban entführt und getötet.

Derzeit verfügt der Beschwerdeführer über keine in Afghanistan aufhältigen Familienmitglieder, drei Brüder und eine Schwester des Beschwerdeführers sind in Österreich aufhältig und verfügen hier über den Status von Asylberechtigten.

Der Beschwerdeführer führt seit seinem Aufenthalt in Österreich einen nichtreligiösen Lebensstil. Er beschäftigt sich mit Fragen zur Religion, insbesondere zum Islam, und hinterfragt die im Islam gelebten und geforderten Sitten und Bräuche kritisch. Der Beschwerdeführer lehnt Religion und speziell den Islam ab. Er ist nicht bereit, diese bereits gefestigte, die Religion ablehnende Haltung in Zukunft wieder aufzugeben oder religionskritische Äußerungen zu unterlassen.

Am 04.12.2019 erklärte der Beschwerdeführer schriftlich seinen Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im ganzen Land die Gefahr, aufgrund eines asylrechtlich relevanten Grundes, nämlich seiner religiösen Gesinnung, verfolgt zu werden.

Für den Beschwerdeführer besteht in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, zuletzt gesamtaktualisiert am 16.12.2020, wird auszugsweise und beschränkt auf die relevanten Abschnitte wie folgt angeführt:

1.2.1. Zur Lage in der Provinz Kunduz:

Die Provinz Kunduz liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan, im Osten an die Provinz Takhar, im Süden an die Provinz Baghlan und im Westen an die Provinz Balkh (UNOCHA Kunduz 4.2014). Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt) (OP Kunduz 1.2.1017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz und Qala-e-Zal (NSIA 1.6.2020; cf. IEC Kunduz 2019), sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa (NSIA 1.6.2020). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Kunduz im Zeitraum 2020-21 auf 1,136.677 Personen, 365.529 davon in der Provinzhauptstadt (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai (NPS Kunduz o.D.; vgl. OP Kunduz 1.2.2017).

Strategisch wurde Kunduz als „Tor im Norden“ zu den bodenschatzreichen Provinzen und nach

Zentralasien bezeichnet. Es ist ein Knotenpunkt für Transport (REU 14.9.2020) und Drogenschmuggel (REU 14.9.2020; vgl. UNSC 27.5.2020). Ein Abschnitt des asiatischen Highway AH7 führt von Kabul aus durch die Provinzen Parwan und Baghlan und verbindet die Hauptstadt mit der Provinz Kunduz und dem Grenzübergang nach Tadschikistan beim Hafen von Sher Khan (auch Sher Khan Bandar) (MoPW 16.10.2015; vgl. LCA 24.4.2019, RFE/RL 26.8.2007). Der National Highway 93 (NH93) verläuft von Kunduz ostwärts durch den Distrikt Khanabad nach Takhar und Badakhshan (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA Kunduz 4.2014, AAN 12.10.2016). In Richtung Khulm in der Provinz Balkh im Westen befindet sich ein National Highway derzeit in Bau. Es wird erwartet, dass die Wegstrecke und -zeit zwischen Kunduz und Khulm durch seine Fertigstellung erheblich verkürzt wird (GAFG 23.8.2020, GIZ 7.2019).

Laut Bewohnern von Kunduz stellt die Unsicherheit auf den Landrouten in der Provinz eine große Herausforderung dar (FRP 30.9.2020; vgl. PAJ 22.6.2020). Die Strecke von Kunduz in

Richtung Süden nach Baghlan wurde im Juni 2020 als „gut gepflastert und ruhig“ beschrieben,

wiewohl sie teilweise durch Taliban-Territorium führt (TEL 10.6.2020). Aufständische errichten dort (TEL 10.6.2020, PAJ 22.6.2020) wie auch auf der Strecke Takhar-Kunduz Kontrollpunkte (PAJ 22.6.2020, ST 8.6.2020, AAN 21.3.2020). Der NH93 zwischen Takhar und Kunduz war zudem im Jahr 2020 wegen Kämpfen vorübergehend gesperrt (XI 6.10.2020, MENAFN 15.8.2020, ST 8.6.2020).

Mit Stand November 2020 gibt es Linienflugverbindungen zwischen Kabul und Kunduz (Kam

Air Kunduz o.D., FRP 30.9.2020).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteuren:

Kunduz war die letzte Taliban-Hochburg vor deren Sturz 2001 (RFE/RL o.D.). Sowohl 2015 als

auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz City durch die Taliban (UNAMA 24.2.2019) und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein (BAMF 2.9.2019): Keine andere Provinzhauptstadt ist von allen Seiten so nachhaltig unter Druck geraten. Die Taliban infiltrieren weiterhin ihre Außenbezirke (AAN 12.10.2020). Laut einer Quelle vom Oktober 2019 versuchen die Taliban, Kunduz-Stadt jährlich anzugreifen, um zu zeigen, dass sie dazu fähig sind (STDOK 21.7.2020). Im November 2020 schätzte das Long War Journal (LWJ) die Distrikte Aqtash, Calbad, Dasht-e-Archi, Gultipa und Khan Abad im Osten sowie Qala-e-Zal im Westen als unter Talibankontrolle stehend ein. Die übrigen Distrikte galten als umstritten (LWJ o.D.), während eine andere Quelle schätzte, dass im Oktober 2019 ganz Kunduz abseits seiner Verwaltungszentren unter der Kontrolle der Taliban stand (STDOK 21.7.2020).

Al Qaida ist in der Provinz verdeckt aktiv. Darüber hinaus operiert das unter dem Kommando

und der finanziellen Kontrolle der Taliban stehende Islamic Movement of Uzbekistan (IMU,

manchmal auch Jundullah genannt) und auch das Eastern Turkestan Islamic Movement (ETIM) in Kunduz (UNSC 27.5.2020). Nach afghanischen Militäroperationen in Kunduz in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 zerstreuten sich ausländische terroristische Kämpfer aus China, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan und anderswo in kleine Gruppen und flüchteten in andere Provinzen (UN-Sicherheitsrat 20.1.2020). 2019 wurde berichtet, dass Zellen des Islamischen Staates in Kunduz aufgetaucht seien (NYT 14.6.2019; vgl. JF 6.4.2018) [zu einer Präsenz des ISKP in Kunduz konnten jedoch keine aktuellen Informationen gefunden werden, Anm.].

Auf Regierungsseite befindet sich Kunduz im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps (USDOD 1.7.2020, TST 17.6.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Ende November zog die Bundeswehr aus ihrem Stützpunkt in Kunduz ab. Die Soldaten wurden nach Mazar-e Sharif verlegt (BAMF 30.11.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung [...]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 492 zivile Opfer (141 Tote und 351 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einer Steigerung von 46% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffen (UNAMA 2.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 gehörte Kunduz zu den fünf Provinzen Afghanistans, in denen die Zivilbevölkerung am stärksten von dem Konflikt betroffen war (insgesamt 205 zivile Opfer) (UNAMA 7.2020). Im September und Mai 2020 dokumentierte UNAMA den Tod mehrerer Zivilisten aufgrund von Luftangriffen der Regierungstruppen (UNAMA 10.2020, UNAMA 7.2020), und es wurde von mehreren Vorfällen mit zivilen Opfern aufgrund von Mörserbeschuss berichtet (GW 20.11.2020, RY 12.10.2020, NYTM 01.10.2020, NYTM 27.02.2020).

Ende August und im Mai 2020 starteten die Taliban Offensiven gegen die Stadt Kunduz, wobei sie im August mehrere Kontrollpunkte und zwei Stützpunkte an den Hauptverkehrsstraßen in die Stadt einnahmen und im Mai Außenposten im Sicherheitsgürtel um die Stadt aus mehreren Richtungen angriffen. Unterstützt von der afghanischen Luftwaffe konnten beide Offensiven schließlich abgewehrt werden (REU 14.09.2020, NYT 19.05.2020, FR24 19.05.2020, WP 19.05.2020). Weitere Taliban-Angriffe auf Distriktzentren (XI 08.09.2020, NYTM 30.04.2020) und Sicherheitsposten in verschiedenen Distrikten wurden gemeldet (GW 03.11.2020, NYTM 29.10.2020, XI 28.09.2020, PT 20.09.2020, NYTM 28.08.2020, VOA 20.07.2020, TST 17.06.2020, NYTM 30.04.2020, NYTM 27.02.2020, GW 16.01.2020), und die Regierungstruppen führten in Kunduz Operationen und Vergeltungsschläge aus der Luft durch (XI 6.10.2020, PT 20.09.2020, MENAFN 21.08.2020, KP 17.12.2019).

Es wurde über Vorfälle mit IEDs berichtet, wie z.B. Detonationen von Sprengfallen am (NYTM 29.10.2020, NYTM 01.10.2020, AJ 02.06.2020, NYTM 27.02.2020, PAJ 14.02.2020) und eines an einem Fahrzeug befestigten IEDs (vehicle-borne IED, VBIED) in Kunduz-Stadt (FR24 19.05.2020). Auch fand ein Angriff auf Sicherheitspersonal auf dem Gelände des Gouverneursgebäudes in Kunduz-Stadt statt, bei dem möglicherweise ein an einer kleinen Drohne befestigter Sprengsatz verwendet wurde (NYT 01.11.2020b; vgl. TRT 24.11.2020). Weiters wurde auch über Entführungen und Tötungen in der Provinz berichtet (NYTM 29.10.2020, NYTM 27.02.2020). [...]

1.2.2. Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 06.10.2020; vgl. AA 16.07.2020).

Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.07.2020; vgl. CIA 06.10.2020, USDOS 10.06.2020).

Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.06.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.08.2019; vgl. BBC 11.04.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.06.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.06.2020; vgl. FH 04.03.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.06.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.07.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.06.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.06.2020; vgl. AA 16.07.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.06.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 08.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.06.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.06.2020; vgl. AA 16.07.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.06.2020).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.06.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.06.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.06.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.06.2020).

Anmerkung: Zu Konversion, Apostasie und Blasphemie siehe die jeweiligen Unterkapitel des Kapitels Religionsfreiheit

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 10.06.2020).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.03.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 10.06.2020; vgl. FH 04.03.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 10.06.2020).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 10.06.2020). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 10.06.2020).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 10.06.2020).

1.2.3. Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (FH 04.03.2020; vgl AA 16.07.2020, USDOS 10.06.2020).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 16.07.2020). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 10.06.2020) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (MoJ 15.05.2017: Artikel 323).

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 10.06.2020; AA 16.07.2020); jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.06.2020) Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen (LIFOS 21.12.2017; vgl. RA KBL 10.06.2020) - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen, und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird (AA 16.07.2020). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 04.03.2020). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.03.2020).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 10.06.2020). [...]“

1.2.4. Zur Rekrutierung durch die Taliban:

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anmerkung: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta /Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.06.2017). Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.06.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.06.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen.

Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.06.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.06.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.08.2019).

Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 29.06.2017). Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.06.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.06.2017).

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und (früheren) Religionszugehörigkeit, zur Herkunft und zu den Familienverhältnissen des Beschwerdeführers stützen sich auf die diesbezüglich im Wesentlichen gleichbleibenden und übereinstimmenden Angaben im gesamten Verfahren, die – zum Teil - bereits von der Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegt wurden.

Die Feststellungen, dass bzw. warum der Beschwerdeführer und dessen Familie in das Visier der Taliban geraten sind und zu den bereits von den Taliban gegen die Familie gesetzten Verfolgungshandlungen ergeben sich ebenfalls aus den diesbezüglich von Anfang an getätigten und während des gesamten Verfahrens gleichlautenden Angaben des Beschwerdeführers. Die Glaubhaftigkeit dieser Angaben wird auch dadurch bekräftigt, dass der Bruder des Beschwerdeführers in der zur Zahl W144 2198586-1 anberaumten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, die gänzlich unabhängig und getrennt vom gegenständlichen Verfahren durchgeführt wurde, diesbezüglich im Wesentlichen ein inhaltlich identes Vorbringen tätigte.

Die Feststellungen zum nichtreligiösen Lebensstil des Beschwerdeführers, dessen religionskritischer Geisteshaltung und zu dessen Nichtbereitschaft, zukünftig auf religionskritische Äußerungen zu verzichten, ergeben sich aus dessen während der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht getätigtem, glaubhaften Vorbringen, aus der in der Verhandlung zu Protokoll gegebenen schriftlichen Stellungnahme des Beschwerdeführers sowie aus dem dem Gericht vorliegenden, schriftlich erklärten Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft. Dass dieser Austritt aus innerer Überzeugung und nicht etwa deswegen erfolgte, um die Chancen in einem anhängigen Verfahren zur Erlangung von internationalem Schutz zu erhöhen, erfolgte, ergibt sich schon daraus, dass gegenständlich diese Erklärung bereits Ende 2019 erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, in dem die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht noch nicht anberaumt war und dem Beschwerdeführer somit auch nicht bekannt sein konnte, dass eine solche geplant ist. Aus zahlreichen vom erkennenden Richter abgeführten Asylverfahren lässt sich der Schluss ziehen, dass derartige, kurzfristige Austritte aus der islamischen Glaubensgemeinschaft häufig erst – als Reaktion auf die Ladung zu einer mündlichen Verhandlung – unmittelbar vor Durchführung derselben erfolgten, was nahelegt, dass diese Vorgehensweise nur deswegen gewählt wurde, um die Chancen auf einen aus Sicht des Beschwerdeführers positiven Ausgang des Verfahrens zu steigern. Verfahrensgegenständlich war dies aber – wie oben ausgeführt – gerade nicht der Fall. Auch die während seines Aufwachsens in Afghanistan erlebten Erfahrungen mit den Taliban, einer Gruppierung, die aus Sicht des Beschwerdeführers als fundamental-islamisch und die Grundsätze der Scharia praktizierend anzusehen ist, legen nahe, dass bei ihm Zweifel an der Religion im Allgemeinen und am Islam im Besonderen bzw. an den in seiner Heimat zu Tage getretenen Auswüchsen desselben aufkommen haben lassen. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass sich das Vorbringen, der Beschwerdeführer habe sich aus innerster Überzeugung ernsthaft und nachhaltig vom Islam abgewendet, als glaubhaft erweist.

Aufgrund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer schon seit mehreren Jahren religionskritisch bzw. „religionslos“ lebt, ist auch davon auszugehen, dass sich diese Geisteshaltung schon derart verfestigt hat, dass er nicht bereit ist, dies zukünftig zu ändern oder zumindest vor seiner Umgebung zu verheimlichen, und zwar unabhängig davon, ob in Österreich oder in seinem Herkunftsstaat. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass das politische und gesellschaftliche Leben in Afghanistan in einem hohen Maß von den Inhalten und Lehren des Koran und vor allem der Scharia geprägt ist, sodass ein nichtreligiöser Lebensstil dort viel stärker negativ gesehen wird wie in etwaigen anderen islamischen Staaten.

Zusammengefasst ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht bloß zum Schein oder zwecks besserer Chancen im Rahmen seines Asylverfahrens vom Islam abgefallen ist, sondern dass er aus Überzeugung Religionen im Allgemeinen und den Islam im Besonderen ablehnt und gewillt ist, dies auch zukünftig so zu halten. Von einer etwaigen „Apostasie zum Schein“ ist demnach nicht auszugehen.

Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers ergeben sich aus den herangezogenen Länderberichten, die der Entscheidung zugrunde gelegt wurden. Die Verfahrensparteien sind deren Richtigkeit nicht entgegengetreten. Bei den angeführten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter, teilweise vor Ort agierender staatlicher und nicht staatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

Dass der Beschwerdeführer nicht straffällig geworden ist, ergibt sich aus der Einsicht in einen aktuellen Strafregisterauszug.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1 Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da eine Senatsentscheidung in den einschlägigen Bundesgesetzen nicht vorgesehen ist, liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer eheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG sind die Erkenntnisse im Namen der Republik zu verkünden und auszufertigen. Sie sind zu begründen.

3.2. Zu Spruchpunkt A)

3.2.1.  Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

Gemäß Art. 5 Abs. 1 der Statusrichtlinie, die mit § 3 Abs. 2 AsylG 2005 umgesetzt wird, kann die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat. Gemäß Art. 5 Abs. 2 leg. cit. kann die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

§ 3 Abs. 2 AsylG 2005 bestimmt - in Anlehnung an Art. 5 Abs. 1 der Statusrichtlinie - nunmehr ausdrücklich, dass die Verfolgung aus Nachfluchtgründen resultieren kann, und unterscheidet zwischen objektiven und subjektiven Nachfluchtgründen. Unter dem Begriff „subjektive Nachfluchtgründe“ wird von § 3 Abs. 2 AsylG 2005 - in Anlehnung an Art. 5 Abs. 2 der Statusrichtlinie - eine Verfolgung verstanden, die auf Aktivitäten beruht, die der Fremde seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind. Eine Einschränkung des Flüchtlingsbegriffes ergibt sich daraus nicht; aus der Verwendung des Wortes „insbesondere“ ist abzuleiten, dass auch Aktivitäten relevant sein können, die nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (vgl. Frank/Anerinhof/Filzwieser, AsylG 2005, K62 zu § 3).

3.2.2.  Das Bundesverwaltungsgericht geht auf Grund des in das Verfahren eingeführten Länderberichtsmaterials und auf Grund des glaubhaften Vorbringens des Beschwerdeführers (siehe dazu näher unter „Beweiswürdigung“) davon aus, dass dem Beschwerdeführer auf Grund seiner ihm unterstellten religiösen Gesinnung – nämlich seiner „Ungläubigkeit“ - in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen maßgeblicher Intensität drohen würden.

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, begründet ist.

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.

Mit seinem Vorbringen macht der Beschwerdeführer den Fluchtgrund der Verfolgung aus religiösen Gründen geltend.

Ausschlaggebend ist, ob die religiöse Einstellung des Asylwerbers – hier: dessen „Ungläubigkeit“ in Folge Abfalls vom Islam - im Heimatstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer asylrelevanten Verfolgung führen würde (vgl. dazu VwGH 30.06.2005, 2003/20/0544).

Laut den aktuellen Länderberichten ist die Religionsfreiheit zwar in der afghanischen Verfassung verankert, was allerdings nur für Anhänger anderer Religionen als den Islam gilt. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans (Art. 2 der Verfassung). Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen. Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Der islamische Klerus sowie viele Bürgerinnen und Bürger sehen den Abfall vom Islam als Verstoß gegen die Grundsätze des Islam an, der mit Todesstrafe bedroht ist.

Es ist nach dem Gesagten nicht davon auszugehen, dass der afghanische Staat – sofern er nicht selbst wegen des Verstoßes gegen die Scharia bzw. wegen Apostasie verfolgt – in der Lage wäre, Personen, die von Seiten nichtstaatlicher Akteure bedroht und sozial geächtet werden, ausreichend Schutz zu gewähren. Der afghanische Staat ist nur sehr beschränkt in der Lage, die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung zu garantieren, die Zentralregier

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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