Entscheidungsdatum
23.03.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W139 2179499-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 08.11.2017, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.01.2021 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX , geboren am XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem, stellte am 09.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In seiner Erstbefragung am 09.06.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer an, ledig zu sein. Er stamme aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Maidan Wardak befinde. Der Beschwerdeführer verfüge über eine achtjährige Schulbildung. Seine Eltern seien bereits verstorben und er habe einen jüngeren Bruder im Alter von etwa neun Jahren. Die Reise nach Europa habe etwa sechs Monate gedauert.
Befragt zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, dass er in Afghanistan nicht mehr sicher sei, da seine Eltern verstorben seien. Vor etwa sechs Monaten sei er mit seinem jüngeren Bruder nach Kabul gereist. Dort habe er seinen Bruder aus den Augen verloren, da Krieg herrsche. Der Beschwerdeführer habe seinen Bruder etwa einen Monat lang gesucht. Aus Angst vor den Taliban habe er sich entschlossen, Afghanistan zu verlassen.
3. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 25.08.2016, zu XXXX , wurde die Obsorge für den Beschwerdeführer dem Land XXXX übertragen.
4. Die niederschriftliche Einvernahme vor der belangten Behörde am 31.10.2017 wurde aufgrund der sehr guten Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers, bis auf den Fluchtgrund, auf Deutsch geführt. Der Beschwerdeführer führte aus, Dari, Farsi, Englisch, Deutsch und ein wenig Paschtu zu sprechen. Das in der Erstbefragung angeführte Geburtsdatum sei falsch. Der Beschwerdeführer legte diverse Integrationsunterlagen und eine Kopie seiner Tazkira vor.
Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er Afghanistan verlassen habe, bevor er verfolgt worden wäre.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.11.2017, der dem Beschwerdeführer am 13.11.2017 zugestellt wurde, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Absatz 4 AsylG 2005 bis zum 07.11.2018, die sodann von der belangten Behörde bis zum 07.11.2020 verlängert wurde und nach einer erneuten Verlängerung bis 20.11.2022 gültig ist.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 09.11.2017 wurde dem Beschwerdeführer der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberatung für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
7. Am 11.12.2017 brachte der Beschwerdeführer – fristgerecht – Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des genannten Bescheides ein. In der Beschwerde wurde angeführt, dass der Beschwerdeführer der sozialen Gruppe der „Männer im wehrfähigen Alter“ angehöre und im Falle einer Rückkehr von Zwangsrekrutierung betroffen sein könnte.
8. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 13.12.2017 mit Schreiben vom 12.12.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
9. Am 11.01.2021 legte der Beschwerdeführer eine Vollmacht für die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH vor.
10. Am 13.01.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, bei welcher der Beschwerdeführer, im Beisein seiner Rechtsvertreterin, einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.
In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurden vom Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.
Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer u.a. ausführlich zu seiner Identität und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen persönlichen Verhältnissen und seinem Leben in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Fluchtgründen befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Aufgrund des Asylantrags vom 09.06.2016, der Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 09.06.2016, und der Einvernahme durch die belangte Behörde am 31.10.2017, der Beschwerde vom 11.12.2017 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 08.11.2017, der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung am 13.01.2021, wurden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, außerdem spricht er Farsi, Englisch, Deutsch und ein wenig Paschtu. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX welches im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Maidan Wardak liegt. Seine Eltern sind bereits verstorben. Der Beschwerdeführer hat einen Onkel väterlicherseits, welcher ebenfalls im Distrikt XXXX , in Maidan Wardak lebt. Der jüngere Bruder des Beschwerdeführers befindet sich ebenfalls in Afghanistan und lebt beim Onkel. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt zu seinem Onkel und seinem Bruder.
Der Beschwerdeführer besuchte acht Jahre lang eine Schule in Afghanistan. Er hat seinem Onkel gelegentlich in der Landwirtschaft geholfen, verfügt jedoch über keine sonstige Arbeitserfahrung.
Am 09.06.2016 stellte der Beschwerdeführer als Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid vom 08.11.2017 der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 AsylG (2005) zuerkannt und dieser zuletzt bis zum 20.11.2022 verlängert.
Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig, er ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan ohne jemals von Taliban oder sonstigen Akteuren verfolgt oder bedroht worden zu sein. Es kann nicht festgestellt werden, dass es jemals zu einem Versuch einer Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers durch die Taliban oder sonstige Akteure gekommen ist oder dass er bei Rückkehr nach Afghanistan einer solchen Bedrohung ausgesetzt wäre.
1.2.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im hypothetischen Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete und persönliche Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private, speziell durch die Taliban, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) zu erwarten hätte.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
a. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018
b. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 16.12.2020
c. EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, vom Juni 2019 und Dezember 2020
a. Aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30. August 2018:
„[…]
III. Internationaler Schutzbedarf
Personen, die aus Afghanistan fliehen, kann Verfolgung aus Gründen drohen, die mit dem fortwährenden bewaffneten Konflikt in Afghanistan oder mit Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder aufgrund einer Kombination beider Gründe. UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren in diesem Abschnitt beschriebenen Risikoprofilen entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen. Die Aufzählung der hier aufgeführten Profile ist nicht unbedingt vollständig; sie beruhen auf dem Kenntnisstand von UNHCR auf Grundlage der zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Richtlinien vorliegenden Informationen. Ein Antrag sollte nicht automatisch als unbegründet erachtet werden, nur weil er keinem der hier aufgeführten Profile entspricht.
Je nach den spezifischen Umständen des Falles können auch Familienangehörige oder andere Mitglieder des Haushalts von Personen mit diesen Profilen aufgrund ihrer Verbindung mit der gefährdeten Person internationalen Schutz benötigen.
In Afghanistan ist weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen. Personen, die im Kontext dieses bewaffneten Konflikts vor Gewalt oder angedrohter Gewalt fliehen, können die Kriterien der Flüchtlingseigenschaft gemäß Artikel 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 erfüllen. Das ist dann der Fall, wenn die sich aus der Gewalt ergebende Verfolgung zusätzlich an einen Konventionsgrund anknüpft. Im Kontext von Afghanistan gehören zu den Beispielen für Bedingungen, unter denen Zivilisten gemäß einem Konventionsgrund Opfer von Gewalt werden, Situationen, in denen sich die Gewalt gegen Gebiete richtet, in denen vorwiegend Zivilisten mit spezifischen ethnischen, politischen oder religiösen Profilen leben, oder gegen Orte, an denen sich Zivilisten mit derartigen Profilen vorwiegend versammeln (einschließlich Märkten Moscheen, Schulen oder größerer gesellschaftlicher Zusammenkünfte wie Hochzeiten). Um die Flüchtlingseigenschaft zu erfüllen, ist es nicht erforderlich, dass die schutzsuchende Person dem/den Verfolgungsakteur/en persönlich bekannt ist oder persönlich von diesem/n Akteur/en ausfindig gemacht wird. Auf ähnliche Weise können ganze Gemeinschaften eine begründete Furcht vor Verfolgung aus einem oder mehreren Konventionsgründen haben; zu den Voraussetzungen gehört nicht, dass eine Person einer anderen Art oder einem anderen Ausmaß an Schaden ausgesetzt ist als andere Personen mit dem gleichen Profil.
Damit Zivilisten, die vor Gewalt fliehen, in den Schutzbereich von Artikel 1 A (2) GFK fallen, müssen die Auswirkungen der Gewalt hinreichend schwerwiegend sein, sodass sie die Schwelle der Verfolgung erreichen. Die Gefahr, dass eine Person ständiger Gewalt oder den Folgen von Gewalt ausgesetzt ist, kann jeweils einzeln oder kumulativ zu einer Verfolgung im Sinne von Artikel 1 A (2) GFK führen. Im Kontext des Konflikts in Afghanistan gehören zu den relevanten Erwägungen für die Einschätzung, ob die Konsequenzen der konfliktbezogenen Gewalt für Zivilisten hinreichend schwerwiegend sind, um die Schwelle der Verfolgung zu erreichen, die Anzahl der zivilen Opfer und der Sicherheitsvorfälle sowie schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die eine Bedrohungen des Lebens oder der Freiheit oder eine andere Art von ernsthaftem Schaden darstellen. Solche Erwägungen sind jedoch nicht auf direkte Auswirkungen von Gewalt beschränkt, sondern umfassen auch langfristige, indirektere Folgen von Gewalt einschließlich der Auswirkungen des Konflikts auf die Menschenrechtslage und das Ausmaß, in dem die Fähigkeit des Staates, Menschenrechte zu schützen, durch den Konflikt eingeschränkt ist. In dieser Hinsicht sind im Zusammenhang mit dem Konflikt in Afghanistan folgende Faktoren relevant:
(i) Kontrolle über die Zivilbevölkerung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs), unter anderem durch Auferlegung paralleler Justizstrukturen und Verhängung illegaler Strafen sowie Bedrohung und Einschüchterung von Zivilisten, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Erpressung und illegale Besteuerung
(ii) Zwangsrekrutierung
(iii) Auswirkung von Gewalt und Unsicherheit auf die humanitäre Situation in Form von Ernährungsunsicherheit, Armut und Zerstörung von Lebensgrundlagen
(iv) Hohes Maß an organisierter Kriminalität und die Möglichkeit von lokalen Machthabern („Strongmen“), Kriegsfürsten („Warlords“) und korrupten Staatsbediensteten, straflos tätig zu sein
(v) Systematische Beschränkung des Zugangs zu Bildung und zu grundlegender Gesundheitsversorgung infolge von Unsicherheit
(vi) Systematische Beschränkung der Teilhabe am öffentlichen Leben, insbesondere für Frauen
Alle Anträge von Asylsuchenden sollten in fairen und effizienten Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und anhand aktueller und relevanter Informationen über das Herkunftsland inhaltlich geprüft werden, gleichgültig, ob sie auf Grundlage der in der GFK festgelegten Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, der Flüchtlingsdefinition in regionalen Instrumenten, des Mandats von UNHCR oder auf ergänzende Schutzformen auf Grundlage weitergehender internationaler Kriterien für die Gewährung von internationalem Schutz untersucht werden. Bestimmte Anträge von Asylsuchenden aus Afghanistan sollten gegebenenfalls auf einen möglichen Ausschluss vom Flüchtlingsstatus (siehe Abschnitt III.D) geprüft werden.
Der Status anerkannter Flüchtlinge sollte nur dann überprüft werden, wenn in Einzelfällen Anhaltspunkte vorhanden sind, dass Gründe
(i) für die Aberkennung des Flüchtlingsstatus vorliegen und dieser ursprünglich zu Unrecht zuerkannt wurde,
(ii) für den Widerruf des Flüchtlingsstatus aufgrund von Artikel 1 F des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) oder
(iii) für die Beendigung des Flüchtlingsstatus im Sinne von Artikel 1 C (1-4) der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen.
UNHCR ist der Auffassung, dass die derzeitige Situation in Afghanistan eine Beendigung des Flüchtlingsstatus nach Artikel 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention nicht rechtfertigt.
A. Risikoprofile
3. Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung
Berichten zufolge werden Fälle der Zwangsrekrutierung von Kindern zu einem großen Teil unzureichend erfasst. Jedoch geht aus Berichten hervor, dass die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs- und Kampfhandlungen im ganzen Land beobachtet werden.
a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)
Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.
Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, so wird berichtet, weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung.
b. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 16.12.2020, samt Quellen, die ebenfalls im Länderinformationsblatt verwendet werden:
1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).
1.1. Aktuelle Entwicklungen:
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).
Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).
Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).
1.2. COVID-19:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren.
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 27.12.2020 51.848 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 2.158 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).
1.3. (Maidan) Wardak
Die Provinz Wardak (auch Maidan Wardak) grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni. Die Provinzhauptstadt Maidan Shahr befindet sich etwa 40-50 Kilometer südwestlich von Kabul. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Wardak im Zeitraum 2020/21 auf 637.634 Personen. Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (LIB, Kapitel 5.33.).
Der Highway Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad. Diese Straße gilt als eine der gefährlichsten in Afghanistan. Jedoch während des dreitägigen Waffenstillstandes zu Eid-al-Firt im August 2020 kam es entlang der Straße zu keinen Zusammenstößen und die Taliban lösten ihre Kontrollpunkte vorübergehend auf. Eine weitere wichtige Straße führt von Maidan Shahr durch die Distrikte Jalrez, Hesa-e Awale Behsud, Markaz-e Behsud zum Haji-gak-Pass und weiter nach Bamyan. Der Abschnitt im Distrikt Jalrez befindet sich unter Kontrolle der Taliban. Die Taliban betreiben entlang dieser Straße Kontrollpunkte und heben Steuern ein und es sind Fälle dokumentiert, dass Durchreisende entführt oder getötet wurden.
Wardak ist eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert. Das Machtgleichgewicht in der Provinz Wardak blieb über Jahre hinweg relativ stabil. Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Wardak zugenommen. Auch im volatilen Distrikt Sayedabad gab es in den letzten Jahren fast täglich Kämpfe zwischen Regierungskräften und Taliban. Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Wardak im Verantwortungsbereich des 203. ANA Corps, das der Task Force Southeast unter der Leitung von US-Truppen untersteht. Einheiten des Nationalen Sicherheitsdirektorates (NDS), der vom US-Geheimdienst CIA unterstützt werden, führen in der Provinz Wardak nächtliche Operationen durch, wobei es Berichten zufolge zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, Hinrichtungen und anderen Menschenrechtsverletzungen, kommt (LIB, Kapitel 5.33.).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 184 zivile Opfer (108 Tote und 76 Verletzte) in der Provinz Wardak. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und Suchoperationen. In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen und Luftschlägen. Die Taliban greifen regelmäßig Kontrollpunkte, Einrichtungen oder Konvois der Sicherheitskräfte an und es kommt zu Gefechten mit den Regierungstruppen, was zu Opfern unter den Sicherheitskräften und den Aufständischen führt. Bei einem Angriff der Taliban auf eine Basis des NDS in der Nähe der Provinzhauptstadt Maidan Shahr wurden im Jänner 2019 über 100 Sicherheitskräfte getötet (LIB, Kapitel 5.33.).
2. Ethnische Minderheiten:
In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).
2.1. Hazara:
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 18.3.).
3. Religionen:
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).
3.1. Schiiten:
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen.
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 17.1.)
4. Korruption:
Mit einer Bewertung von 16 Punkten (von 100 möglichen Punkten – 0= highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan, auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2019 von Transparency International, von 180 untersuchten Ländern den 173. Platz, was eine Verschlechterung um einen Platz im Vergleich zum Jahr davor darstellt (https://www.transparency.de/cpi/cpi-2019/cpi-2019-tabellarische-rangliste/).
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für öffentliche Korruption vor. Die Regierung setzt dieses Gesetz jedoch nicht effektiv um. Einerseits wird von öffentlich Bediensteten berichtet, die regelmäßig und ungestraft in korrupte Praktiken involviert sind. Andererseits gibt es Korruptionsfälle, die erfolgreich vor Gericht gebracht wurden. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist – Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem.
Auch im Justizsystem ist Korruption weit verbreitet, insbesondere im Strafrecht und bei der Anordnung von Haftentlassungen. Trotz der sensiblen Sicherheitslage berichtet der Oberste Gerichtshof von einigen Fortschritten bei der Implementierung des Reformplans im Gerichtswesen. Der Oberste Gerichtshof berichtete auch von einer besseren Koordinierung innerhalb des Justizsektors (LIB, Kapitel 9).
5. Allgemeine Menschenrechtslage:
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Kapitel 12).
6. Regierungsfeindliche Gruppierungen:
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).
6.1. Taliban:
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 5).
Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Kapitel 5).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4).
Die Taliban haben im Distrikt Balkhab der nördlichen Provinz Sar-e Pul mit dem Schiiten Mawlavi MAHDIZUM ersten Mal einen Angehörigen der Volksgruppe der Hazara zum Schatten-Distriktschef ernannt. Beobachter werten dies als Schritt, mehr Angehörige der überwiegend schiitischen ethnischen Minderheit der Hazara in die Reihen der Taliban zu bringen. Bereits in der Vergangenheit wurden Tadschiken und Usbeken rekrutiert und es gab einige tadschikische Feldkommandanten, jedoch noch nie einen Hazara in führender Position. Berichte über eine punktuelle Zusammenarbeit der Taliban mit Hazara-Gruppen gibt es aber bereits seit Längerem (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).
7. Wehrdienst und Rekrutierungen durch verschiedene Akteure
In Afghanistan gibt es keine Wehrpflicht. Das vorgeschriebene Mindestalter für die freiwillige Meldung beträgt 18 Jahre. Da die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstellt, besteht grundsätzlich kein Anlass für Zwangsrekrutierungen zu staatlichen Sicherheitskräften. Aufgrund der sehr hohen Ausfallsquote werden etwaige „Deserteure“ nach Rückkehr wieder von den ANDSF aufgenommen. In einigen Fällen wurden Angehörige der ANDSF, die im Rahmen von Kampfhandlungen durch die Taliban gefangen genommen wurden, unter der Voraussetzung wieder freigelassen, nicht zu den ANDSF zurückzukehren (LIB, Kapitel 11).
Gemäß dem afghanischen Militärstrafgesetzbuch (Afghanistan Penal Code on Military Crimes) von 2008 wird eine Abwesenheit von mehr als 24 Stunden als unerlaubt definiert (absent without official leave, AWOL). Fahnenflucht und unerlaubtes Wegbleiben vom Arbeitsplatz im Militär-und Polizeibereich kommen häufig vor und können mit bis zu fünf Jahren Haft, in besonders schweren Fällen mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden, wobei keine Fälle bekannt sind, in denen es zu einer strafrechtlichen Verurteilung oder disziplinarischen Maßnahmen gekommen ist. In der Praxis werden Fälle von Desertion in Afghanistan nicht strafrechtlich verfolgt, insbesondere wenn die desertierten Personen innerhalb Afghanistans ausgebildet wurden. Unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst, bzw. Desertion wird gemäß Artikel 10 Anhang 1 des Militärstrafgesetzbuchs nicht bestraft, wenn die Abwesenheit weniger als ein Jahr dauert. Eine Abwesenheit von mehr als einem Jahr kann mit sechs Monaten Freiheitsentzug oder einer Geldstrafe von 20,000 AFN (ca. 237 Euro) bestraft werden. Die permanente Desertion ist mit einer Haftstrafe von zwei bis fünf Jahren bedroht. Bei Desertionen während einer Sondermission beträgt die maximale Haftstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren (LIB, Kapitel 11).
Für Offiziere, in deren Ausbildung der Staat mehr Ressourcen investiert hat, gelten bei unerlaubter Abwesenheit oder Desertion strengere Regeln. Gemäß Artikel 52 des Dienstrechts für Offiziere, Leutnants und Wachtmeister werden unerlaubte Abwesenheiten von weniger als 30 Tagen geringfügig bestraft, beispielsweise durch Lohnabzug oder andere Disziplinierungsmaßnahmen. Eine unerlaubte Abwesenheit von mehr als 30 Tagen wird gemäß dieser Bestimmung strafrechtlich verfolgt. So müssen Offiziere, die zur Ausbildung ins Ausland entsandt wurden und dort verbleiben, mit Strafmaßnahmen rechnen. Die Bestimmungen sehen Kompensationszahlungen nach der Rückkehr oder durch einen Bürgen vor (LIB, Kapitel 11).
Im Jahr 2016 wurde ein Soldat wegen Desertion in erster Instanz zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt; Berichten zufolge wurde dies zu einem Medienfall, was u.a. auf die Seltenheit solcher Verurteilungen hinweist und auf die Absicht schließen lässt, ein Exempel zu statuieren (LIB, Kapitel 11).
7.1. Rekrutierung durch die Taliban:
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich.Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Kapitel 11.1).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Kapitel 11.1).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe.
Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Kapitel 11.1).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LIB, Kapitel 11.1).
Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 11.1).
7.2. Islamischer Staat (IS)
Lokale Ältere, die in den Grenzprovinzen Kunar und Nangarhar leben, berichten von ISKP Kräften, die nach wie vor die Bewohner in Dörfern unter ihrer Kontrolle terrorisieren und Buben zwangsrekrutieren, sowie Mädchen vom Schulbesuch abhalten. Von Kunar wurde berichtet, dass auch Männer zwangsrekrutiert und jene getötet wurden, die dies verweigert hätten. In Gebieten unter Kontrolle des IS wird Druck auf die Gemeinden ausgeübt, den IS voll zu unterstützen (LIB, Kapitel 11.1).
7.3. Andere Gruppierungen
Auch schiitische Organisationen rekrutieren unter Afghanen, wie z.B. die Fatemiyoun Division, eine Kampftruppe, die vorwiegend aus afghanischen schiitischen Hazara besteht. Die Rekrutierung erfolgt durch die Iranischen Revolutionsgarden im Iran unter der afghanischen Flüchtlingspopulation; die Rekruten werden nach der Ausbildung zum Kampf nach Syrien geschickt. Es gibt Berichte, dass sich in einem Hazara-Viertel im Westen Kabuls ein Rekrutierungszentrum der Fatemiyoun befindet. Es werden auch Jugendliche ab 14 Jahren rekrutiert (LIB, Kapitel 11.1).
c. Auszug aus EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, vom Dezember 2020:
2.6 Persons fearing forced recruitment by armed groups:
This profile refers to persons who claim to be targeted by actors in the conflict in order to be recruited by force and against their will. Different armed groups resort to forced recruitment, including the Taliban, ISKP, as well as PGMs, etc.
a. Forced recruitment by the Taliban
The Taliban typically recruit unemployed Pashtun males from rural communities who are educated in madrassas. It is reported that they have no shortage of volunteers/recruits.
The Taliban only make use of forced recruitment in exceptional cases. It is, for example, reported that the Taliban try to recruit persons with a military background, such as members of the ANSF. The Taliban also make use of forced recruitment in situations of acute pressure. Pressure and coercion to join the Taliban are not always violent and would often be exercised through the family, clan or religious network, depending on the local circumstances. It can be said that the consequences of not obeying are generally serious, including reports of threats against the family of the approached recruits, severe bodily harm, and killings.
Although the Taliban has an internal policy of not recruiting children, child recruitment, in particular of post-puberty boys, is documented.
Forced recruitment is of such severe nature that it would amount to persecution. The consequences of refusal of (forced) recruitment could also amount to persecution (e.g. severe bodily harm, killing).
Not all individuals under this profile would face the level of risk required to establish well-founded fear of persecution. The individual assessment of whether or not there is a reasonable degree of likelihood for the applicant to face persecution should take into account risk-impacting circumstances, such as: age (belonging to the age group young adults), military background, area of origin and the presence/influence of armed groups, increased intensity of the conflict, position of the clan in the conflict, poor socio-economic situation of the family, etc.
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben, durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde, unter Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung, bei der Einvernahme vor der belangten Behörde, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, in die vorgelegten Urkunden und sonstigen Unterlagen sowie in die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderberichte.
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
2.1.1. Die Feststellungen zur Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit, zum Religionsbekenntnis, zur Herkunft, zu den Sprachkenntnissen und persönlichen Verhältnissen, zu seiner Kernfamilie und seinen Angehörigen sowie zur familiären Situation des Beschwerdeführers, ergeben sich aus seinen dazu getätigten, gleichbleibenden und glaubhaften Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde und vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. AS 9 bis 11, AS 66 bis 68 sowie die Seite 5-10 der Niederschrift der Verhandlung vom 13.01.2021). Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das an der Richtigkeit dieser Feststellungen zweifeln lässt. Die Schreibweise seines Namens, nämlich anstelle von XXXX , stellte der Beschwerdeführer vor dem BFA klar.
2.1.2. Zur Feststellung des Geburtsdatums mit XXXX ist Folgendes festzuhalten. In der Erstbefragung wurde das Geburtsdatum des Beschwerdeführers mit XXXX angeführt. Dies ist ganz offensichtlich ein Schreibfehler, da etwa bereits im zeitlich vor der Erstbefragung erstellten Abgleichbericht das Geburtsdatum XXXX angeführt wird. Im weiteren Verfahren und auch im berichtigten Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 11.01.2018 wurde sein Geburtsdatum ebenso mit dem XXXX geführt. Dass der Beschwerdeführer jemals von sich aus das Datum XXXX als sein Geburtsdatum genannt hat, lässt sich aus der Aktenlage nicht ableiten. Der Beschwerdeführer merkte in der Erstbefragung vielmehr an, dass sich seine afghanische Geburtsurkunde in der Slowakei befinden würde. Die belangte Behörde veranlasste ein Handwurzelröntgen der linken Hand zur Bestimmung des Knochenalters, welches das Röntgenergebnis, Schmeling 3, GP 26, ergab, sodass zu Recht von der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen wurde. Eine multifaktorielle Untersuchung zur Altersdiagnose des Beschwerdeführers fand nicht statt. Bei der Einvernahme vor dem BFA legte der Beschwerdeführer auch eine Kopie seiner Tazkira vor und führte aus, dass er am XXXX XXXX ) bzw. am XXXX geboren sei, da in seiner Tazkira aufscheine, dass er im Jahr 1388 sechs Jahre und sechs Monate alt gewesen sei. Das Datum XXXX habe ihm sein Vater als sein Geburtsdatum genannt und in den Koran eingetragen (vgl. AS 66). Das Geburtsjahr habe er sich selber ausgerechnet. In der mündlichen Verhandlung führte er abermals aus, dass das geführte Geburtsdatum falsch sei sowie, dass der XXXX jenes Datum sei, welches ihm sein Vater als sein Geburtsdatum genannt und im Koran registriert habe. Weiters verwies der Beschwerdeführer auf seine Tazkira. Die Dolmetscherin merkte diesbezüglich an, dass die Tazkira mit XXXX ( XXXX ) datiert wurde sowie, dass darin ausgeführt wird, dass der Beschwerdeführer im Jahr XXXX auf sechs Jahre und sechs Monate eingeschätzt wird (vgl. Seite 5 der Niederschrift der Verhandlung vom 13.01.2021). Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich den diesbezüglich stets gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers, dass dieser nach dem afghanischen Kalender am XXXX geboren wurde, an. Was das Geburtsjahr betrifft ist darauf zu verweisen, dass auch der Beschwerdeführer dieses nicht exakt benennen konnte. Aus der Tazkira lässt sich ebenso wenig ein Geburtsjahr bzw. -datum ableiten, da das Alter darin nur geschätzt wird und lediglich auf das geschätzte Alter im Jahr 1388 verweisen wird. Ausgehend davon konnte aber nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes in einer Zusammenschau und unter Zugrundelegung der sicheren Angabe des Geburtstages mit XXXX (nach dem afghanischen Kalander; XXXX nach dem gregorianischen Kalender) der XXXX als Geburtsdatum festgestellt werden. Dies ist auch mit der gleichbleibenden Angabe des Beschwerdeführers, die Grundschule 8 Jahre lang besucht zu haben, vereinbar (siehe hierzu auch VwGH 25.02.2015, Ra 2014/20/0045).
2.1.3. Dass der Beschwerdeführer an dem festgestellten Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, ist den Verwaltungsakten der belangten Behörde zu entnehmen. Dass er in Österreich über den Status des subsidiär Schutzberechtigten verfügt, ergibt sich aus dem angefochtenen Bescheid sowie dem Auszug aus dem Grundversorgungsregister, wo vermerkt wurde, dass die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.11.2022 verlängert wurde.
Dass der Beschwerdeführer jung, gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich aus seinen Angaben im Verfahren vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. AS 66, Seite 3 der Niederschrift vom 13.01.2021).
Die strafrechtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einem, vom Bundesverwaltungsgericht am 22.03.2021 abgerufenen, Auszug aus dem Strafregister.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer brachte zusammengefasst vor, dass er eine Verfolgung durch die Taliban befürchte. Er sei im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan insbesondere von Zwangsrekrutierung bedroht.
Bei der Beurteilung des Vorbringens des Beschwerdeführers findet in die Beweiswürdigung Eingang, dass es sich beim Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftsstaates, bei der Erstbefragung und der Einvernahme vor der belangten Behörde um einen Minderjährigen handelte, sodass die Dichte des Vorbringens des Beschwerdeführers