TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/24 W120 2176660-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.03.2021
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Entscheidungsdatum

24.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W120 2176660-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian EISNER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.10.2017, XXXX , nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 10.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Am 11.11.2015 erfolgte die Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.

3.       Am 24.08.2017 erfolgte die Einvernahme vor der belangten Behörde.

4.       Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.10.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

5.       Gegen den obgenannten Bescheid der belangten Behörde richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 25.10.2017. Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der XXXX bzw. der XXXX in seinem Heimatland von den Taliban verfolgt werde. Zudem habe der Beschwerdeführer in Afghanistan auch Versuche der Zwangsrekrutierung durch die Taliban zu gewärtigen gehabt.

6.       Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 16.11.2017 eingelangter Beschwerdevorlage den gegenständlichen Verwaltungsakt.

7.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom 01.10.2018 wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.10.2020 erteilt.

8.       Am 05.02.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, der eine Dolmetscherin für die Sprache Dari beigezogen wurde. An der Verhandlung nahmen der Beschwerdeführer und sein Rechtsberater teil.

Ein Vertreter der belangten Behörde ist nicht erschienen.

Der Beschwerdeführer wurde in der Verhandlung zu seinen Fluchtgründen und zu seinem Leben in Österreich befragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1.    Zum Beschwerdeführer:

1.1.1.  Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist volljährig und Staatsangehöriger von Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der XXXX bzw. XXXX an.

Der Beschwerdeführer verließ ca. im Mai 2015 Afghanistan. Am 10.11.2015 stellte der Beschwerdeführer gemeinsam mit XXXX , dessen Ehefrau und dessen Kindern den hier gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten; er nimmt keine Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz XXXX . Er ging zuletzt in Afghanistan der Tätigkeit als Mechaniker nach.

Er lebte in Afghanistan gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern. Sein Vater und sein jüngerer Bruder sind derzeit in XXXX wohnhaft.

In Afghanistan bestand zwischen dem Beschwerdeführer und seinem in Österreich aufhältigen Bruder XXXX kein gesetzliches Vertretungsverhältnis.

1.1.2.  Zur vorgebrachten Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan nie politisch tätig oder gehörte einer politischen Partei an. Er ist in Afghanistan weder vorbestraft noch war er dort inhaftiert.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Taliban versucht hätten, den Beschwerdeführer gegen seinen Willen zu rekrutieren bzw. ihn deshalb Bedrohungen ihrerseits ausgesetzt hätten.

Der Bruder des Beschwerdeführers war in Afghanistan als LKW-Fahrer im selben Unternehmen wie der Beschwerdeführer tätig. Dieses Unternehmen führte Transporte ua für die XXXX und die XXXX durch.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund seiner beruflichen Tätigkeit und jener seines Bruders für dieses Transportunternehmen und/oder der Aufgabe dieser beruflichen Tätigkeit in Afghanistan konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohungen durch die Taliban bzw. seinen ehemaligen Arbeitgeber oder von den Taliban oder seinem ehemaligen Arbeitgeber konkret ihm gegenüber gerichteten Eingriffen in seine physische Integrität ausgesetzt war.

Es kann weiters nicht die Feststellung getroffen werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan physischer oder psychischer Gewalt, Strafverfolgung oder anderen erheblichen Eingriffen durch staatliche Organe oder Private, speziell Bedrohungen durch die Taliban, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung, ausgesetzt war.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan derartige Bedrohungen zu erwarten hätte bzw. insbesondere aufgrund seiner Tätigkeit bzw. jener seines Bruders für dieses Transportunternehmen und/oder der Aufgabe dieser Tätigkeit eine besondere Gefährdung seiner Person bzw. ein besonderes Interesse an seiner Person besteht bzw. bestehen könnte.

Darüber hinaus ist der Beschwerdeführer aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land in Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt ausgesetzt.

1.2.    Zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.2.1.  Risikoprofile (aus den UNHCR-RICHTLINIEN):

[…]

„1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen.

Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) greifen Berichten zufolge systematisch und gezielt Zivilisten an, die tatsächlich oder vermeintlich die afghanische Regierung, regierungsnahe bewaffnete Gruppen, die afghanische Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft in Afghanistan, einschließlich der internationalen Streitkräfte und internationaler humanitärer Hilfs- und Entwicklungsakteure, unterstützen bzw. mit diesen in Verbindung stehen. Auf eine (vermeintliche) Verbindung kann zum Beispiel durch ein bestehendes oder früheres Beschäftigungsverhältnis oder durch familiäre Bindungen geschlossen werden. Zu den Zivilisten, die gezielt aufs Korn genommen werden, zählen Distrikt- und Provinzgouverneure, Mitarbeiter der Justiz und der Staatsanwaltschaft, ehemalige Polizeibeamte und Polizisten außer Dienst, Stammesälteste, Religionsgelehrte und religiöse Führer, Frauen im öffentlichen Raum, Lehrer und andere Staatsbedienstete, Zivilisten, von denen angenommen wird, dass sie die Werte regierungsfeindlicher Kräften ablehnen, Menschenrechtsaktivisten sowie humanitäres Hilfspersonal und Entwicklungshelfer.

Zwischen 1. Januar und 31. Dezember 2017 schrieb UNAMA 570 gezielte Tötungen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) zu, die 1 032 zivile Opfer (650 Tote und 382 Verletzte) forderten, was 10 Prozent aller zivilen Opfer des Jahres entsprach. Die Anzahl der von AGEs verübten derartigen Anschläge stieg von 483 im Jahr 2016 auf 570 im Jahr 2017 und die Zahl der dabei getöteten Zivilisten erhöhte sich um 13 Prozent.

Im Januar 2018 führten die Taliban drei getrennte Angriffe in Kabul durch, bei denen 150 Zivilisten getötet und mehr als 300 verletzt wurden. In einer öffentlichen Erklärung begründeten die Taliban am 28. Januar 2018 einen dieser Angriffe, jenen auf das Innenministerium, mit folgenden Worten: ‚Dieses Ziel war der Feind, und auch die Mitarbeiter des Ministeriums waren die Hauptleidtragenden.‘

Am 25. April 2018 kündigten die Taliban ihre Frühlingsoffensiven, die Al Khandaq Jihadi Operations an. Wie schon in den Jahren zuvor hieß es darin, die Offensive würde sich ‚gegen die ausländischen Besatzungskräfte und deren Unterstützer im Land‘ richten. Trotz des erklärten Ziels der Taliban, ‚besonders auf den Schutz des Lebens und Besitzes des zivilen Volkes zu achten‘, gibt es immer wieder Berichte, dass die Taliban und andere AGEs gezielt Zivilisten und nach humanitärem Völkerrecht geschützte Objekte angreifen würden.

Über gezielte Tötungen hinaus setzen die regierungsfeindlichen Kräfte Berichten zufolge auch Drohungen, Einschüchterung und Entführungen ein, um Gemeinschaften und Einzelpersonen einzuschüchtern und auf diese Weise ihren Einfluss und ihre Kontrolle zu erweitern, indem diejenigen angegriffen werden, die ihre Autorität und Anschauungen infrage stellen.

[…]

b) Zivile Polizeikräfte (einschließlich Angehörigen der ANP und ALP) sowie ehemalige Angehörige der ANDSF

Die gezielten Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte, insbesondere die afghanische nationale Polizei (ANP), gehen weiter. Auch Mitglieder der afghanischen lokalen Polizei (ALP) werden häufig angegriffen. Schätzungen zufolge ist die Opferbilanz unter der afghanischen lokalen Polizei erheblich höher als die unter anderen Mitgliedern der ANDSF, da die afghanische lokale Polizei (ALP) häufig in unsichereren Gebieten stationiert ist. Beamte sowohl der ALP als auch der ANP wurden im Dienst und auch außer Dienst angegriffen. Ferner wird berichtet, dass regierungsfeindliche Kräfte auch Angehörige anderer Polizeikräfte in Afghanistan sowie ehemalige Angehörige der ANDSF ins Visier nehmen.

c) Zivilisten, die mit den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften/regierungsnahen Kräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen

Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) greifen zahlreichen Berichten zufolge Zivilisten an, die der Zusammenarbeit oder der ‚Spionage‘ für regierungsnahe Kräfte, darunter die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), verdächtigt werden.

[…]

k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

Regierungsfeindliche Kräfte haben Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den oben angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere wurden Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung.

[…]“

1.2.2.  Rekrutierung durch regierungsfeindliche Gruppierungen

1.2.2.1. Aus den UNHCR-RICHTLINIEN:

„[…]

3. Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung Berichten zufolge werden Fälle der Zwangsrekrutierung von Kindern zu einem großen Teil unzureichend erfasst.326 Jedoch geht aus Berichten hervor, dass die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs- und Kampfhandlungen im ganzen Land beobachtet werden.

a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, so wird berichtet, weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde330 oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung.

[…]

c) Zusammenfassung

Im Licht der oben beschriebenen Umstände ist UNHCR der Ansicht, dass für Männer im wehrfähigen Alter und für Kinder, die in Gebieten leben, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte befinden oder in denen regierungsnahe und regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) und/oder mit dem Islamischen Staat verbundene bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen, – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser von AGEs ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen kann. Abhängig von den besonderen Umständen des Falles können Männer im wehrfähigen Alter und Kinder, die in Gebieten leben, in denen ALP-Kommandeure eine so mächtige Position innehaben, dass sie Mitglieder der Gemeinschaft in die ALP zwangsrekrutieren können, ebenfalls internationalen Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Gründen benötigen. Auch für Männer im wehrfähigen Alter und Kinder, die sich der Zwangsrekrutierung entweder durch einen staatlichen oder einen nichtstaatlichen Akteur widersetzen, kann aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Gründen Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz gegeben sein. Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles können Angehörige von Männern oder Kindern mit diesem Profil aufgrund ihrer Verbindung mit gefährdeten Personen internationalen Schutz benötigen. Asylanträge von Kindern sollten – einschließlich der Prüfung von Ausschlussgründen bei ehemaligen Kindersoldaten – sorgfältig und gemäß den UNHCR-Richtlinien für Asylanträge von Kindern geprüft werden. Wenn Kinder, die mit bewaffneten Gruppen in Verbindung standen, einer Straftat bezichtigt werden, sollte berücksichtigt werden, dass diese Kinder Opfer von Verstößen gegen internationales Recht und nicht nur Täter sein können.“

1.2.2.2. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation:

Letzte Änderung: 16.12.2020

„UNAMA dokumentierte glaubwürdige Vorwürfe über die Rekrutierung von 26 Buben im Alter zwischen 12 und 17 Jahren durch regierungsfeindliche Gruppen (darunter pakistanische Taliban, afghanische Taliban und IS) im ersten Halbjahr 2019. Drei Buben wurden von regierungsnahen bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften als Leibwächter, als Waffenträger, für Patrouillen, für sexuelle Zwecke oder für alle vier Zwecke eingesetzt. In einzelnen Fällen wurden Kinder insbesondere in den südlichen Provinzen als Selbstmordattentäter, menschliche Schutzschilde oder Bombenleger eingesetzt (USDOS 11.3.2020; vgl. UNAMA 7.2020). Obwohl die Taliban eine interne Richtlinie haben, keine Kinder zu rekrutieren, gibt es Hinweise auf Kinderrekrutierungen, insbesondere postpubertärer Buben (EASO 6.2018). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 6.2018,

DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EA- SO 6.2018). Im Jahr 2019 waren es laut UNAMA insgesamt 64 Jungen vor allem im Norden des Landes, welche durch die Taliban sowie durch afghanische Sicherheitskräfte rekrutiert wurden (UNAMA 7.2020; vgl. AA 16.7.2020). Während die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte bei der Verhinderung der Rekrutierung von Kindern Fortschritte gemacht haben, gibt der Einsatz von Kindern durch die afghanische Lokalpolizei und in geringerem Maße durch die afghanische Nationalpolizei weiterhin Anlass zur Sorge (UNAMA 7.2020).

Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta /Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen.

Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 29.6.2017). Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).

Islamischer Staat (IS)

Lokale Ältere, die in den Grenzprovinzen Kunar und Nangarhar leben, berichten von ISKP Kräften, die nach wie vor die Bewohner in Dörfern unter ihrer Kontrolle terrorisieren und Buben zwangsrekrutieren, sowie Mädchen vom Schulbesuch abhalten (WP 20.8.2019; vgl. TST 21.8.2019). Von Kunar wurde berichtet, dass auch Männer zwangsrekrutiert und jene getötet wurden, die dies verweigert hätten (TST 22.8.2019).

In Gebieten unter Kontrolle des IS wird Druck auf die Gemeinden ausgeübt, den IS voll zu unterstützen (EASO 6.2018).

Andere Gruppierungen

Auch schiitische Organisationen rekrutieren unter Afghanen, wie z.B. die Fatemiyoun Division, eine Kampftruppe, die vorwiegend aus afghanischen schiitischen Hazara besteht. Die Rekrutierung erfolgt durch die Iranischen Revolutionsgarden im Iran unter der afghanischen Flüchtlingspopulation; die Rekruten werden nach der Ausbildung zum Kampf nach Syrien geschickt. Es gibt Berichte, dass sich in einem Hazara-Viertel im Westen Kabuls ein Rekrutierungszentrum der Fatemiyoun befindet. Es werden auch Jugendliche ab 14 Jahren rekrutiert (DW 5.5.2018).

Quellen:

[…]“

1.2.3.  Rückkehr (aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

Letzte Änderung: 16.12.2020

„In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).

Von 1.1.2020 bis 12.9.2020 sind 527.546 undokumentierter Afghanen aus Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt - in der Woche vom 6.9.2020 bis 12.9.2020 waren es ca. 21.500 undokumentierte Rückkehrer (UNHCR 17.9.2020). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 (laut AA 775.000) aus Iran und 32.725 (laut AA 46.000) aus Pakistan (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020). Die Anzahl der seit 1.1.2020 bis 31.7.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer aus Iran (53.595) und Pakistan (1.731) beläuft sich auf 55.326 (IOM 29.8.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 24.9.2020) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 23.9.2020; vgl. Flightradar 24.9.2020). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 23.9.2020).

Seit 12.8.2020 ist der Spin Boldak Grenzübergang an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist Montags und Dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder nach Iran, Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020; IOM AUT 23.1.2020). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (IOM KBL 30.4.2020; vgl. MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 16.7.2020). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (STDOK 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020) Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2020, STDOK 4.2018). Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 16.7.2020; vgl. IOM KBL 30.4.2020, STDOK 10.2020). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 11.3.2020). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (STDOK 13.6.2019).

Viele afghanische Rückkehrer werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNO-CHA 12.2018). Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (STDOK 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (STDOK 4.2018; vgl. Asylos 8.2017).

Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung

Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der ‚whole of community‘ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen (STDOK 4.2018).

Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 3.2020). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017). Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzen. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen (Kandiwal 9.2018). Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen (IDMC/NRC 2.2014; vgl. Kandiwal 9.2018).

Die afghanische Regierung hat 2017 mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Erste Landstücke wurden identifiziert, die Registrierung von Begünstigten hat begonnen (AA 16.7.2020).

Anmerkung: Ausführlichere Informationen können dem FFM-Bericht Afghanistan 4.2018 entnommen werden.

Unterstützung durch IOM

Die internationale Organisation für Migration (IOM - International Organization for Migration) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrern nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020; STDOK 13.6.2019; STDOK 4.2018). Im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020).

Anmerkungen: Informationen von IOM zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 22.9.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ, können aber aufgrund der COVID-19 Pandemie kurzfristigen Änderungen unterworfen sein (IOM 23.9.2020).

Mit 1.1.2020 startete das durch den AMIF der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierte Reintegrationsprojekt RESTART III. Im Unterschied zu den beiden Vorprojekten RESTART und RESTART II steht dieses Projekt ausschließlich Rückkehrern aus Afghanistan zur Verfügung. RESTART III, ist wie das Vorgängerprojekt auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information - in Österreich sowie in Afghanistan - sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020).

Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessenten an einer unterstützen freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas bzw. in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung. Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des BMI, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die Antragssteller erfüllt werden. Für Reintegrationsprojekte ist durch das BMI festgelegt, dass nur Personen an dem Projekt teilnehmen können, die einen dreimonatigen Aufenthalt in Österreich vorweisen können. Es wird hier jedoch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel bei Personen, die im Rahmen der Dublin-Regelung nach Österreich rücküberstellten werden. Des Weiteren sieht die BMI-Regelung vor, dass nur eine Person pro Kernfamilie die Unterstützungsleistungen erhalten kann (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020). Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den Interessenten beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojekt ebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des BMI wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020).

[Anm.: Es besteht auch die Möglichkeit jederzeit einen Antrag auf freiwillige Rückkehr zu stellen, auch ohne Teilnahme an dem Projekt. Eine Mitarbeiterin von IOM Österreich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es hier keine Trennung zwischen freiwilligen und unterstützten Rückkehrern gibt. Grundsätzlich spricht man von unterstützter freiwilliger Rückkehr und zusätzlich gibt es die Reintegrationsunterstützung bei Projektteilnahme. (IOM AUT 23.1.2020; vgl. STDOK 14.7.2020)]

Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen [Anm.: Unter Umgehung von Kabul]. Die Reise nach Herat beispielsweise findet in der Regel auf dem Luftweg über Kabul statt (IOM KBL 26.11.2018). Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Sicherheitskontrolle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal (STDOK 14.7.2020). Teilnehmer am Reintegrationsprojekt RESTART III von IOM landen in der Regel (zunächst) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort werden sie von den örtlichen IOM-Mitarbeitern direkt nach Verlassen des Flugzeuges empfangen und bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützt. An den Flughäfen anderer Städte wie Mazar- e-Sharif, Kandahar oder Herat gibt es keine derartige Ausnahmeregelung (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM KBL 26.11.2018; IOM AUT 23.1.2020).

RESTART sowie die Folgeprojekte RESTART II und RESTART III unterscheiden sich nur minimal voneinander. So ist beispielsweise die Höhe der Barzahlung und auch die Unterstützung durch Sachleistungen gleich geblieben, wobei im ersten RESTART Projekt und in der ersten Hälfte von RESTART II nur 2.500 Euro in Sachleistung investiert wurden und die restlichen 300 Euro für Wohnbedürfnisse, Kinderbetreuung oder zusätzlich für Bildung zur Verfügung standen. Dies wurde im Verlauf von RESTART II geändert und es ist nun auch in RESTART III der Fall, sodass die gesamte Summe für eine einkommensgenerierende Tätigkeit verwendet werden kann (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 27.3.2020).

Im Zuge der COVID-19 Pandemie befinden sich IOM-Mitarbeiter in Afghanistan teilweise im Home-Office. Rückkehrer können jedoch weiterhin IOM-Büros kontaktieren, werden jedoch gebeten, persönliche Besuche in IOM-Räumlichkeiten auf ein Minimum zu reduzieren und stattdessen über Telefon oder andere online Tools zu kommunizieren. Virtuelle Beratung wird für

Projektteilnehmer sowohl in Afghanistan wie auch in Österreich angeboten (IOM 23.9.2020). Nach Angaben von IOM kann es bei der Entwicklung der einzelnen Projekte aktuell aufgrund der Pandemie zu Verzögerungen und langsamen Entwicklungen kommen (IOM 23.9.2020). Es wird zudem verstärkt auf Banküberweisungen gesetzt wobei die Projektteilnehmer entsprechend informiert werden. Zur raschen Eröffnung eines Bankkontos muss ein gültiges Identitätsdokument (z.B.: Tazkira) vorgelegt und verschiedene Formulare (je nach Bank oder Vertretern der jeweiligen Communities) ausgefüllt und unterzeichnet werden. Überweisungen innerhalb derselben Bank können in wenigen Minuten durchgeführt werden. Bei anderen Banken kann die Überweisung mehrere Tage in Anspruch nehmen. Ein Bankkonto kann von allen Personen, auch jenen, die keine persönlichen Kontakte in Afghanistan haben, eröffnet werden (IOM 10.2020)

Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen akzeptiert im Rahmen des Restart III Projektes und sind im Zuge des Projektes 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020). Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmern, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM-RADA

IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt ‚RADA‘ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt. (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM 5.11.2019).

Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA - Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020, IOM 23.9.2020).

Wohnungen

In Kabul und im Umland sowie in anderen Städten steht eine große Anzahl an Häusern und Wohnungen zur Verfügung. Die Kosten in Kabul-City sind jedoch höher als in den Vororten oder in den anderen Provinzen. Private Immobilienhändler in den Städten bieten Informationen zu Mietpreisen für Häuser und Wohnungen an. Die Miete für eine Wohnung liegt zwischen 300 USD und 500 USD. Die Lebenshaltungskosten pro Monat belaufen sich auf bis zu 400 USD (Stand 2019), für jemanden mit gehobenem Lebensstandard. Diese Preise gelten für den zentral gelegenen Teil der Stadt Kabul, wo Einrichtungen und Dienstleistungen wie Sicherheit, Wasserversorgung, Schulen, Kliniken und Elektrizität verfügbar sind. In ländlichen Gebieten können sowohl die Mietkosten, als auch die Lebenshaltungskosten um mehr als 50% sinken.

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher sein (IOM 2019).

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2018).

Quellen:

[…]“

1.2.4.  Hazara (aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

Letzte Änderung: 16.12.2020

„Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 10.7.2020). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 10.7.2020).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 10.7.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische (vorwiegend Hazara) Gemeinschaften fort. Beispielsweise griff der ISKP einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt (USDOS 11.3.2020; vgl. STDOK 10.2020). Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren aber Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Der ISKP nannte ein religiöses Motiv für den Angriff (USDOS 11.3.2020). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 10.7.2020). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

[…]“

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden.

2.1.    Zu den zum Beschwerdeführer getroffenen Feststellungen (vgl. II.1.1.):

2.1.1.  Zu seiner Person:

Die Feststellungen zur Herkunft des Beschwerdeführers und zu seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit sind unstrittig und gründen sich auf die glaubwürdigen Aussagen des Beschwerdeführers im Verfahren. Es besteht kein Grund an diesen Angaben zu zweifeln, weil diese im Laufe des gesamten Verfahrens gleichgeblieben sind, dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegt und auch in der Verhandlung spontan und ohne Zögern dargetan wurden.

Dass der Beschwerdeführer im Mai 2015 aus Afghanistan ausreiste, ergibt sich aus seinen Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde (vgl. AS 135, arg. „F: Wann haben Sie den Entschluss zur Ausreise gefasst? – A: Es war ca. ein Monat vor meiner Ausreise. Befragt gebe ich an, dass ich ich Mai 2015 ausgereist bin.“).

Die Feststellung betreffend die nicht erfolgte gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers in Afghanistan durch seinen Bruder basiert auf den Angaben des Bruders des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. Seite 7 des Verhandlungsprotokolls, arg. „RI: Seit wann sind Sie der gesetzliche Vertreter Ihres Bruders? – BF2: Seit unserer Einreise im Jahr 2015.“).


2.1.2.  Zur befürchteten Verfolgung in Afghanistan:

Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er in Afghanistan von Zwangsrekrutierungsversuchen betroffen gewesen sei (vgl. AS 139) und ihm derzeit aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit bzw. jener seines Bruders durch seinen ehemaligen Arbeitgeber Verfolgung drohe. Zudem fürchte der Beschwerdeführer Verfolgung durch die in seinem Dorf aufhältigen Taliban, die noch vor der Geburt des Beschwerdeführers 24 Dorfbewohner hingerichtet hätten. Ferner stelle der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Europa eine Gefahr für den Beschwerdeführer dar (vgl. Seite 14 des Verhandlungsprotokolls). Darüber hinaus werde der Beschwerdeführer aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der XXXX bzw. XXXX in seinem Heimatland von den Taliban verfolgt (vgl. Seite 6 der Beschwerde).

2.1.2.1. Zunächst ist festzuhalten, dass die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich der vorgebrachten Zwangsrekrutierungsversuche widersprüchlich sind:

In der Einvernahme vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer diesbezüglich an, dass er auf dem Schulweg von den Taliban angesprochen und aufgefordert worden sei, mit ihnen zusammenzuarbeiten, der Beschwerdeführer sich geweigert habe und deshalb zusammengeschlagen worden sei; dies sei fünf bis sechs Mal vorgekommen. Daran anschließend sei der Beschwerdeführer zu seinem Bruder nach Kabul gezogen (vgl. AS 139, arg. „F: Hat jemand mit Ihnen persönlich gesprochen? – A: Ja, die sind in unser Heimatdorf gekommen und haben alle jungen Männer aufgefordert, mit ihnen zusammen zu arbeiten. Manche wurden auch geschlagen. Als ich in die Schule gegangen bin, sind die Taliban gekommen und meinten, ich solle mit ihnen zusammen arbeiten. Wenn man mit ihnen diskutiert hätte, wurde man geschlagen. – F: Was haben Sie den Taliban geantwortet? – A: Ich habe gesagt, dass ich in Frieden leben möchte, ich mag keinen Krieg. Die Taliban sagten dann, wir wollen einen islamischen Staat, ich würde von hier stammen und müsse mein Land verteidigen. – F: Und dann? Gingen die Taliban einfach wieder oder wie ging dies zu Ende? – A: Ich bin dann auch geschlagen worden und dann sind sie wieder gegangen. – F: Wie oft ist so etwas vorgekommen? – A: Mehrmals, so 5 oder 6 Mal. – F: Was haben Sie dann gemacht? – A: Mein Vater hat das einmal gesehen und gemeint, so könne es nicht weiter gehen. Mein Bruder meinte, ich solle mit ihm nach Kabul arbeiten gehen. Das habe ich dann gemacht.“).

Im Gegensatz dazu führte der Beschwerdeführer in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Taliban den Beschwerdeführer zwei Mal auf dem Schulweg angehalten und zur Zusammenarbeit mit den Taliban aufgefordert hätten, der Beschwerdeführer einmal zusammengeschlagen worden sei, sich der Beschwerdeführer anschließend daran für längere Zeit ausschließlich zuhause aufgehalten habe und dann beschlossen worden sei, dass der Beschwerdeführer zu seinem Bruder nach Kabul ziehen solle (vgl. Seite 14 des Verhandlungsprotokolls, arg. „RI: Wurden Sie in Afghanistan konkret bedroht und/oder verletzt? – BF3: Ja, als ich noch im Heimatdorf lebte, waren die Taliban dort präsent. Sie gewannen immerzu an Macht und wollten ihre Armee vergrößern. Sie forderten 13 und 14-jährige auf, sich ihnen freiwillig anzuschließen. Sie gingen von Haus zu Haus und ließen ihre Forderung auch über den Mullah im Heimatdorf verbreiten. Sie hielten mich etwa zweimal auf dem Schulweg an und forderten mich auf, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Aus diesem Grund musste ich die Schule abbrechen. Einmal schlugen sie mich zusammen, aber ich konnte noch vor ihnen fliehen. Danach hielt ich mich eine Zeit lang ausschließlich zu Hause auf. Mein Vater erlaubte mir nicht mehr, außer Haus zu gehen, weil ich in einem Alter war, in dem ich von der Rekrutierung durch die Taliban betroffen war. Als ich nicht mehr in die Schule gehen konnte und nur noch zu Hause eingesperrt war, wurde beschlossen, dass ich nach Kabul zu meinem Bruder gehe.“).

Dass die Taliban bereits konkret versucht hätten, den Beschwerdeführer zu rekrutieren, konnte vom Beschwerdeführer aufgrund seines widersprüchlichen Vorbringens daher nicht glaubwürdig dargestellt werden. Bezüglich des Vorbringens, dass er bei seiner Rückkehr Zwangsrekrutierungsversuchen durch die Taliban zu befürchten habe, ist festzuhalten, dass er dieses Vorbringen in der Beschwerde nur sehr allgemein gehalten in den Raum stellte und in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nur sehr vage und nicht substantiiert erstattete [vgl. Seite 15 des Verhandlungsprotokolls, arg. „RI: Was sagen Sie zu der Feststellung (S 76 Bescheid) der belangten Behörde, dass die Taliban nicht an Ihnen sondern allgemein an jungen Männern interessiert waren? Warum besteht die Bedrohung noch heute und warum überall? – BF3: Ich bin nicht nur wegen der versuchten Rekrutierung, sondern auch durch meine 4-monatige Arbeit gemeinsam mit meinem Bruder ins Visier der Taliban geraten. […]“]. Zudem kann den Länderberichten keine generelle Gefahr einer Zwangsrekrutierung, die etwa alle Personen eines bestimmten Alters trifft, entnommen werden.

2.1.2.2. Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten Gefahr der Verfolgung durch die in seinem Dorf aufhältigen Taliban, die noch vor der Geburt des Beschwerdeführers 24 Dorfbewohner hingerichtet hätten (vgl. Seite 14 des Verhandlungsprotokolls, arg. „RI: Von wem konkret befürchten Sie aktuell Verfolgung in Afghanistan? – BF3: […] Auch befürchte ich eine Verfolgung durch die Taliban, die aus meinem Heimatdorf stammen und seit vielen Jahren dort aufhältig sind. Das sind jene Taliban, die noch vor meiner Geburt 24 Personen dort hingerichtet haben. […]“), ist festzuhalten, dass nach über zwanzig Jahren von einer vor der Geburt des Beschwerdeführers erfolgten Hinrichtung von 24 Dorfbewohnern durch die Taliban berei

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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