TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/8 W273 2190622-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.04.2021
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Entscheidungsdatum

08.04.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W273 2190622-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Isabel FUNK-LEISCH als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch: BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II.) Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am XXXX statt, die erste Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) fand am XXXX , die zweite Einvernahme vor dem Bundesamt fand am XXXX statt.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er eine außereheliche Beziehung zu einem Mädchen gehabt habe und deshalb von seiner eigenen Familie sowie der Familie des Mädchens verfolgt und bedroht werden würde. Die afghanischen Sicherheitsbehörden seien nicht in der Lage, ihm den notwendigen Schutz zu bieten.

4. Mit Schreiben vom XXXX , vom XXXX sowie vom XXXX legte der Beschwerdeführer Unterlagen bezüglich seiner Integration in Österreich sowie medizinische Unterlagen vor. Im Schreiben vom XXXX führte er aus, dass er seit XXXX eine XXXX -Seite betreibe, auf der er sich über seine Einstellung zur Religion öffentlich äußere. Mit Schreiben vom XXXX legte der Beschwerde Auszüge seiner XXXX -Seite vor.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine mündliche Verhandlung durch.

6. In der Stellungnahme vom XXXX brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass aufgrund seiner religiösen Überzeugung asylrelevante Verfolgung zu befürchten sei. Weiters sei aus den aktuellen Länderinformationen abzuleiten, dass die aktuelle Situation in Afghanistan weder sicher noch stabil sei. Zusätzlich sei die schlechte wirtschaftliche Lage sowie der mangelnde Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen durch die aktuelle COVID-19-Pandemie erschwert. Zu berücksichtigen sei zudem, dass der Beschwerdeführer seit fünf Jahren nicht mehr in Afghanistan aufhältig sei und seine Familie mittlerweile im Iran leben würde. Dem Beschwerdeführer stehe in Afghanistan folglich kein soziales oder familiäres Netz zur Verfügung. Der Beschwerdeführer habe psychische Probleme und befände sich in psychotherapeutischer Behandlung. Den Länderberichten zufolge sei die Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht in ausreichendem Maß gegeben. Der Beschwerdeführer sei in Österreich sehr gut integriert, weshalb sich eine Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 EMRK erweisen würde.

7. Mit Parteiengehör vom XXXX trug das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer auf, in der anberaumten zweiten mündlichen Verhandlung Ausdrucke seiner Social-Media-Aktivitäten seit der letzten mündlichen Verhandlung am XXXX vorzulegen.

8. Mit Schreiben vom XXXX legte der Beschwerdeführer Schriftverkehr des XXXX hinsichtlich seines Austritts aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft, eine Medikationsübersicht, Bestätigungen der ehrenamtlichen Arbeit und drei Empfehlungsschreiben vor.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine weitere mündliche Verhandlung durch.

10. Mit Schreiben vom XXXX legte der Beschwerdeführer die Bestätigung seines Religionsaustritts vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX , alias XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er wuchs als schiitischer Moslem auf. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Bamyan, Distrikt XXXX , geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern auf. Ab seinem zehnten Lebensjahr lebte der Beschwerdeführer mit seiner Familie in der Provinzhauptstadt Bamyan. Der Beschwerdeführer besuchte sechs Jahre lang die Schule.

Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers leben seit ca. 2016 im Iran. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig telefonischen Kontakt zu seiner Mutter im Iran.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug vom 07.04.2021).

Der Beschwerdeführer hat in Österreich Freunde und besucht eine Abendschule. Er hat den Pflichtschulabschluss absolviert.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer ist Anhänger des Pantheismus („Allgottlehre“). Der Beschwerdeführer trat am XXXX in Österreich aus islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich aus. Er übt derzeit keine religiösen Riten, wie Beten oder den Besuch einer Moschee aus. Der Beschwerdeführer hat seinen Eltern sowie seinen Freunden in Österreich davon erzählt, dass er keine religiösen Riten mehr ausübt.

Der Beschwerdeführer lehnt seit Kindheitstagen den Islam ab. Er ist nicht bereit, diese bereits gefestigte, den Islam ablehnende Haltung in Zukunft wieder aufzugeben oder religionskritische Äußerungen zu unterlassen. Der Beschwerdeführer hat die Ablehnung des Islam und die Hinwendung vom Pantheismus verinnerlicht und trägt dies nachhaltig in Gesprächen und Internetpostings nach außen.

Der Beschwerdeführer würde aufgrund dieser angenommenen Lebensweise und aufgrund des auch nur unterstellten Abfalls vom Islam in Afghanistan, insbesondere in seiner Herkunftsprovinz Bamyan, aber auch in anderen Großstädten und Gebieten Afghanistans individuelle und konkrete Gefahr physischer oder psychischer Gewalt drohen. Eine Unterdrückung seiner gefestigten, den Islam ablehnende Haltung kann dem Beschwerdeführer angesichts der Verinnerlichung seiner Überzeugung nicht zugemutet werden.

1.2.2. Der Beschwerdeführer ist unter seinem eigenen Namen auf XXXX in der Gruppe „ XXXX “ aktiv und diskutiert mit anderen Mitgliedern über den Islam.

Der Beschwerdeführer postet auf seinem öffentlich einsehbaren XXXX Account unter seinem eigenen Namen verschiedene Kommentare, Sprüche und Suren, die in ihrem Kontext als islam- und glaubenskritisch zu verstehen sind.

Der Beschwerdeführer wurde aufgrund seiner XXXX -Postings über XXXX von einem unbekannten Teilnehmer persönlich bedroht. Ein anderes XXXX -Mitglied schickte dem Beschwerdeführer eine Liste mit Taten und Vorgehensweisen gegen den Islam und schrieb, dass der Beschwerdeführer Opfer des Jihad werden sollte.

Aufgrund seiner öffentlichen islamkritischen XXXX -Postings droht dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit individuelle und konkrete Gefahr physischer oder psychischer Gewalt.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020 (LIB)

-        UNHCR - Richtlinien zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von AsylwerberInnen aus Afghanistan (Entwicklungen in Afghanistan; Sicherheitslage; Auswirkungen des Konflikts auf ZivilistInnen; Menschenrechtslage; humanitäre Lage; Risikoprofile; interne Fluchtalternative; Ausschlussgründe; etc.) vom 30.08.2018

-        EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, vom Dezember 2020

-        EASO Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City Country of Origin Information Report vom August 2020 (nur auf English verfügbar)

-        Themenbericht der Staatendokumentation: Afghanistan: Die aktuelle sozioökonomische Lage in Afghanistan vom September 2020

-        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif / ecoi.net featured topic on Afghanistan: Security situation and socio-economic situation in Herat-City and Mazar-e Sharif, 26. Mai 2020

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        EASO-Leitlinien zu Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan Guidance Note and Common Analysis) vom Juni 2019;

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        ACCORD ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 27. Jänner 2021

-        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation Anfragebeantwortung Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15. Juni 2020

-        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation vo 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159] 1. Juni 2017.

1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

1.3.2. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

1.3.3. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).

1.3.3.1. Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen.

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 17.1.)

1.3.3.2. Apostasie

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (LIB, Kapitel 17.4.).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen. Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal (LIB, Kapitel 17.4.).

Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist. Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (LIB, Kapitel 17.4.).

Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben. Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen. Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (LIB, Kapitel 17.4.).

Rechtliche Verfolgung und Verurteilungen aufgrund von Apostasie oder Blasphemie seit 2001 sind relativ selten. Die letzten Verhaftungen oder Strafverfolgungen in Zusammenhang mit Apostasie oder Blasphemie, von denen das DFAT Kenntnis habe, hätten im Jahr 2014 stattgefunden (DFAT, 27. Juni 2019, S. 28). Ebenso hält auch das USDOS im Bericht vom Juni 2020 fest, dass es in den vorangegangenen fünf Jahren keine Berichte über vonseiten des Staates durchgeführte rechtliche Verfolgung wegen Blasphemie oder Apostasie gegeben habe (USDOS, 10. Juni 2020, Section II) (ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen, die vom islamischen Glauben abgefallen sind, von KonvertitInnen, von Personen, die sich nicht an islamische Regeln halten und von Personen, die öffentlich Kritik am Islam üben: Behandlung durch Gesellschaft und Staat; Möglichkeiten zur Ausübungen christlicher Religion; Veränderungen hinsichtlich der Lage von ChristInnen; Gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa [a-11271] vom 15.06.2020).

Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass die Situation von Apostaten, die hin zu einer anderen Religion konvertieren, eine andere sei als jene von Atheisten oder säkular eingestellten Personen. Mit dem Negieren bzw. Bezweifeln der Existenz Gottes würden keine Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten im Alltag einhergehen. Eine Konversion zu einer Religion hingegen sei mit Verhaltensvorschriften, kirchlichen Traditionen und Ritualen zu verbinden, die schwieriger zu verbergen seien (ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159] vom 01.06.2017.)

Die International Humanist and Ethical Union (IHEU) bemerkt in ihrem Bericht vom November 2016, dass nur sehr wenige Fälle von „Ungläubigen“ bzw. Apostaten verzeichnet würden, was wahrscheinlich jedoch bedeute, dass viele Konvertiten und Andersgläubige zu viel Angst davor hätten, ihren Glauben öffentlich kundzutun. Der Übertritt vom Islam werde selbst von vielen Personen, die sich allgemein zu demokratischen Werten bekennen würden, als Tabu angesehen (ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159] vom 01.06.2017.)

Laut einem Artikel von BBC News vom Jänner 2014 stelle Konversion bzw. Apostasie in Afghanistan nach islamischem Recht eine Straftat dar, die mit der Todesstrafe bedroht sei. In manchen Fällen würden die Leute jedoch die Sache selbst in die Hand nehmen und einen Apostaten zu Tode prügeln, ohne dass die Angelegenheit vor Gericht gelange. Weiters bemerkt BBC News, dass für gebürtige Muslime ein Leben in der afghanischen Gesellschaft eventuell möglich sei, ohne dass sie den Islam praktizieren würden oder sogar dann, wenn sie „Apostaten“ bzw. „Konvertiten“ würden. Solche Personen seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden. Gefährlich werde es dann, wenn öffentlich bekannt werde, dass ein Muslim aufgehört habe, an die Prinzipien des Islam zu glauben. Es gebe kein Mitleid mit Muslimen, die „Verrat an ihrem Glauben“ geübt hätten, indem sie zu einer anderen Religion konvertiert seien oder aufgehört hätten, an den einen Gott und an den Propheten Mohammed zu glauben. In den meisten Fällen werde ein Apostat von seiner Familie verstoßen (ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159] vom 01.06.2017.)

1.3.3.3. Öffentliche Kritik am Islam und Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln:

Laut dem Bericht von USCIRF vom April 2020 verbiete ein vage formuliertes Mediengesetz das Verbreiten „anti-islamischer Inhalte". Die Durchsetzung des Gesetzes sei dabei an eine Kommission von RegierungsbeamtInnen und JournalistInnen delegiert worden. Die angesprochene Bestimmung findet sich unter anderem in Artikel 45 Absatz 1 des afghanischen Gesetzes zu Massenmedien von 2009 (in englischer Übersetzung), laut dem das Produzieren, Reproduzieren, der Druck und die Veröffentlichung von Berichten und Materialien, die den Prinzipien der heiligen Religion des Islam zuwiderlaufen, durch die Massenmedien bzw. sonstige Agenturen verboten ist. Weiters verbietet Absatz 6 desselben Artikels das Publizieren und Verbreiten (Propagieren) anderer Religionen als der heiligen Religion des Islam durch die Massenmedien bzw. sonstige Agenturen. (Strafmaße werden hierzu jeweils keine genannt, Anm. ACCORD) (Gesetz zu Massenmedien, 2009, Artikel 45, Absatz 1 und 6).

DFAT gibt in seinem Bericht vom Juni 2019 an, dass die Artikel 323-325 des afghanischen Strafgesetzbuches von 2017 das Beleidigen von Religionen, die Störung von Riten oder Zeremonien und den Angriff auf Anhänger einer Religion durch Worte oder Handlungen verbiete. Das Beleidigen oder Entstellen des Glaubens oder der Bestimmungen des Islam werde mit einer Freiheitsstrafe zwischen einem und fünf Jahren geahndet.

Die Organisation Humanists International schreibt in ihrem Bericht vom November 2019, dass das Strafgesetz sich nicht konkret auf Blasphemie beziehe, weshalb Gerichte in Bezug auf dieses Thema das islamische Recht heranziehen würden. Blasphemie - wozu auch anti-islamische Schriften oder Reden gehören könnten - sei nach einigen Auslegungen des islamischen Rechts ein Kapitalverbrechen. Infolgedessen seien Atheisten und Freidenker gezwungen, ihre Überzeugungen zu verbergen. Die einzige Möglichkeit, ihre Gedanken auszudrücken, sei die anonyme Nutzung sozialer Medien. Für Männer ab 18 und Frauen ab 16 Jahren, die bei klarem Verstand seien, könne ein islamischer Richter ein Todesurteil wegen Blasphemie verhängen. Ähnlich wie Abtrünnige hätten die der Blasphemie Beschuldigten drei Tage Zeit, um zu widerrufen oder aber die Todesstrafe zu erhalten. Wenn Anschuldigungen der Blasphemie oder der Verleumdung der Religion erhoben würden, könne es passieren, dass Menschen gewalttätig angegriffen würden.

Das DFAT schreibt im Bericht vom Juni 2019, dass rechtliche Verfolgung und Verurteilungen aufgrund von Blasphemie ebenso wie jene von Apostasie seit 2001 relativ selten seien. Die letzten Verhaftungen oder Strafverfolgungen in Zusammenhang mit Apostasie oder Blasphemie, von denen das DFAT Kenntnis habe, hätten im Jahr 2014 stattgefunden. (DFAT, 27. Juni 2019, S. 28)

Melissa Kerr Chiovenda schreibt in ihrer E-Mail-Auskunft vom Juni 2020, dass den Islam zu kritisieren oder nicht nach dessen Regeln zu leben, Auswirkungen haben könne. Erstens gebe es ein Blasphemie-Gesetz, das Gefängnis- oder Todesstrafen vorsehe und das gegen JournalistInnen und andere Personen angewandt worden sei, die den Islam, wie er in Afghanistan praktiziert werde, in Frage gestellt hätten. AfghanInnen, die säkularer seien, seien in der Regel sehr darauf bedacht, in der Öffentlichkeit den Anschein der Frömmigkeit aufrechtzuerhalten, und seien sehr vorsichtig mit dem, was sie sagen würden. Die öffentliche Zurschaustellung der Frömmigkeit sei für Menschen in Machtpositionen notwendig. Gegen Menschen, die den Islam kritisieren würden, könne das Blasphemie-Gesetz angewendet werden. Aber vergleichbar mit dem Thema Apostasie sei es auch hier so, dass es wahrscheinlicher sei, dass Personen eher gesellschaftliche Auswirkungen zu spüren bekommen würden, es sei denn, es handle sich um jemanden, der eine öffentliche Rolle in der Gesellschaft einnehme.

Friederike Stahlmann antwortet im Rahmen der im Mai 2020 von ACCORD organisierten Online-Veranstaltung wie folgt auf die Frage, inwieweit Aktivitäten in sozialen Netzwerken wie etwa islamkritische Facebook-Beiträge für die Urheber der Beiträge problematisch seien: Gemäß ihren Erhebungen müsse man davon ausgehen, dass alles, was man im Exil oder Online gesagt und getan habe, bekannt würde. Wenn man sich in sozialen Medien islamkritisch geäußert habe, stelle dies dann ein akutes Risiko dar. Die Tabuisierung von Blasphemie und Apostasie bestehe auch in der Exilcommunity und islamkritische Einträge würden großes Aufsehen erregen. Außerdem würden Geflüchtete auch von Afghanistan aus beobachtet und deren Verhalten im Exil sozial kontrolliert. Man erlebe das hier in Europa, dass viele Mädchen oder junge Frauen sich viel weniger frei bewegen würden, als sie dies eigentlich wollen würden, weil sie Sorge hätten, dass dann Fotos von ihnen im Netz landen würden, die dann in Afghanistan gesehen werden könnten. Wenn man als Flüchtling zu einer Gemeinschaft wie der Familiengemeinschaft zurückkehren wolle, dann müsse man davon ausgehen, dass Einträge schon bekannt seien. Wenn man in einem fremden Ort nur eine Nacht in einem Teehaus verbringe und dann schon wieder weiterreise, dann sei aufgrund des kurzen Aufenthalts das Interesse meist noch nicht so groß. Aber wenn man so etwas wie eine Ansiedlung anstrebe oder wenn man arbeiten wolle, dann werde relevant, wer man sei und ob man vertrauenswürdig sei, und dies werde dann überprüft. Dabei werde entweder in der Herkunftsgemeinschaft nachgefragt, oder man sei eben auch gezwungen, Facebook -Accounts offen zu legen. Insofern sei egal, ob in Social-Media-Accounts der Klarname aufscheine oder nicht (Stahlmann, 11. Mai 2020).

Noah Coburn schreibt in seiner E-Mail-Auskunft vom Juni 2020, dass Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten würden oder den Islam kritisieren würden, in manchen ländlichen Regionen des Landes dafür getötet werden könnten. In anderen Regionen könne ein derartiges Verhalten etwa zu einer Verhaftung oder zu Übergriffen führen. Dass eine Person in Afghanistan öffentlich den Islam kritisiere, sei allerdings äußerst selten und Coburn vermutet, dass es in solchen Fällen dann oft so sei, dass die Mitmenschen diese Person für geisteskrank halten würden.

Tolo News berichtet im Dezember 2019 über den Fall Zaman Ahmadi. Dieser sei im Jahr 2012 verhaftet und für schuldig befunden worden, Blasphemie begangen zu haben (Tolo News, 4. Dezember 2019). Grund sei gewesen, dass der Schriftsteller einen Artikel über die Zerstörung einer Buddha-Statue in der Provinz Bamyan verfasst habe, wie Tolo News im Jänner 2020 schreibt (Tolo News, 10. Jänner 2020). Zaman sei daraufhin von einem erstinstanzlichen Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans habe nun im Dezember 2019 die 20-jährige Gefängnisstrafe aufgehoben (Tolo News, 4. Dezember 2019). Im März 2020 sei Zaman laut einem Artikel der afghanischen Onlinezeitung Kabul Now freigelassen worden, nachdem der Fall an die erste Instanz zurückverwiesen worden sei, die ein neues Urteil erlassen habe. Gemäß diesem Urteil sei die Zeit, die er bereits im Gefängnis abgesessen habe, ausreichend, um die gegen ihn erhobenen Blasphemie-Anschuldigungen zu tilgen (Kabul Now, 11. März 2020).

[…]

Die Anthropologin Melissa Kerr Chiovenda antwortet in einer E-Mail-Auskunft vom Juni 2020 wie folgt auf die Frage, ob sich die Reaktion der Gesellschaft auf KonvertitInnen oder andere ApostatInnen unterscheide, je nachdem, ob man sich im ländlichen oder im städtischen Bereich befinde. Laut Kerr Chiovenda rufe das Bekanntwerden solcher Fälle im ländlichen Bereich eine schlimmere Reaktion hervor, jedoch solle diese Bemerkung in keiner Weise die Gefahr in städtischen Gebieten herunterspielen. Zum Teil lasse sich dies damit erklären, dass es in der letzten Zeit eine enorme Migration vom Land in die Stadt gegeben habe, so dass die sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land deutlich abgenommen hätten.

In einer E-Mail-Auskunft vom Juni 2020 hält Friederike Stahlmann fest, dass sofern Apostasievorwürfe im Raum stehen würden – und sei es auch nur als Gerücht -, nicht davon ausgegangen werden könne, dass es bezüglich der Reaktion des sozialen Umfelds und der Öffentlichkeit Stadt-Land-Unterschiede gebe. Die soziokulturellen Differenzen, die in Vorkriegszeiten einen Stadt-Land-Unterschied geprägt hätten, hätten in vielerlei Hinsicht an Bedeutung verloren. Dies sei zum einen den Migrations- und Fluchtbewegungen geschuldet. Zum anderen sei das soziopolitische Interesse, sich gegen vermeintlich anti-islamische Einflüsse zur Wehr zu setzen, nicht auf militärische Opposition wie die Taliban beschränkt, sondern stelle einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens dar.

In Städten wie Herat, Kabul oder Mazar-e Sharif mag die Wahrscheinlichkeit geringer sein als in entlegenen ländlichen Regionen, dass Personen, die wegen Apostasie angeklagt würden, von staatlichen Gerichten zum Tode verurteilt würden, und die Chance größer, dass ein Todesurteil durch eine international unterstützte Ausreise abgewandt würde. Ein weiterer minimaler Unterschied sei, dass Städte eher Nischen für eine wenn auch meist nur sehr diskret gelebte liberale Szene bieten würden. Diese setze jedoch die Unterstützung eines sozialen Umfeldes voraus, das weniger konservative Haltungen toleriere und einen vorsichtigeren Umgang mit Vorwürfen wie Apostasie pflege. Voraussetzung dafür sei jedoch zumindest der potente sozio-ökonomische Schutz der erweiterten Familie, der erlaube, sich zum Beispiel durch eigene Fahrer oder Wächter zu schützen, aber auch über die Mittel verfüge, im Notfall eine Ausreise zu ermöglichen. Es setze jedoch auch die Bereitschaft des sozialen Umfelds voraus, das Risiko derart provozierter Übergriffe in Kauf zu nehmen. In einem derartigen Setting könne es möglich sein, privat weniger oder gar nicht zu beten, oder bei Veranstaltungen in Kleidung aufzutreten, die in vielen ländlichen Gebieten ausgeschlossen wäre. Doch auch die kleine liberale Elite investiere viel, um in der Öffentlichkeit die Form zu wahren und möglichst wenig Angriffsfläche für Vorwürfe der Ungläubigkeit zu bieten. Denn nicht zuletzt seien diese auch ein beliebtes Mittel der Diskreditierung durch die politisch machthabende Elite gegenüber der kleinen Opposition, die rechtsstaatliche Standards fordere. Wer jedoch nicht schon Teil dieser Szene sei und deren Schutz genieße, müsse auch in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif damit rechnen, dass sich die Bewertung von Auftreten, Verhalten und Äußerungen nicht von ländlichen Regionen unterscheide. (Stahlmann, 11. Juni 2020) (ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen, die vom islamischen Glauben abgefallen sind, von KonvertitInnen, von Personen, die sich nicht an islamische Regeln halten und von Personen, die öffentlich Kritik am Islam üben: Behandlung durch Gesellschaft und Staat; Möglichkeiten zur Ausübungen christlicher Religion; Veränderungen hinsichtlich der Lage von ChristInnen; Gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa [a-11271] vom 15.06.2020)

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Beschwerdeführers und einer Zeugin in der mündlichen Verhandlung.

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seine familiäre Situation in Afghanistan, seiner Schulbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen Angaben.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Zum Vorbingen der Apostasie:

Vorauszuschicken ist, dass es bei der Beurteilung eines behaupteten Religionswechsels und der Prüfung einer Scheinkonversion auf die aktuell bestehende (oder ablehnende) Glaubensüberzeugung des Konvertiten ankommt, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung anhand einer näheren Beurteilung einer konkreten Befragung des Asylwerbers zu seinen religiösen Aktivitäten zu ermitteln ist (dazu etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0236). Erforderlich ist allerdings, dass der Asylwerber sein Vorbringen zu seinem Religionswechsel gebührend substantiiert. Im Rahmen von Anträgen auf internationalen Schutz, die mit der Furcht vor Verfolgung aus religiösen Gründen begründet werden, sind neben der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers u. a. dessen religiöse Überzeugungen und die Umstände ihres Erwerbs, die Art und Weise, in der der Antragsteller seinen Glauben bzw. Atheismus versteht und lebt, sein Verhältnis zu den doktrinellen, rituellen oder regulatorischen Aspekten der Religion, der er nach eigenen Angaben angehört bzw. den Rücken kehren will, seine etwaige Rolle bei der Vermittlung seines Glaubens oder auch ein Zusammenspiel von religiösen Faktoren und identitätsstiftenden, ethnischen oder geschlechtsspezifischen Faktoren zu berücksichtigen (vgl. EuGH 04.10.2018, Rechtssache C-56/17, Fathi, Rz. 82, 84 sowie 88, teilweise m.w.N.).

Dass der Beschwerdeführer als Angehöriger der muslimischen Religion schiitischer Ausrichtung aufgewachsen ist, ergibt sich aus seinem bei der Erstbefragung und in der zweiten Einvernahme vor dem Bundesamt angegebenen Religionsbekenntnis (BFA-Akt, AS 11 und AS 328). Die Feststellung, dass er am XXXX aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausgetreten ist, ergibt sich aus den vorgelegten Unterlagen (Niederschrift bezüglich Religionsaustritt des XXXX vom XXXX ) und den Angaben des Beschwerdeführers in der zweiten mündlichen Verhandlung vom XXXX (in Folge: OZ 22), S. 6).

In seiner zweiten Einvernahme vor dem Bundesamt gab der Beschwerdeführer an, dass er westlich orientiert sei. Auf Nachfrage, was er damit meine, führte er aus, dass er nicht mehr an Gott glaube. Auf Nachfrage, welcher Religion er nun angehöre, antwortete der Beschwerdeführer, dass er jetzt keine richtige Religion mehr habe. Auf Vorhalt, dass der zu Beginn der Einvernahme angegeben habe, dass er Schiit sei, gab der Beschwerdeführer an: „Ich bin schon Muslim / Schiit, habe aber viele Fragen und bin mir nicht klar.“ (BFA-Akt, AS 334). In der Beschwerde wurde kein diesbezügliches Vorbringen erstattet.

Mit Beschwerdeergänzung vom XXXX gab der Beschwerdeführer bekannt, dass er seit XXXX eine XXXX -Seite betreibe, auf der er sich über seine Einstellung zur Religion öffentlich äußere (OZ 9). Mit Dokumentenvorlage vom XXXX legte der Beschwerdeführer Auszüge aus seinem XXXX -Profil vor (OZ 12, S. 6ff.). In der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer an, dass er Mitglied der XXXX -Gruppe „ XXXX “ sei und im Rahmen dieser Gruppe Beiträge like, beantworte und kommentiere. Im Zuge dessen sei er von einem anderen Gruppenmitglied bedroht worden. Ihm sei ein Bild geschickt worden, aus dem hervorgehe, dass der Beschwerdeführer Opfer des Jihads werden solle. Befragt, was aus seiner Sicht religionskritisch sei, gab er an, dass er es nicht für notwendig halte, dass man Dinge einhalte, die vor 1.400 Jahren aktuell gewesen seien. Der Inhalt des Korans sei nicht mit seiner Vernunft vereinbar. Der Inhalt des Korans stamme seiner Meinung nach nicht von Gott selbst, sondern vom Propheten. Im Alltag bedeute das für ihn, dass er im Monat Ramadan nicht faste und keine Gebete verrichte. Er verheimlich das nicht. Er würde Alkohol trinken und frei darüber sprechen. Er habe bereits als Kind am Islam gezweifelt. In Österreich könne er frei darüber sprechen. Befragt, ob er an Gott glaube, gab der Beschwerdeführer an, dass er an Gott glaube, aber nicht an den Gott des Islam (OZ 14, S. 12-13).

In der zweiten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer auf die Frage nach seiner Religionszugehörigkeit an, dass diese „sehr nah an Panantheis“ sei. Er habe keine Religion, er faste und bete nicht. Er glaube aber an Gott. Sein Leben werde nicht mehr von Allah und dem Islam bestimmt, sondern von seinem eigenen Wissen. Er sei nach wie vor Mitglied der XXXX -Gruppe „ XXXX “ aktiv ( XXXX -Postings, Beilagen ./3 bis ./8). Im Fall einer Rückkehr habe er Angst, dass er etwas gegen den Islam sage und dann als Ungläubiger geköpft oder verbrannt werde (OZ 22, S. 6-9).

Die Feststellungen zum nichtreligiösen Lebensstil des Beschwerdeführers, dessen religionskritischer Geisteshaltung und zu dessen Nichtbereitschaft, zukünftig auf religionskritische Äußerungen (insbesondere auf XXXX ) zu verzichten, ergeben sich aus dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie den vorgelegten Auszügen der XXXX -Seite des Beschwerdeführers. Anhand der detaillierten Antworten des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vom XXXX sowie vom XXXX ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes deutlich erkennbar, dass sich der Beschwerdeführer bereits jahrelang mit dem Thema Religion intensiv auseinandergesetzt hat.

Der Beschwerdeführer legte plausibel dar, sich seit seiner Kindheit mit religionskritischen Überlegungen beschäftigt zu haben (OZ 14, S. 12-13). Der Beschwerdeführer hält sich nunmehr bereits länger als fünf Jahre in Österreich auf und hat sich in dieser Zeit intensiv mit religionsphilosophischen Lehren – konkret dem Pantheismus („Allgottlehre“) – beschäftigt und vertraut gemacht. Er scheut nicht davor zurück, in seinem Freundes- und Bekanntenkreis darüber Streitgespräche zu führen und hat seine Ansichten und Anschauungen auch auf XXXX für jedermann ersichtlich veröffentlicht. Dies wurde auch von der Zeugin in der mündlichen Verhandlung am XXXX bestätigt, die angab, dass der Beschwerdeführer bei mehreren Gelegenheiten öffentlich in verschiedenen Runden über die Themen Religion, Meinungsfreiheit und Gedankenfreiheit gesprochen hat (OZ 14, S. 23).

Bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen islamkritischen Gedanken ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer lediglich sechs Jahre lang eine Schule besucht hat und in der Landwirtschaft gearbeitet hat. Der Beschwerdeführer hat sich seine religionskritischen und zum Teil philosophischen Überlegungen daher selbst erarbeiten müssen und vor diesen Hintergrund erschienen die Ausführungen dem Gericht detailliert und durchdacht (OZ 14, S. 21: R: Sie haben gesagt, Sie glauben grundsätzlich an Gott. Was hat Sie dazu bewogen, dass Sie den Islam ablehnen? BF: Die Menschen lesen den Koran und dass was im Koran geschrieben steht, sind nicht Worte Gottes. Es ist kein göttliches Buch, sondern eine Zusammenstellung von Texten die von normalen Menschen mit dem damaligen Bildungsniveau geschrieben wurde. Im Islam gibt es keine Freiheit und im Islam denkt man, dass nur diese Religion recht hat und alle anderen falsch liegen. Ich bin aber der Überzeugung, dass Gott eine weitaus größere Macht ist, als der Islam. … Es gibt viele Dinge im Koran an denen ich Zweifel habe, weil der Koran für mich lediglich die Gedanken von Mohammed darstellen.; OZ 22, S. 7: R: Können Sie mir das schildern? BF: Ja, mein Leben wird nicht mehr von Allah und dem Islam bestimmt, sondern von meinem eigenen Wissen. Von meinem Wissen was richtig oder falsch ist. Die Entscheidung trifft mein Gewissen und Gott mischt sich nicht in mein Leben ein. Damit meine ich Allah den Gott des Islam…).

Als tragende Überlegung legte der Beschwerdeführer somit dar, sich zu keiner bestimmten Religion zu bekennen, sondern einen umfassenden Gottesbegriff zu haben, wenn er dies auch erst bei dem zweiten Termin der mündlichen Verhandlung als Pantheismus bezeichnete (OZ 14, S. 21:… BF: Nein. Ich habe nun ca. fünf Jahre hier verbracht und für mich beschlossen, nicht mehr Moslem zu sein. Ich bezeichne mich nicht als Moslem und bekenne mich zu keinem bestimmten Glauben. Mit meiner aktuellen Einstellung würde ich in Afghanistan getötet werden. Ich bekenne mich zu keiner bestimmten Religion.; OZ 22, S. 6: R: Wie beantworten Sie die Frage nach Ihrer Religionszugehörigkeit? BF: Sehr nah an Panantheis. R: Können Sie mir das bitte erklären? BF auf Deutsch: Das bedeutet, dass ich glaube, dass wir alle Teil von Gott sind. Wir sind eins mit Gott. Alles ist Gott und Gott ist alles...)

Auch gegenüber seiner Familie spricht der Beschwerdeführer offen über seine Haltung zur Religion. Diesbezüglich gab er an, dass seine Mutter ihn immer ermahnt, zu fasten und zu beten und sein Vater aus diesem Grund keinen Kontakt mehr zu ihm haben will (OZ 14, S. 13). Dass der Beschwerdeführer sich in diesem Punkt seiner Familie wiedersetzt und dies seinen Eltern auch offen kommuniziert, ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes im konkreten Fall ein deutliches Zeichen, dass die Abkehr des Beschwerdeführers vom Islam ernsthaft ist. Zur Außenwirkung der Apostasie ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer eine Austrittserklärung (Niederschrift und Schreiben des XXXX ) vorgelegt hat, die belegt, dass er aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausgetreten ist. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass eine solche Austrittserklärung in Afghanistan nicht einsehbar ist und auch niemand von dieser Kenntnis hat. Der formelle Austritt zeigt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedoch auch, dass es dem Beschwerdeführer ein Anliegen ist, den Abfall vom Islam als innere Überzeugung auch nach außen darzulegen.

Aufgrund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer sich schon seit seiner Kindheit die Lehren des Islam in Zweifel gezogen hat (OZ 14, S. 13) und in Österreich seit mehreren Jahren religionslos lebt, ist auch davon auszugehen, dass sich diese Geisteshaltung schon derart verfestigt hat, dass er nicht bereit ist, dies zukünftig zu ändern oder zumindest vor seiner Umgebung zu verheimlichen, und zwar unabhängig davon, ob in Österreich oder in seinem Herkunftsstaat.

Insgesamt entstand der Eindruck, dass der Beschwerdeführer sich ernsthaft und über einen längeren Zeitraum mit religionskritischen Themen beschäftigt hat und dass seine islamkritische Haltung und Hinwendung zum Pantheismus echt sind. Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung bei zwei Gelegenheiten gewonnenen Eindrucks davon aus, dass der Beschwerdeführer sich innerlich ernsthaft vom Islam abgewendet und eine von philosophischen Überlegungen geprägte Hinwendung zum Pantheismus verinnerlicht hat. Der Beschwerdeführer hat sich damit innerlich vom Islam abgewendet und auch nach außen getragen, indem er dies gegenüber Freunden und Familie gegenüber offenlegte und aus der islamischen Glaubensgemeinschaft austrat.

Der Beschwerdeführer wurde zu dem Thema seines Glaubensabfalles in der mündlichen Verhandlung in zwei Terminen ausführlich befragt und erweckte bei seinen diesbezüglichen Aussagen einen persönlich glaubwürdigen Eindruck. Er legte seine Motive und seine persönlichen Überlegungen nachvollziehbar und ohne Widersprüche dar.

Das Bundesamt verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung (OZ 11 und Oz 18) und trat den Beweisergebnissen diese insofern nicht entgegen.

Den Länderberichten ist zu entnehmen, dass eine Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet wird, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt zwar keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie, die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung.

Da der Beschwerdeführer die islamkritische Haltung ernsthaft verinnerlicht hat, kann ihm nicht zugemutet werden, diese bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu unterdrücken, um Verfolgung und Repressalien zu entgegen. Diese Befürchtung äußerte der Beschwerdeführer auch konkret in der mündlichen Verhandlung (OZ 14, S. 21).

Es ist vor dem Hintergrund der Länderberichte zu prognostizieren, dass die Reaktionen auf die vom Beschwerdeführer verinnerlichte Abkehr vom Islam und Hinwendung zu einem philosophisch ausgerichteten Pantheismus in Afghanistan in gesellschaftlicher Ausgrenzung, Diskriminierung bis zur physischen und psychischen Gewalt bestehen würde. Eine offen ausgelebte Abkehr vom Islam (Apostasie) ist jedenfalls nach islamischem Recht ein mit Todesstrafe bewehrtes Verbrechen, auch wenn dies nach den Länderberichten von staatlicher Seite nicht offen verfolgt wird. Es ist aber jedenfalls kein Schutz von staatlichen Einrichten gegen Übergriffen aus diesem Grund zu erwarten.

2.2.2. Zu den islamkritischen Äußerungen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer konnte mittels Vorlage mehrerer Ausdrucke von XXXX -Postings in seiner Stellungnahme vom XXXX sowie in der zweiten mündlichen Verhandlung (Beilagen ./3 bis ./8 zu OZ 22) belegen, dass er in der XXXX -Gruppe „ XXXX “ mit anderen Personen unter seinem eigenen Namen auf XXXX Gedanken zu Religion geteilt und öffentlich zugänglich gemacht hat. Der Inhalt der XXXX -Postings des Beschwerdeführers konnte auf Grundlage der während der beiden mündlichen Verhandlungen vom Beschwerdeführer selbst durchgeführten Übersetzung unter Kontrolle der anwesenden Dolmetscher festgestellt werden (OZ 14, S. 11-12; OZ 22, S. 7-8).

Zu dem in den Feststellungen wiedergegebenen Inhalt der XXXX -Postings ist zunächst festzuhalten, dass der Beschwerdeführer auf Antworten bzw. Postings anderer Gruppenmitglieder der Gruppe „ XXXX “ antwortet (z.B.: OZ 14, S. 11-12: „Bei dem markierten Posting handelt es sich um meine Antwort auf die Frage, die mir von XXXX gestellt wurde. Er fragt, welchen Unfug ich spreche und ich habe geantwortet, jemanden als ungläubig zu bezeichnen, ist die Verteidigung des religiösen Glaubens durch Geistliche, sie haben nämlich nicht die Kraft auf sich selbst Acht zu geben. Es ist erfunden. […] Im zweiten Posting antworte ich auf einen Kommentar von XXXX : Ich habe damit ein Problem, dass Muslime behaupten, Antworten auf alle menschlichen Bedürfnisse in der Religion finden zu können.“), bzw. Bilder mit Unterschriften teilt (z.B.: Beilage ./7 zu OZ 22, übersetzt in OZ 22, S. 8), die den Islam thematisieren. Mit Blick auf den Inhalt der vom Beschwerdeführer geposteten Texte ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes deutlich erkennbar, dass der Beschwerdeführer den Islam als Religion kritisch hinterfragt. Die Antwort des Beschwerdeführers, dass Geistliche andere als ungläubig bezeichnen würden, weil sie nicht die Kraft hätten auf sich selbst zu achten bzw. die zweite übersetzte Antwort des Beschwerdeführers, dass Muslime behaupten würden, Antworten auf alle menschlichen Bedürfnisse in der Religion finden zu können (OZ 14, S. 11 und S. 12), sind nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes ebenfalls als Infragestellung der Religion seitens des Beschwerdeführers zu interpretieren. Die in der zweiten mündlichen Verhandlung übersetzten Texte der Beilagen ./3 („Es gibt keine Religion, die einen Kranken heilen kann. Einen Hungrigen sättigen kann. Einem Obdachlosen Heim gewähren. Einem Sklaven die Freiheit geben. Die Menschlichkeit aber kann das schon machen.“), ./4 („Wenn Religion deinen Gegenüber wütend macht, zeigt das unwillentlich, dass das was ihr denkt, dass das nicht so ist.“), ./5 („Ein Mensch ohne Wissen, was soll er mit so einem Leben anfangen. Der kümmert sich nur um das Leben nach dem Tod.“) und ./7 („Wenn man aber seinen Glauben mit Wissen aneignet, kann niemand einen beleidigen. Wenn jemand was dagegen sagt wird man nicht wütend. Entweder lächelt man oder man macht sich Gedanken.“ - übersetzt in OZ 22, S. 7-8) sind nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes als religionsphilosophische Überlegungen des Beschwerdeführers zu werten, die er in der XXXX -Gruppe öffentlich teilte. Beilage ./8 enthält eine Gegenüberstellung zweier Suren des Koran, die sich widersprechen („Das ist eine Sure aus dem Koran. Wird Leuten, die Frauen anschuldigen unrein zu sein, vergeben? Sure 24: Vers. 4: Die Leute die unschuldig sind, aber an Gottes Toren um Vergebung bitten, aber in Gegenleistung sich selber korrigieren, nur in diesem Moment ist dann der Gott erbarmungsvoll und gnädig. BF dazu weiter: In der vorigen Sure heißt das das einem vergeben wird und in der nächsten Sure heißt das, dass einem nicht vergeben wird. Die Sure, in der einem nicht vergeben wird ist die Sure 24 Vers 22 aus dem Koran. Leute die gläubig sind fernab von Sünden, Frauen was schlechtes tun, sie beschuldigen ohne, dass sie was verbrochen haben, diese werden am Ende der Zeit ausgenommen von Erbarmen und Erlösung. In der letzten Zeile steht: Und diese jenigen werden von Gott eine große Strafe erhalten.“). Durch die öffentliche Gegenüberstellung stellt der Beschwerdeführer den Islam als Religion infrage. Dies wurde auch von der Zeugin belegt, die ausführte, dass sich der Beschwerdeführer intensiv mit dem Koran und darin enthaltenen Widersprüchlichkeiten beschäftigt hat (OZ 14, S. 23).

Aus den Länderberichten ergibt sich, dass ein vage formuliertes Mediengesetz das Verbreiten „anti-islamischer Inhalte" verbietet. Die Organisation Humanists International schreibt in ihrem Bericht vom November 2019, dass das Strafgesetz sich nicht konkret auf Blasphemie beziehe, weshalb Gerichte in Bezug auf dieses Thema das islamische Recht heranziehen würden. Blasphemie - wozu auch anti-islamische Schriften oder Reden gehören könnten - sei nach einigen Auslegungen des islamischen Rechts ein Kapitalverbrechen. Infolgedessen seien Atheisten und Freidenker gezwungen, ihre Überzeugungen zu verbergen. Die einzige Möglichkeit, ihre Gedanken auszudrücken, sei die anonyme Nutzung sozialer Medien. Für Männer ab 18 und Frauen ab 16 Jahren, die bei klarem Verstand seien, könne ein islamischer Richter ein Todesurteil wegen Blasphemie verhängen. Ähnlich wie Abtrünnige hätten die der Blasphemie Beschuldigten drei Tage Zeit, um zu widerrufen oder aber die Todesstrafe zu erhalten. Wenn Anschuldigungen der Blasphemie oder der Verleumdung der Religion erhoben würden, könne es passieren, dass Menschen gewalttätig angegriffen würden. Hinsichtlich der Frage, inwieweit Aktivitäten in sozialen Netzwerken wie etwa islamkritische XXXX -Beiträge für die Urheber der Beiträge problematisch seien, müsse man davon ausgehen, dass alles, was man im Exil oder Online gesagt und getan habe, bekannt würde. Wenn man sich in sozialen Medien islamkritisch geäußert habe, stelle dies dann ein akutes Risiko dar. Die Tabuisierung von Blasphemie und Apostasie bestehe auch in der Exilcommunity und islamkritische Einträge würden großes Aufsehen erregen. Außerdem würden Geflüchtete auch von Afghanistan aus beobachtet und deren Verhalten im Exil sozial kontrolliert. Wenn man als Flüchtling zu einer Gemeinschaft wie der Familiengemeinschaft zurückkehren wolle, dann müsse man davon ausgehen, dass Einträge schon bekannt seien. Wenn man in einem fremden Ort nur eine Nacht in einem Teehaus verbringe und dann schon wieder weiterreise, dann sei aufgrund des kurzen Aufenthalts das Interesse meist noch nicht so groß. Aber wenn man so etwas wie eine Ansiedlung anstrebe oder wenn man arbeiten wolle, dann werde relevant, wer man sei und ob man vertrauenswürdig sei, und dies werde dann überprüft. Dabei werde entweder in der Herkunftsgemeinschaft nachgefragt, oder man sei eben auch gezwungen, XXXX -Accounts offen zu legen. Insofern sei egal, ob in Social-Media-Accounts der Klarname aufscheine oder nicht (Pkt. 1.3.3.).

Im konkreten Fall ist der Beschwerdeführer unter seinem eigenen Namen auf XXXX in der Gruppe „ XXXX “ aktiv. Bezüglich des Inhalts der XXXX -Postings des Beschwerdeführers ist davon auszugehen, dass diese in Afghanistan als Blasphemie - wozu auch anti-islamische Schriften oder Reden gehören – gewertet werden könnten. Da der Beschwerdeführer bereits seit mindestens einem Jahr unter seinem eigenen Namen auf XXXX aktiv ist, fällt die gemäß den Länderberichten einzige Möglichkeit, Gedanken frei auszudrücken, nämlich die anonyme Nutzung sozialer Medien, im konkreten Fall weg. Aufgrund der zitierten Länderberichte ist im vorliegenden Fall folglich auch nicht auszuschließen, dass die XXXX -Aktivitäten in Afghanistan bekannt und dem Beschwerdeführer zurechenbar sind. Im F

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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