TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/8 W189 2159664-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.04.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

08.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W189 2159664-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Martin DELLASEGA und Dr. Max KAPFERER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger der Ukraine, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am XXXX durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Zu seinen Fluchtgründen brachte er vor, dass er am XXXX von prorussischen Separatisten in der Nähe seines Hauses festgenommen worden sei. Sie hätten ihm Waffen gegeben und ihn gezwungen, gegen das eigene Volk zu kämpfen. Dies habe der BF aber nicht wollen und habe deshalb seine Waffe niedergelegt. Er sei davongelaufen und vor den prorussischen Separatisten geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr habe der BF Angst um sein Leben, da ihm die prorussischen Separatisten gesagt hätten, dass sie ihn umbringen würden, wenn er die Waffe niederlege und flüchte. Der BF habe sogar ein Papier unterschreiben müssen, in welchem stehe, dass er bei Niederlegung der Waffe und anschließender Flucht umgebracht werde.

2. Am XXXX wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen der Einvernahme legte der BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

3. Am XXXX übermittelte der BF eine Stellungnahme zu den Länderberichten und machte dazu rechtliche Ausführungen.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

5. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der BF durch seinen Rechtsvertreter binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass dem Bescheid veraltete Länderberichte zugrundelägen, die Beweiswürdigung aus näher genannten Gründen mangelhaft sei, dem BF sowohl durch die Separatisten als auch durch die ukrainischen Behörden Verfolgung drohe und keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe. Außerdem sei der BF bereits gut integriert.

6. Am XXXX erhob die Staatsanwaltschaft XXXX zur Zl. XXXX gegen den BF Anklage wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB. Der BF habe am XXXX dem Opfer dadurch, dass er es von hinten mit seinem Unterarm erfasst, gewürgt und mit der Faust gegen dessen Oberkörper geschlagen habe, was eine Schädelprellung, ein Schleudertrauma, eine Prellung und Abschürfungen am linken Ellbogen und eine Rötung im Kehlkopfbereich zur Folge gehabt habe, vorsätzlich am Körper verletzt.

7. Am XXXX übermittelte der BF eine Stellungnahme zu seinem Privat- und Familienleben und legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an welcher der BF teilnahm. Der BF wurde ausführlich zu seiner Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde ihm Gelegenheit gegeben, die Fluchtgründe umfassend darzulegen, sich zu seinen Rückkehrbefürchtungen und der Integration im Bundesgebiet zu äußern, sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten und ihm mit der Ladung zugestellten Länderberichten Stellung zu nehmen. Der BF legte ein Konvolut an Medienberichten über die Lage in der Ukraine (Beilage ./1), sowie Integrationsunterlagen (Beilage ./2) vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des BF

Die Identität des BF steht fest.

Der BF ist ukrainischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Russen und der Religionsgemeinschaft der orthodoxen Christen zugehörig. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Russisch und Ukrainisch.

Der BF ist in XXXX geboren und aufgewachsen. Er hat zuletzt in der Stadt XXXX gelebt. Er hat XXXX Jahre die Grundschule besucht und an der Staatlichen Pädagogischen Universität in XXXX das Magisterstudium des XXXX abgeschlossen. Außerdem hat er dort einen zweijährigen postgradualen Lehrgang der XXXX absolviert. Anschließend hat er von XXXX bis XXXX den Militärdienst abgeleistet. Er hat von XXXX bis kurz vor seiner Ausreise als XXXX gearbeitet.

Der Vater des BF ist im Jahr XXXX , seine Mutter im Jahr XXXX verstorben. Seine Schwester lebt in XXXX . Der BF hat eine Tante, eine Cousine, einen Cousin und deren Familien in der Ukraine. Weiters hat er dort Freunde und Bekannte, zu denen er Kontakt hat. Die Mutter des BF besaß in XXXX eine Eigentumswohnung.

Der BF ist geschieden, kinderlos und gesund.

Am XXXX erhob die Staatsanwaltschaft XXXX zur Zl. XXXX gegen den BF Anklage wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB. Der BF habe am XXXX dem Opfer dadurch, dass er es von hinten mit seinem Unterarm erfasst, gewürgt und mit der Faust gegen dessen Oberkörper geschlagen habe, was eine Schädelprellung, ein Schleudertrauma, eine Prellung und Abschürfungen am linken Ellbogen und eine Rötung im Kehlkopfbereich zur Folge gehabt habe, vorsätzlich am Körper verletzt.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des BF

Der BF wurde nicht in der Ostukraine von prorussischen Separatisten zwangsrekrutiert. Dem BF droht seitens der rechtmäßigen ukrainischen Regierung keine Rekrutierung und kein Strafverfahren. Der BF ist in der Ukraine keiner Bedrohung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit ausgesetzt. Es droht ihm in der Ukraine auch sonst keine Gefahr aus Konventionsgründen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine

1.3.1. Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020). Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil (FH 4.3.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

1.3.2. Rechtsschutz / Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Ukraine

-        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

-        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

1.3.3. Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).

Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).

In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

-        AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020]

-        BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020

-        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

-        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Ukraine

1.3.4. Folter und unmenschliche Behandlung

Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).

Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast immer während der Festnahme und des Verhörs. Die meisten Insassen berichteten, dass die Untersuchungsbeamten eine solche Behandlung einsetzten, um sie einzuschüchtern oder sie zu zwingen, ein angebliches Verbrechen zu gestehen. Der Sonderberichterstatter stellte ferner fest, dass es Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Staatsanwälten und Richtern an grundlegenden Kenntnissen mangelte, um Anschuldigungen von Folter und Misshandlung angemessen zu untersuchen und zu dokumentieren. Folglich erhielten Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen im Allgemeinen keine Hilfe von staatlichen Behörden. Nach Angaben der Charkiwer Menschenrechtsgruppe berichteten diejenigen, die bei der Generalstaatsanwaltschaft Folterbeschwerden eingereicht hatten, dass Strafverfolgungsbeamte sie oder ihre Angehörigen eingeschüchtert und gezwungen hätten, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichteten über Todesfälle aufgrund von Folter oder Vernachlässigung durch Polizei oder Gefängnispersonal (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

-        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Ukraine

1.3.5. Korruption

Die Ukraine wird im 2019 Corruption Perceptions Index von Transparency International mit 30 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 2019). Die Gesetze sehen strafrechtliche Sanktionen für Korruption vor, aber die Behörden setzen diese nicht effektiv um, und viele Beamte sind ungestraft korrupt, weniger in der Regierung, aber auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und der Justizbehörden. Trotz Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption durch die Regierung, bleibt diese ein Problem für Bürger und Unternehmen (USDOS 13.3.2019).

Korruption ist in der Ukraine weit verbreitet und stellt seit vielen Jahren ein inhärentes Problem dar. Korruption war ein zentrales Thema während der Proteste in Kiew im Herbst/Winter 2013/2014, die im Februar 2014 mit einem Regimewechsel endeten. In den Jahren 2014 und 2015 wurden im Rahmen einer nationalen Antikorruptionsstrategie mehrere neue Gremien zur Bekämpfung der Korruption auf verschiedenen Ebenen des Regierungsapparats eingerichtet. Darüber hinaus wurden Reformen in Polizei und Justiz eingeleitet, die beide stark von Korruption betroffen sind. Bis heute gibt es je nach Zuständigkeitsbereich eine Reihe von Stellen, die Korruptionsfälle untersuchen und strafrechtlich verfolgen. Es kam jedoch, wenn überhaupt, nur zu sehr wenigen Verurteilungen (Landinfo 2.3.2020). Bis vor kurzem gab es keine separaten Gesetze zum Schutz von Informanten, weshalb viele Bürger Korruption nicht anzeigen wollten. Im Jänner 2020 trat ein neues bzw. geändertes Gesetz zum Schutz von Informanten bezüglich Korruption in Kraft (Landinfo 2.3.2020; vgl. RFE/RL 14.11.2019).

Im Juni 2018 unterzeichnete der Präsident das Gesetz über das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC) (USDOS 13.3.2019). Das HACC nahm im September 2019 seine Arbeit auf. Mit der Schaffung des HACC wurde das System der Organe des Landes zur Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vervollständigt und zwei zuvor geschaffene Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, ergänzt. Die neuen unabhängigen Antikorruptionsbehörden sehen sich politischem Druck ausgesetzt, der das Vertrauen der Öffentlichkeit untergräbt, Bedenken hinsichtlich des Engagements der Regierung im Kampf gegen die Korruption aufkommen ließ und die Zukunftsfähigkeit der Institutionen bedroht (USDOS 11.3.2020). Mit der Errichtung des Hohen Antikorruptionsgerichts wurde der Aufbau des institutionellen Rahmens für die Bekämpfung der endemischen Korruption abgeschlossen (AA 29.2.2020). Das HACC hat jedoch bisher noch keine Ergebnisse erzielt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ende Februar 2019 hat das ukrainische Verfassungsgericht Artikel 368-2 des ukrainischen Strafgesetzbuches, welcher illegale Bereicherung durch ukrainische Amtsträger kriminalisierte, aufgehoben, weil er gegen die Unschuldsvermutung verstoßen habe. In der Folge musste NABU 65 anhängige Ermittlungen gegen Parlamentarier, Richter, Staatsanwälte und andere Beamte einstellen, die teilweise schon vor Gericht gekommen waren. Die EU zeigte sich über diese Entscheidung besorgt (Hi 3.3.2019). Am 26. November 2019 unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Gesetz, das die strafrechtliche Verantwortung für die unrechtmäßige Bereicherung von Regierungsbeamten wieder einführte (USDOS 11.3.2020).

Das Gesetz schreibt vor, dass hohe Amtsträger Einkommens- und Ausgabenerklärungen vorlegen müssen und diese durch die Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NAPC) geprüft werden. Die NAPC überprüft neben diesen Finanzerklärungen auch die Parteienfinanzierung. Beobachter stellen jedoch zunehmend infrage, ob die NAPC die Fähigkeit und Unabhängigkeit besitzt, diese Funktion zu erfüllen (USDOS 11.5.2020; vgl. ÖB 2.2019).

Durch den Reformkurs der letzten Jahre wurden mehr Transparenz und gesellschaftliches Bewusstsein für Korruption erreicht. Dennoch sind Korruption, Oligarchie und teilweise mafiöse Strukturen weiterhin Teil des Alltags der Menschen in der Ukraine, ob im Gesundheits- oder Bildungsbereich, in der Wirtschaft, im Zollwesen sowie in der Medienlandschaft (KAS 2019). Korruption ist nach wie vor ein ernstes Problem und trotz des starken Drucks der Zivilgesellschaft ist der politische Wille gering, dagegen anzugehen. Antikorruptionsagenturen wurden wiederholt in politisch belastete Konflikte mit anderen staatlichen Stellen und gewählten Vertretern verwickelt (FH 4.3.2020). Im Mai 2020 wurde bekannt, dass die Spezialstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung gegen den ehemaligen ukrainischen Generalstaatsanwalt Ruslan Ryaboshapka, der zwei Monate zuvor in einem parlamentarischen Misstrauensvotum aus dem Amt gezwungen wurde, ermittelt (RFE/RL 6.5.2020).

Die Ukraine hat einige Fortschritte bei der Förderung der Transparenz erzielt, zum Beispiel durch die Verpflichtung der Banken, die Identität ihrer Eigentümer zu veröffentlichen, und indem 2016 ein Gesetz verabschiedet wurde, das Politiker und Beamte dazu verpflichtet, elektronische Vermögenserklärungen abzugeben. Es ist jedoch möglich, einige Vorschriften zu umgehen, zum Teil, weil unterentwickelte Institutionen nicht in der Lage sind, Verstöße zu erkennen und zu bestrafen (FH 4.3.2020). Trotz der Bemühungen um eine Reform des Justizwesens und der Generalstaatsanwaltschaft bleibt Korruption unter Richtern und Staatsanwälten weit verbreitet (USDOS 11.3.2020).

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der seit 2019 im Amt ist, hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019; vgl. AA 29.2.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Ukraine

-        Hi – Hromadske international (3.3.2019): You Can Now Get Rich Illegally in Ukraine. What Does This Mean?

-        KAS – Konrad Adenauer Stiftung (2019): Die Ukraine – Transparent, aber korrupt?, KAS Auslandseinformationen 4/2019

-        Landinfo (2.3.2020): Ukraina, Korrupsjonsbekjempelse og beskyttelse for varslere av korrupsjon

-        RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (11.4.2019): Ukraine's President Creates Anti-Corruption Court

-        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (14.11.2019): Ukraine's Zelenskiy Signs Law On Corruption Whistle-Blowers

-        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (6.5.2020): Ukrainian Ex-Prosecutor Ryaboshapka Under Investigation

-        TI – Transparency International (2019): Corruption Perceptions Index 2019, Ukraine

-        UA - Ukraine Analysen (27.2.2019): Präsidentschaftswahlen 2019, per E-Mail

-        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Ukraine

-        USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine

1.3.6. Wehrdienst und Rekrutierungen

Die Wehrpflichtigen in der Ukraine werden folgendermaßen unterteilt: Stellungspflichtige (Pre-conscripts); Wehrpflichtige (Conscripts); aktive Soldaten; zum Wehrdienst verpflichtete Personen (persons liable for military service) – sie haben bereits den Grundwehrdienst geleitet und können nötigenfalls wieder temporär mobilisiert werden; Reservisten – zum Wehrdienst verpflichtete Personen, die freiwillig regelmäßige Waffenübungen absolvieren (BFA/OFPRA 5.2017).

Die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes besteht für Männer im Alter zwischen 20 und 27 Jahren. Er dauert grundsätzlich eineinhalb Jahre, für Wehrpflichtige mit Hochschulqualifikation (Magister) 12 Monate. Am 01.05.2014 wurde die früher beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht widerrufen. Danach erfolgten insgesamt sechs Mobilisierungswellen, die hauptsächlich Reservisten, aber auch Grundwehrdienstleistende (letztere zu einer sechsmonatigen Ausbildung) erfassten. Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung spielen bei der Heranziehung keine Rolle. Wehrpflichtige werden nur auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des Ministerkabinetts und in festgelegten Zeiträumen und Anzahl einberufen. So gab es 2018 zwei Einberufungszeiträume, April/Mai und Oktober/Dezember, in denen insgesamt 18.000 Wehrpflichtige einberufen wurden. Davon haben ca. 9.000 Soldaten ihren Wehrdienst in den Streitkräften abgeleistet. Wehrpflichtige wurden nur bis Mitte November 2016 und ausschließlich auf freiwilliger Basis nach der sechsmonatigen Grundausbildung in der Ostukraine eingesetzt; seither geschieht dies nicht mehr. Wehrpflichtige müssen einen Wohnortwechsel binnen einer Woche anzeigen. Sollte künftig eine Vollmobilisierung erfolgen, wäre ein Wohnortwechsel durch die Wehrüberwachungsbehörde vorab zu genehmigen. Klagen von Vertretern der ungarischen und rumänischen Minderheit, diese Gruppen würden überproportional zum Wehrdienst herangezogen, sind mittlerweile entkräftet und werden nicht mehr wiederholt. Zwangsarbeit und Zwangsrekrutierungen finden staatlicherseits nicht statt (AA 22.2.2019).

Binnenvertriebene (IDPs) sind grundsätzlich wehrpflichtig, sie stellen für das Verteidigungsministerium aber keine Priorität dar, nicht zuletzt wegen etwaiger Sicherheitsbedenken (Gegenspionage) (BFA/OFPRA 5.2017).

An den Wehrpflichtigen ergeht in der Praxis ein Einberufungsbescheid des regional zuständigen Militärkommissariats postalisch oder durch persönliche Zustellung (BFA/OFPRA 5.2017). Gesetzlich vorgesehen ist eigentlich eine persönliche Zustellung, weswegen postalisch zugestellte Bescheide Quellen zufolge ungültig seien (Lifos 15.7.2016).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine

-        BFA/OFPRA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

-        Lifos - Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet (schwedische Herkunftslandinformationseinheit) (15.7.2016): Temarapport: Ukraina. Militärtjänstgöring, mobilisering och desertering

1.3.7. Wehrdienstverweigerung / Desertion

Wenn eine Person ordnungsgemäß von der Einberufung informiert wurde, ihr aber nicht folgt, kann dies gemäß Art. 210 mit einem Bußgeld bestraft werden und es folgt ein zweiter Einberufungsbefehl. Wird diesem wieder nicht gefolgt, kann wieder gemäß Art. 210 ein Bußgeld verhängt werden. Folgt die Person dem Befehl immer noch nicht, wird der Fall wegen des Verdachts der Wehrdienstverweigerung der Polizei übergeben (Lifos 15.7.2016; vgl. BFA/OFPRA 5.2017).

Die Entziehung vom Wehrdienst wird nach Art. 335 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Eine Mobilisierungsentziehung kann gemäß Art. 336 StGB mit bis zu fünf Jahren bestraft werden. Für Entziehung von der Wehrerfassung sieht Art. 337 eine Geldstrafe bis zu 50 Mindestmonatslöhnen oder Besserungsarbeit bis zu zwei Jahren oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vor. Für Entziehung von einer Wehrübung ist eine Geldstrafe bis zu 70 Mindestmonatslöhnen oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vorgesehen (AA 22.2.2019).

Desertion ist gemäß Art. 408 des ukrainischen Strafgesetzbuches mit Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren strafbar. Wenn sie organisiert in einer Gruppe oder mit Waffe erfolgt, liegt das Strafmaß bei fünf bis zehn Jahren. Wenn die Desertion unter der Geltung von Kriegsrecht oder im Gefecht erfolgt, liegt das Strafmaß bei fünf bis zwölf Jahren. Es gibt eigene Strafen für Soldaten im Falle von Selbstverstümmelung oder anderen Formen sich dem Dienst zu entziehen, die in Art. 409 beschrieben sind (BFA/OFPRA 5.2017).

Grundsätzlich ist es möglich, dass Ukrainer bei Rückkehr aus dem Ausland strafverfolgt werden, weil sie sich der Mobilisierung entzogen haben, da diese Personen in ein Einheitliches Staatsregister der Personen, die sich der Mobilisierung entziehen, eingetragen wurden. Zugriff auf dieses Register haben der ukrainische Generalstab und das Innenministerium. In der Praxis gibt es trotz zahlreicher Fahndungen jedoch nur wenige Anklagen und kaum Verurteilungen (VB 21.3.2017). Die Verantwortung für das „Meiden der Einberufung“ bei der Mobilisierung kann jedoch nur entstehen, wenn die Person in entsprechender Weise darüber informiert wurde, bzw. die Ladung bewusst abgelehnt wurde (VB 7.9.2018).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (22.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine

-        BFA/OFPRA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

-        Lifos - Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet (schwedische Herkunftslandinformationseinheit) (15.7.2016): Temarapport: Ukraina. Militärtjänstgöring, mobilisering och desertering

-        VB des BM.I für Ukraine (21.3.2017): Bericht des VB, per E-Mail

-        VB des BM.I für Ukraine (07.09.2018): Auskunft des VB, per E-Mail

1.3.8. Allgemeine Menschenrechtslage

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).

Die Möglichkeit von NGOs, sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, IDPs, Roma, Menschen mit Behinderungen, und von Russland inhaftierte politische Gefangene. Sie ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 11.3.2020).

Die Aktivitäten von Oppositionsparteien und -gruppen sowie die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen keinen rechtsstaatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Medienlandschaft zeichnet sich durch einen beträchtlichen Pluralismus sowie offene Kritik an der Regierung aus (FH 4.3.2020). Meinungs- und Pressefreiheit leiden jedoch weiter hinunter der wirtschaftlichen Schwäche des unabhängigen Mediensektors und dem Übergewicht von Medien, die Oligarchen gehören oder von ihnen finanziert werden. Repressionen und Angriffe gegenüber Journalisten sind insgesamt rückläufig; besorgniserregend bleiben aber die oftmals fehlenden Ermittlungserfolge und die daraus resultierende Straflosigkeit – selbst in schwerwiegenden Fällen. Diverse russische soziale Medien und populäre Onlinedienste bleiben seit einem Dekret von Mai 2017 weiter verboten. Aus diesen Gründen verbleibt die Ukraine trotz großer Fortschritte gegenüber den Jahren vor dem Euromaidan im „Reporter ohne Grenzen“-Index auf Platz 102 von 180 Staaten (AA 29.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 erneuerten die Behörden bestehende Maßnahmen gegen eine Reihe russischer Nachrichtenagenturen und ihre Journalisten. Verschiedene Sprachgesetze schreiben Nachrichtenagenturen vor, dass bestimmte Inhalte in ukrainischer Sprache verfasst sein müssen. Im Jahr 2019 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Ukraine regionale Verbote für russischsprachige "Kulturprodukte", darunter Bücher und Filme (FH 4.3.2020). Die Regierung setzte die Praxis fort, bestimmte Werke russischer Schauspieler, Filmregisseure und Sänger zu verbieten und Sanktionen gegen pro-russische Journalisten zu verhängen (USDOS 11.3.2020).

Von einigen Ausnahmen abgesehen, können Einzelpersonen im Allgemeinen öffentlich und privat Kritik an der Regierung üben und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse diskutieren, ohne offizielle Repressalien befürchten zu müssen. Das Gesetz verbietet jedoch Aussagen, die die territoriale Integrität bzw. nationale Sicherheit des Landes bedrohen, den Krieg fördern, einen Rassen- oder Religionskonflikt befeuern oder die russische Aggression gegen das Land unterstützen, und die Regierung verfolgt Personen nach diesen Gesetzen (USDOS 11.3.2020). Gewalt und Drohungen gegen Journalisten bleiben weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Das unabhängige Institut für Masseninformation registrierte von Januar bis Anfang Dezember 2019 226 Verstöße gegen die Medienfreiheit, darunter die Ermordung eines Journalisten. Weitere Verstöße waren 20 Fälle von Schlägen, 16 Cyberangriffe, 93 Fälle von Einmischung, 34 Fälle von Bedrohung und 21 Fälle von Einschränkung des Zugangs zu öffentlichen Informationen (FH 4.3.2020). Die Qualität des ukrainischen Journalismus leidet nicht nur unter russischer Propaganda, Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik sowie der wirtschaftlichen Krise, sondern auch unter einer nicht zufriedenstellenden Ausbildung und Einhalten von journalistischen Standards (GIZ 3.2020a). Die Strafverfolgungsbehörden überwachen das Internet, zeitweise ohne entsprechende rechtliche Befugnisse, und unternahmen 2019 schwerwiegende Schritte, um den Zugang zu Websites aufgrund von "nationalen Sicherheitsbedenken" zu blockieren. Gerichte sollen auch begonnen haben, den Zugang zu Websites aus anderen Gründen als der nationalen Sicherheit zu blockieren. Es gab Berichte darüber, dass die Regierung Einzelpersonen wegen ihrer Beiträge in sozialen Medien strafrechtlich verfolgte (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung sieht die Versammlungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Gelegentlich wird berichtet, dass die Polizei übermäßige Gewalt anwendet, um Proteste aufzulösen. In Kiew, Odessa und Charkiw fanden groß angelegte LGBT-Veranstaltungen weitgehend friedlich und unter dem Schutz tausender Polizeibeamter statt. Bisweilen schützte die Polizei die Teilnehmer vor oder nach diesen Veranstaltungen nicht ausreichend vor Angriffen, und auch kleinere Demonstrationen, insbesondere von Minderheiten oder oppositionellen politischen Bewegungen, wurden nicht ausreichend geschützt. Veranstaltungen von Frauenrechtsaktivisten oder der LGBT-Gemeinschaft wurden regelmäßig von Mitgliedern gewalttätiger radikaler Gruppen gestört (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Zu den Pflichten des Veranstalters von friedlichen Versammlungen zählt unter anderem die Anmeldung der Veranstaltung im Vorfeld bei den örtlich zuständigen Behörden. Die Fristen, die in diesem Zusammenhang anzuwenden sind, sind jedoch nicht klar geregelt und variieren je nach vertretener Auffassung zwischen drei und zehn Tagen. Diese Unklarheit lässt den öffentlichen Behörden einen relativ großen Freiraum, Versammlungen zu untersagen (ÖB 2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Tatsächlich wird die Abhaltung von friedlichen Versammlungen von den Behörden regelmäßig abgelehnt. Als gängige Begründungen dienen die zu späte Ankündigung der Demonstration, der Mangel an verfügbaren Polizisten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der gleichzeitige Besuch einer offiziellen ausländischen Delegation oder das gleichzeitige Stattfinden einer anderen Veranstaltung am gleichen Ort. Auch die Definition der „Friedlichkeit“ einer Versammlung ist nicht immer unstrittig (ÖB 2.2019).

Die Verfassung und das Gesetz sehen die Vereinigungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Menschenrechtsorganisationen berichten für 2019 über einen Rückgang der Angriffe auf Aktivisten, nachdem die Zahl der Angriffe 2018 sprunghaft angestiegen war (37 Angriffe 2019, gegenüber 66 im Jahr 2018). Einige zivilgesellschaftliche Organisationen geben jedoch an, dass dies aufgrund von mangelnder Berichterstattung sei, und dass sich Aktivisten gegen eine Beschwerde entscheiden würden, da sie Verfolgung fürchten. Menschenrechts-NGOs sind nach wie vor besorgt über die mangelnde Rechenschaftspflicht bei Angriffen auf Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen (USDOS 11.3.2020). Angriffe auf Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft und Angehörige von Minderheitengruppen sind häufig, und die Reaktion der Polizei ist oft unzureichend (FH 4.3.2020). Sowohl natürliche als auch juristische Personen können einen Verein gründen. Die Vereinsgründung kann nur aus im Gesetz eng definierten Gründen untersagt werden (ÖB 2.2019). Mit Ausnahme eines Verbots der Kommunistischen Partei gibt es keine formellen Hindernisse für die Gründung und den Betrieb politischer Parteien. In den letzten Jahren entstanden mehrere politische Parteien. Ein Gesetz aus dem Jahr 2016 regelt die staatliche Finanzierung im Parlament vertretener Parteien; die Regelung begünstigt etablierte Parteien gegenüber neu entstandenen. Oppositionsgruppen sind im Parlament vertreten und ihre politischen Aktivitäten werden im Allgemeinen nicht durch administrative Beschränkungen behindert. Neue Kleinparteien haben Schwierigkeiten mit etablierten Parteien zu konkurrieren, welche die Unterstützung politisch vernetzter Oligarchen genießen (FH 4.3.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Ukraine

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat

-        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

-        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Ukraine

1.3.9. Russen/Russischsprachige

Die heutige Ukraine ist ein mehrsprachiges Land mit einer dominierenden ukrainisch-russischen Zweisprachigkeit und gemischten Sprachvarietäten (AAU 28.11.2019). Offizielle Staatssprache der Ukraine ist zwar Ukrainisch, Russisch ist als Verkehrssprache weit verbreitet bzw. wird im Süden und Osten überwiegend gesprochen (WKO 2020; vgl. AA 19.12.2019). Eine Quelle gibt an, dass Ukrainisch die Muttersprache von etwa 67% der Bevölkerung ist, Russisch die Muttersprache von fast 30% (RFE/RL 7.12.2019). Russisch ist in der Ukraine keineswegs die Sprache einer kleinen Minderheit und wird nicht bloß regional begrenzt gesprochen. Russisch wird im Durchschnitt des Landes von ca. der Hälfte der Bevölkerung aktiv verwendet und damit nur etwas weniger häufig als Ukrainisch (DS 19.10.2017).

Vor dem Hintergrund der Aggression Russlands gegen die Ukraine seit dem Jahr 2014 haben sich die meisten Russischsprachigen in der Ukraine, selbst in den vermeintlich prorussischen Regionen im Osten und Süden, eher mit ihren Mitbürgern als mit ihren sprachlichen „Brüdern“ auf der anderen Seite der Grenze verbündet. Trotzdem brachte das einen großen Teil der Bevölkerung der Ukraine nicht dazu, den Sprachgebrauch radikal zu verändern. Obwohl viele Menschen, die zuvor fast ausschließlich Russisch gesprochen haben, nun stärker bereit zu sein scheinen, in bestimmten Bereichen etwas Ukrainisch zu verwenden, handelt es sich dabei keineswegs um einen umfassenden Wechsel von einer Sprache zur anderen. Die meisten Menschen in der heutigen Ukraine nutzen sowohl Ukrainisch als auch Russisch in ihrem Alltag, wenn auch zu einem sehr unterschiedlichen Anteil. 21% (2017) kombinieren die beiden Sprachen in mehr oder weniger gleich großen Teilen. Die Förderung des Ukrainischen führte nicht zu einer systematischen Diskriminierung der Russischsprachigen (UA 22.2.2018).

Es gibt in der Ukraine generell keine Diskriminierung der russischen Sprache (UA 29.11.2017). In der Praxis funktioniert die allgegenwärtige ukrainisch-russische Zweisprachigkeit im Alltag in aller Regel erstaunlich reibungslos (UA 29.11.2017). Fälle von Einschüchterung oder Angriffen gegen ethnische Russen oder Vertreter der russischsprachigen Gemeinschaft in der Ukraine sind sporadische Einzelfälle (Cedoca 10.1.2018).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.12.2019): Ukraine: Politisches Portrait

-        AAU – Alpen-Adria Universität Klagenfurt (28.11.2019): Was machen soziale und politische Geschichte mit Sprache? Ukrainisch-russische und russisch-ukrainische Sprachvarietäten

-        Cedoca - Documentation and Research Department of the CGRS (Commissariaat-generaal voor de Vluchtelingen en de Staatlozen) (10.1.2018): OEKRAÏNE. Actuele situatie voor etnische Russen en/of Russischsprekenden op het gebied van taal en veiligheid, per E-Mail

-        DS – Der Standard (19.10.2017): Russisch als Minderheitensprache in der Ukraine?

-        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (7.12.2019): Council Of Europe's Experts Criticize Ukrainian Language Laws

-        UA – Ukraine Analysen (22.2.2018): Die Identität der russischsprachigen Staatsbürger der Ukraine

-        UA – Ukraine Analysen (29.11.2017): Sprachenpolitik in der Ukraine

-        WKO – Wirtschaftskammer Österreich (2020): Ukraine: Neues Sprachengesetz tritt in Kraft

1.3.10. Bewegungsfreiheit

In Gebieten unter Regierungskontrolle ist die Bewegungsfreiheit im Allgemeinen nicht eingeschränkt. Das komplizierte ukrainische System, das von Einzelpersonen verlangt, dass sie sich rechtmäßig an einer Adresse registrieren lassen müssen, um wählen und bestimmte Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, stellt jedoch ein Hindernis für die volle Bewegungsfreiheit dar, insbesondere für Vertriebene und Personen ohne offizielle Adresse, wo sie für offizielle Zwecke registriert werden könnten (FH 4.3.2020).

Quellen:

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

1.3.11. Binnenflüchtlinge

Die Zahl der vom ukrainischen Sozialministerium registrierten Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons, IDPs) lag am 2. Dezember 2019 bei 1.427.211 Personen; die tatsächliche Zahl der dauerhaft vertriebenen IDPs dürfte nach UN-Schätzungen bei ca. 800.000 liegen. Diese Personen erhalten bisher nur durch die Registrierung als IDPs Zugang zu Sozial- und Rentenleistungen. (AA 29.2.2020).

Binnenvertreibung ist nach wie vor ein Problem. Auf der einen Seite gab es 2018 aufgrund von Kampfhandlungen, oder weil das Militär Häuser beschlagnahmte, ca. 12.000 zusätzliche IDPs. Auf der anderen Seite mussten zahlreiche ältere bzw. ärmere Personen in gefährdete Gebiete zurückkehren. 2018 konnten rund 12.000 IDPs ihre Situation in irgend einer Weise zumindest partiell verbessern, etwa durch Heimkehr oder lokale Integration (IDMC 5.2019). Stand 31. Dezember 2019 gab es insgesamt 730.000 IDPs in der Ukraine. Im Jahr 2019 wurden 60 neue Vertreibungen verzeichnet (IDMC 2020).

Die Regierung arbeitet mit UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Binnenvertriebenen Schutz und Unterstützung zu bieten. Nur registrierte IDPs bekommen Unterstützungsleistungen vom Staat. Die meisten IDPs leben in Gebieten, die unmittelbar an die Konfliktzonen angrenzen, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk, sowie in den Gebieten Charkiw, Dnipropetrovsk und im Oblast Zaporizhzhya (USDOS 11.3.2020). Die meisten Binnenflüchtlinge leben nahe der Kontaktlinie in gemieteten Unterkünften. Fast die Hälfte der IDP-Bevölkerung sind Familien mit Kindern. Um sich in der Ukraine als IDP registrieren zu lassen, muss man sich im regierungskonrollierten Gebiet befinden. Um IDP-Unterstützung und die weitere Auszahlung von Renten zu beantragen, muss man einen Nachweis über die Registrierung als IDP vorlegen. Umfragen zeigen, dass IDPs anfälliger für Arbeitslosigkeit sind. Der Zugang älterer Menschen zu ihrer Rente stellt eine Herausforderung dar. IDPs werden im Allgemeinen wenig diskriminiert (Landinfo 16.4.2020).

Personen, die als Binnenflüchtlinge registriert sind, können staatliche Beihilfen für IDPs erhalten. Für diese Zahlungen ist das Ministerium für Sozialschutz verantwortlich. Für Menschen, die nicht arbeiten können, also Rentner, Kinder und Studenten, die noch von ihren Eltern abhängig sind (bis 23 Jahre), beträgt die Unterstützung 1.000 UAH pro Person und Monat. Für Arbeitslose beträgt die Unterstützung 442 UAH pro Person und Monat. Familien können nicht mehr als 3.000 UAH (1.130 USD) pro Monat erhalten, es sei denn, sie haben mehr als drei Kinder. Für diese Familien beträgt die Unterstützung 5.000 UAH pro Monat. Die Unterstützung hat sich seit ihrer Einführung nicht wesentlich geändert. Oft reicht die Unterstützung nicht aus, um damit das Leben zu finanzieren, das gilt besonders für Städte, in denen das Kostenniveau höher ist (Landinfo 16.4.2020).

Laut Gesetz sollte die Regierung den Vertriebenen auch eine Unterkunft zur Verfügung stellen, was jedoch mangelhaft umgesetzt wird. Wohnen, Beschäftigung und Empfang von Sozialleistungen und Renten sind weiterhin die größten Sorgen der IDPs. Für die Integration der IDPs fehlt eine Regierungsstrategie, was die Bereitstellung von Finanzmitteln behindert. Dadurch werden IDPs wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisiert. Ein Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und die allgemein schwache Wirtschaft wirken sich besonders auf IDPs aus und zwingen viele von ihnen, in unzulänglichen Unterkünften wie Sammelunterkünften und provisorischen Unterkünften zu leben. UN-Agenturen berichten, der Zustrom von IDPs habe im Rest des Landes zu Spannungen im Wettbewerb um die knappen Ressourcen (Wohnungen, Arbeitsplätze, Bildung) geführt. Insbesondere in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk haben IDPs oft ungenügenden Zugang zu sanitären Einrichtungen, Unterkünften und Trinkwasser. NGOs berichten von Diskriminierung von IDPs bei der Arbeitssuche. IDPs haben nach wie vor Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Dokumenten. Medienberichten zufolge haben IDPs von der Krim eingeschränkten Zugang zu Bankdienstleistungen, obwohl ein Gerichtsurteil den Banken diese Praxis verbietet (USDOS 11.3.2020).

Das Durchschnittseinkommen pro IDP-Haushaltsmitglied ist zuletzt zwar leicht gestiegen ist - auf 3.631 UAH (ca. 150 USD) pro Monat - liegt aber immer noch ein Drittel unter dem Durchschnitt der Ukraine (IOM 21.2.2020).

Die größte Herausforderung für IDPs stellt die Wohnsituation dar. In der Ukraine gibt es ein öffentliches Wohnungsbauprogramm. Dies gilt für die gesamte Bevölkerung, einschließlich der IDPs. Das Programm basiert darauf, dass der Antragsteller einen Teil der Wohnkosten und der Staat den anderen Anteil tragen muss. Normale Bürger müssen 70% der Kosten und der Staat 30% tragen. Für Binnenflüchtlinge beträgt die Verteilung zwischen dem Antragsteller und dem Staat 50/50. Das Programm umfasst IDPs mit einem monatlichen Einkommen, das unter der Summe von drei durchschnittlichen monatlichen Einkommen liegt. Im Jahr 2018 würde dies theoretisch über 90% aller registrierten IDPs umfassen. 70% der Teilnehmer an diesem Programm im Jahr 2018 (insgesamt 130 Personen) waren IDPs. IDPs haben einen großen Bedarf an psychosozialer Unterstützung, viele haben Traumata aus dem Konflikt, und viele leben mit Unsicherheit über die Zukunft. In einer IOM-Umfrage von Juli bis September 2019 gaben 54% der Befragten an, in die lokale Gemeinschaft integriert worden zu sein, während 34% angaben, teilweise integriert zu sein. 7% fühlten sich nicht integriert. Kiew war der Ort, an dem sich die IDPs am stärksten integriert fühlten. Der Hauptgrund, warum sich IDPs integriert fühlten, war Wohnen, dann festes Einkommen und Arbeit (Landinfo 16.4.2020).

Quellen:

-        IDMC – Internal Displacement Monitoring Centre (ehemals: Global IDP Project) (5.2019): Ukraine Figure Analysis - Displacement related to conflict and violence

-        IDMC – Internal Displacement Monitoring Center (2020): Ukraine, Displacement associated with Conflict and Violence

-        IOM – UN Organization for Migration (21.2.2020): “Struggling to get through each day.” New IOM IDP Survey from Ukraine

-        Landinfo (16.4.2020): Temanotat, Ukraina, Internflyktninger

USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

1.3.12. Grundversorgung

Die makroökonomische Lage hat sich nach schweren Krisenjahren stabilisiert. Ungeachtet der durch den Konflikt in der Ostukraine hervorgerufenen Umstände wurde 2018 ein Wirtschaftswachstum von 3,3% erzielt, das 2019 auf geschätzte 3,6% angestiegen ist. Die Staatsverschuldung ist in den letzten Jahren stark angestiegen und belief sich 2018 auf ca. 62,7% des BIP (2013 noch ca. ein Drittel). Der gesetzliche Mindestlohn wurde zuletzt mehrfach erhöht und beträgt seit Jahresbeginn 4.173 UAH (ca. 130 EUR) (AA 29.2.2020).

Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom, Gas und warmes Wasser zum Teil nicht immer ganztägig zur Verfügung (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 12.2018). Die Ukraine gehört trotzt zuletzt deutlich steigender Reallöhne zu den ärmsten Ländern Europas. Das offizielle BIP pro Kopf gehört zu den niedrigsten im Regionalvergleich und beträgt lediglich ca. 3.221 USD p.a. Ein hoher Anteil von nicht erfasster Schattenwirtschaft muss in Rechnung gestellt werden (AA 29.2.2020). Die Mietpreise für Wohnungen haben sich in den letzten Jahren in den ukrainischen Großstädten deutlich erhöht. Wohnraum von guter Qualität ist knapp (GIZ 12.2018). Insbesondere alte bzw. schlecht qualifizierte und auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbare Menschen leben zum Teil weit unter der Armutsgrenze (GIZ 3.2020b). Ohne zusätzliche Einkommensquellen (in ländlichen Gebieten oft Selbstversorger, Schattenwirtschaft) bzw. private Netzwerke ist es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar regelmäßig gezahlt, sind aber trotz regelmäßiger Erhöhungen größtenteils sehr niedrig (Mindestrente zum 1. Dezember 2019: 1.638 UAH (ca. 63 EUR) (AA 29.2.2020). Nachdem die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten weit hinter den Möglichkeiten im EU-Raum, aber auch in Russland, zurückbleiben, spielt Arbeitsmigration am ukrainischen Arbeitsmarkt eine nicht unbedeutende Rolle (ÖB 2.2019).

Das ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte ukrainische Sozialversicherungssystem umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten