TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/11 W177 2198560-1

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Veröffentlicht am 11.05.2021
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Entscheidungsdatum

11.05.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W177 2198560-1/38E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 04.06.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.06.2019 zu Recht erkannt:

A)

I.       Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

II.      Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 23.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Rahmen der am 23.11.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er im Iran geboren worden und dort auch drei Jahre in die Schule gegangen sei. Den Iran habe er verlassen, weil er sich dort illegal aufgehalten habe. Er habe dort nicht in die Schule gehen oder einer legalen Arbeit nachgehen können. Als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sei er von den Behörden schikaniert worden. Die Schule, die er besucht habe, sei von Afghanen selbst organisiert gewesen. Er habe in ständiger Angst gelebt, dass er nach Afghanistan, wo er noch nie in seinem Leben gewesen sei, abgeschoben werde. Sein Bruder sei ebenfalls als Asylwerber in Österreich aufhältig.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 17.12.2015 wurde das Amt für Jugend und Familie, soziale Arbeit mit Familien, Bezirk 6, 7, 8, 9 als Jugendwohlfahrtsträger mit der Obsorge des minderjährigen BF betraut.
4.         Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 20.12.2017 legte der BF diverse Integrationsbescheinigungen und einen medizinischen Befund bezüglich seines Asthmas vor. Er gab an, schiitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara zu sein. Allerdings sei er nicht gläubig. Sein Bruder sei in Österreich Asylwerber, seine weiteren Familienangehörigen würden im Iran in Teheran leben. Er sei bereits im Iran geboren worden und nie in Afghanistan gewesen. Im Iran habe er drei bis vier Jahre lang eine inoffizielle afghanische Schule besucht. Als diese geschlossen worden sei, habe er, mangels Dokumente, keine andere Schule besuchen können. Danach habe er für drei bis vier Jahre am Feld gearbeitet. Er würde an Asthma leiden. Seine Muttersprache sei Dari und er habe den Iran im Herbst 2015 über die Türkei verlassen und sei danach nach Europa weitergereist. Sein Vater habe entschieden, dass er zusammen mit seinem Bruder nach Europa gehe, um dort um Asyl anzusuchen und eine gute Ausbildung erhalten zu können.

Zu seinem Fluchtgrund betreffend Afghanistan befragt, führte der BF aus, dass er diesbezüglich keinen Fluchtgrund habe. Seine Eltern hätten ihm gesagt, dass sie Afghanistan wegen der religiösen Kriege und der Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen verlassen hätten.

Eine Rückkehr nach Afghanistan könne sich der BF nicht vorstellten. Er sei nie dort gewesen und dort würde Krieg herrschen. Es würde auch keine Sicherheiten geben, sodass er Angst habe, getötet zu werden. Aufgrund seines persischen Akzents, seiner schiitischen Glaubensrichtung und seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sei er zusätzlich gefährdet.

5. In weiteren Einvernahme vor dem BFA am 01.02.2018 führte der BFA aus, dass er seit seinem zwölften Lebensjahr an Asthma leide. Er sei im Iran zum Arzt gegangen und habe dort Medikamente aus dem Ausland erhalten. Seither habe er immer einen Asthmaspray dabei. Seitdem er in Österreich sei, würde es ihm bessergehen, weil er nicht mehr als Landwirt arbeiten müsse. Er sei zwar ein schiitischer Moslem, aber nicht mehr gläubig. Er sei für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die freie Wahl seines Partners. Er sei gegen das fünfmalige Beten pro Tag und auch nicht mit der gewalttätigen Auslegung des Islams, wie es die Taliban in der IS machen würden, einverstanden. Als Kind sei er gläubig gewesen und seine Eltern hätten wolle, dass er nach seiner Ausreise weiterhin die Religion ausübe, aber dies würde er nun nicht mehr wollen.

6.       Mit Bescheid vom 04.06.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF keine Verfolgungshandlungen bezüglich seines Herkunftsstaates Afghanistan getätigt habe. Die Angaben, dass er nicht gläubig wäre, würden aber keine echte Abkehr vom Islam darlegen, sondern nur eine Anpassung an wirtschaftliche und kulturelle Begebenheiten im Aufnahmestaat signalisieren. Fluchtgründe betreffend den Iran seien in gegenständlichen Asylverfahren unbeachtlich gewesen. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei auf jeden Fall zumutbar, zumal der BF nach Kabul gehen könnte, weil er über eine mehrjährige Schulbildung und Arbeitserfahrung verfüge und er auch Unterstützung von seinen im Iran lebenden Verwandten erhalten würde.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 04.06.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 04.06.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

8.       Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 14.06.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass der BF aufgrund des Abfalls vom Islam, nach aktuellem Strafrecht in Afghanistan, ein schwerwiegendes Verbrechen begangen habe und ihm deswegen der bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch der Tod drohen würde. In eventu sei ihm aber der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, zumal sich seine gesamte Familie im Iran befinden würde und die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor höchst volatil sei und selbst Kabul nicht als ausreichend sicher angesehen werden könne. Des Weiteren sei nicht berücksichtigt worden, dass der BF als es Rückkehrer aus dem Iran, aufgrund dessen Akzent und dessen Kleidungsstil in Afghanistan gesellschaftlich diskriminiert werden würde. Ebenfalls hätten die guten Integrationsschritte des BF berücksichtigt und in den Bescheid der belangten Behörde einfließen müssen. Der Beschwerde wurde eine Stellungnahme des Koordinationsbüros der österreichischen Bischofskonferenz beigefügt, das beinhaltete, dass bei einem Religionswechsel ein Austritt auf der islamischen Glaubensgemeinschaft nicht von Nöten sei.

9.       Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 15.06.2018 vom BFA vorgelegt.

10. Mit Schriftsatz vom 18.06.2018 wurden eine Teilnahmebestätigung am Lehrgang zur „Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss“ und das Sprachzertifikat ÖSD Deutsch Österreich B1 vorgelegt.

11. Mit Schreiben vom 07.06.2019 erging seitens der rechtsfreundliche Vertretung des BF eine Stellungnahme, in welcher und Bezugnahme auf Länderberichte ausgeführt wurde, dass der BF zahlreichen Risikoprofilen angehören und ihm aufgrund seiner Eigenschaft als verwestlichter Rückkehrer, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie aufgrund seiner Apostasie in seinem Herkunftsstaat eine asylrechtliche relevante Verfolgung vorliegen würde.

12. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 11.06.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie sein bevollmächtigter Vertreter, persönlich teilnahmen. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil.

Zu Beginn legte der BF ein Konvolut an Unterlagen, bestehend aus einem Befundbericht, Teilnahmebestätigungen und Zeugnisse zu seiner Integration und eine Religionsaustrittsbescheinigung vor. Seine Familie stamme aus der Provinz Daikundi, allerdings habe er in Afghanistan weder Verwandte noch Bekannte. Dort würde Krieg herrschen und Schiiten und Hazara verfolgt werden. Er gehöre keiner Religion an und würde daher in Afghanistan schnell geköpft werden, weil er sich nicht an die Regeln des Islams halten würde. Er sei im Iran geboren und aufgewachsen, sodass er sich in seinem kulturellen Verständnis, seiner Erziehung und seinem Kleidungsstil von dem in Afghanistan üblichen unterscheide. Im Iran sei er aufgrund seiner afghanischen Herkunft diskriminiert worden und nun befürchte er, dass ihm dies in Afghanistan aufgrund seines Auftretens erneut widerfahren werde. Er sei außerdem krank und benötige Medikamente. Daher könne er in Afghanistan auch keiner schweren Arbeit nachgehen und die Medikament wären dort entsprechend teuer, weil sie im Ausland hergestellt werden würden. Er habe nie in Afghanistan gelebt und dort keine Anknüpfungspunkte. Das Land sei streng religiös und das Leben sei dort nicht einfach. Man müsse auch Bestechungsgelder zahlen, um Anstellungen zu erhalten. Menschen, denen man vorgeworfen habe, den Koran verbrannt zu haben, habe man öffentlich getötet. Aufgrund der zahlreichen in Afghanistan vorherrschenden Probleme, habe seine Familie das Leben im Iran mit all seinen Schwierigkeiten bevorzugt, um in Sicherheit leben zu können. Schließlich hätten ihn seine Eltern wegen der besseren Zukunftschancen nach Europa geschickt. Wenn der BF zurück nach Afghanistan hätte können, dann hätte er nicht die Risiken der Flucht nach Europa auf sich genommen. Seine Familie sei sehr in Sorge um ihn, weil er nach Afghanistan abgeschoben werden könnte. Abgeschobene Afghanen hätten die Möglichkeit in Moscheen unterzukommen. Diese Möglichkeit stünde ihm aufgrund seiner Abkehr vom Islam nicht offen. Da er keiner Religion angehöre, würde er dort geköpft werden. In Afghanistan gäbe es kein Gesetz und Bürgerkrieg. Wer dort eine Waffe besitze, sei mächtig.

Warum er trotz seines Asthmas Tischler werden wolle, antwortete der BF, dass er dies mit einer Maske probiere wolle, weil dies sein Wunschberuf sei. Über die Lage in Afghanistan wisse er von seinen Eltern und die sozialen Netzwerke Bescheid. Als Beweismittel für seine Abkehr vom Islam habe er seine Austrittsbescheinigung vorgelegt. Sonstige Beweismittel habe er nicht, aber er glaube, dass man sich nur aus innerster Überzeugung von einer Religion abwenden könne.

13. Das BFA übermittelte am 12.06.2019 eine Stellungnahme, die beinhaltete, dass trotz Fehlens von Familienangehörigen dem BF eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Herat und Mazar-e Sharif, zumutbar sei. Der Abfall vom muslimischen Glauben oder die Verwestlichung durch den Aufenthalt im Iran seien beim BF in keiner Weise so stark ausgeprägt, um darin eine asylrechtlich relevante Verfolgung erblicken zu können. Asthmasprays seien auch in Afghanistan erhältlich, sodass der BF als völlig erwerbsfähig angesehen werden könnte.

14. Das BVwG wies mit Erkenntnis vom 17.10.2019. Zl. W177 2198560-1/14E, die Beschwerde des BF vollinhaltlich ab. Begründend hielt das BVwG fest, dass für den erkennenden Richter der Eindruck entstanden sei, dass sich der zwar BF insbesondere an den strengen Verhaltensregeln des Islam störe, jedoch ein dauerhafter Abfall vom Glauben nicht erkannt haben werde können. Es liege allenfalls ein Desinteresse, welches schon aufgrund der Wortwahl einer "Verleugnung" des Islam keinesfalls nahekomme. Die Begründungen des BF, weshalb er den schiitischen Glauben abgelegt habe, seien aus Sicht des erkennenden Richters, ebenso wie die vorgelegte Austrittserklärung, nicht geeignet, einen dauerhaften Abfall vom islamischen Glauben dokumentieren zu können. Vielmehr gehe das Gericht davon aus, dass diese Austrittserklärung vom BF abgegeben worden sei, um sich eine günstigere Position im Asylverfahren zu verschaffen.

Ein dauerhafter Abfall vom muslimischen Glauben konnte dadurch aber nicht glaubhaft gemacht werden. In einer kritischen Haltung sei auch kein explizit feindlicher Auftritt des BF gegenüber dem Islam erkennbar.

Das Aussageverhalten des BF überzeugte den erkennenden Richter davon, dass der BF zwar ein junger Mann sei, der sich mit Glaubensfragen beschäftige und aktuell auf der Suche nach einer religiösen Identität sei, es liege bei ihm aber keine - wie von der Rechtsprechung gefordert - dauerhaft verfestigte Glaubensüberzeugung vor.

Der BF habe somit nicht glaubhaft darlegen können, dass bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund des Abfalls vom islamischen Glauben eine konkrete Verfolgungsgefahr für ihn bestehen würde. All seine Befürchtungen seien lediglich subjektiver Art gewesen, die der BF in keiner Weise konkretisieren habe können. So konnte der BF – abgesehen von seiner Austrittserklärung – keine Bescheinigungsmittel über die Abwendung Vom Islam aufgrund seiner Überzeugung darlegen.

Im Übrigen wurden auch keine darüberhinausgehenden außergewöhnlichen Gründe, die einer Rückkehr des BF nach Afghanistan entgegenstehen würden im Verfahren seitens des BF genannt bzw. seien diese im Verfahren nicht hervorgekommen.

Beim BF würde es sich um einen arbeitsfähigen und jungen Mann handeln, bei dem die erfolgreiche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne und er in der Lage wäre, in seinem Herkunftsstaat seine grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft zu befriedigen. Das mangelnde soziale Netzwerk in Afghanistan bewirke nicht, dass es ihm unmöglich werde, mittels Arbeit und Rückkehrhilfe Nahrung und Wohnraum zu beschaffen. Der BF habe sein Leben zwar nicht in Afghanistan verbracht, sei jedoch aufgrund der Zusammenlebens mit seinen Angehörigen und Besuches einer afghanischen Schule mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates sowie mit einer dort weitverbreiteten Sprache als Muttersprache vertraut.

Betreffend den Ausspruch der Rückkehrentscheidung wurde zusammenfassend festgehalten, dass der BF in Österreich Integrationserfolge von vergleichsweise geringem Ausmaß aufzuweisen hätte.

15. Gegen das am 17.10.2019 ausgefertigte Erkenntnis des BVwG erhob der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung, RA Dr. Friederike Wallentin-Hermann, fristgerecht Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (nunmehr: VfGH).

16. Mit Erkenntnis des VfGH vom 26.11.2020, E 4337/2019-18, wurde das angefochtene Erkenntnis des BVwG insoweit aufgehoben, als der BF durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan sowie das Nichtbestehen einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden sei. Im Übrigen wurde die Behandlung der Beschwerde abgewiesen. Insoweit wurde die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof (nunmehr: VwGH) zur Entscheidung abgetreten. Begründend wurde festgehalten, dass sich das BVwG bei der Entscheidungsfindung u.a. auf die "EASO, Country Guidance Afghanistan, Juni 2018" verweise. Aus der EASO-Country Guidance vom Juni 2018, auf die sich das BVwG beziehe (die mittlerweile aktuellere Fassung vom Juni 2019 enthalte keine hier relevanten Neuerungen), gehe hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl. VfGH 12.12.2019, E 3369/2019).

Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl. VfGH 12.12.2019, E 3369/2019; 12.12.2019, E 2692/2019; 4.3.2020, E 4399/2019, jeweils mwN; vgl. auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 ua.). Das bedeute insbesondere, dass sich das BVwG mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des BF nach Afghanistan, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des BF, auseinanderzusetzen habe. Das Erkenntnis sei daher in diesem Umfang aufzuheben gewesen, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen gewesen wäre. Die Behandlung der Beschwerde wurde, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten angefochten wurde, abgewiesen und diese gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem VwGH zur Entscheidung abgetreten.

17. Mit Schreiben vom 23.12.2020 erfolgte seitens des BVwG im Zuge eines Parteiengehörs eine vorläufige aktualisierte Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat, nämlich das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, die EASO Guidance und die neue UNHCR-Richtlinie. Diese würden im Verfahrensakt zur allfälligen Einsicht und schriftlichen Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen aufliegen. Das BVwG werde seine Entscheidung auf der Grundlage der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens erlassen, soweit nicht eine eingelangte Stellungnahme anderes erfordert. Es werde weiters darauf hingewiesen, dass eine mündliche Verhandlung nur über einen begründeten Antrag der Parteien stattfinden werde.

19. Mit Schriftsatz vom 11.01.2021 erhob der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung, RA Dr. Friederike Wallentin-Hermann, außerordentliche Revision an der VwGH und begehrte in dieser die Aufhebung des Erkenntnisses des BVwG vom 17.10.2019.

20. Am 12.01.2021 erfolgte durch die rechtsfreundliche Vertretung des BF im Verfahren vor dem BVwG, dem MigrantInnenverein St.Marx, eine Stellungnahme auf das Parteiengehör, in welcher auf die mangelnde Schutzfähigkeit der staatlichen Behörden und die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen wurde. Ebenfalls wurde dargelegt, dass sich durch die COVID-19-Pandemie die Versorgungslage in Afghanistan ebenfalls verschlechtert habe. Neben der schlechten medizinischen Versorgung sei der BF auch gefährdet, weil er von der afghanischen Kultur entwurzelt sei. Des Weiteren wurde ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen dieser Stellungnahme beigefügt.

21. Mit Beschluss des VwGH vom 18.03.2021, Ra 2019/20/0564-9, wurde die Revision zurückgewiesen. In diesem wurde festgehalten, dass sich die Revision mit der Gegenüberstellung einzelner Passagen aus den Feststellungen des BVwG zur allgemeinen Lage in Afghanistan und dem im Verfahren erstatteten Vorbringen des Revisionswerbers, wonach er als „Mitglied der Hazara, als Apostat sowie als westlicher junger Mann“ in Afghanistan „erheblich gefährdet“ sei, der Sache nach gegen die Beweiswürdigung gewandt habe. Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH sei dieser - als Rechtsinstanz - zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung würde eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vorliegen, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. VwGH 25.9.2020, Ra 2019/19/0407, mwN). In der Revision wurden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

22.      Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?         2 Sozialpädagogische Berichte

?         Zahlreiche Anmelde- und Kursbesuchsbestätigungen sowie Zertifikate der Basisbildung des Integrationshauses

?         Zahlreiche Kursbesuchsbestätigungen des XXXX und von XXXX

?         Teilnahmebestätigung „Das österreichische Schulsystem“

?        Teilnahmebestätigung der XXXX am Modul „Sicherheit & Polizei“

?         Zwei Diagnosebriefe einer Lungenfachärztin

?         Eine Stellungnahme des Koordinationsbüros der österreichischen Bischofskonferenz

?         Teilnahmebestätigung am Lehrgang zur „Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss“

?         ÖSD Sprachzertifikat „Deutsch Österreich B1“

?         Ein Befundbericht über diverse Allergien

?         Ein Sozialbericht

?         Kopie des Zeugnisses über die Pflichtschulabschlussprüfung

?         Teilnahmebestätigung an Kurs des Roten Kreuzes

?         Bewerbung um eine Lehrstelle als Tischler

?         Religionsaustrittsbescheinigung

?        Schulbesuchsbestätigung aus dem Jahr 2020

?        Ärztliche Behandlungsbestätigung wegen schweren Asthmas aus dem Jahr 2021

?        Meldezettel

?        Empfehlungsschreiben aus dem Jahr 2021

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren im Jahr XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und ist aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten, in der er zuvor der schiitischen Glaubensrichtung angehörte. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist abgesehen von einer Asthmaerkrankung gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben im Iran geboren, wo er auch drei Jahre lang eine afghanische Schule besucht hat. Danach hat er Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft gesammelt, ehe er von seinen Eltern, zusammen mit seinem jüngeren Bruder, Ende des Jahres 2015 aus wirtschaftlichen Gründen vom Iran nach Europa geschickt wurde. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Der BF hat in Afghanistan keine weiteren Verwandten.

Da der BF noch nie in seinem Heimatland war, kann festgestellt werde, dass der BF in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft ist und keine Probleme mit Behörden hatte und politisch nicht aktiv war. Die Herkunftsregion seiner Familie ist die Provinz Daikundi. Der BF ist in Österreich strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und unbescholten.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus dem Iran über die Türkei mit seinem damals ebenfalls minderjährigen Bruder nach Europa gereist, wo er schließlich in Österreich seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Daikundi, die als volatile Provinz eingestuft wird, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage nicht zumutbar.

Mazar-e Sharif steht unter Regierungskontrolle, Kampfhandlungen finden im Wesentlichen nicht statt. Die Stadt verfügt über einen internationalen Flughafen, über den die Stadt sicher erreicht werden kann.

Herat steht ebenso unter Regierungskontrolle, Taliban und IS sind allerdings aktiv und verüben Anschläge, die auch Zivilisten betreffen. Die Kriminalität steigt. Die Stadt verfügt über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden kann.

Für den Fall der Niederlassung des BF in Mazar-e Sharif oder Herat kann nicht festgestellt werden, dass ihm die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Gesundheits- und Lebensmittelversorgung, sowie Zugang zu Trinkwasser und Unterkunft sind in Herat (Stadt) und Mazar-e Sharif grundsätzlich sichergestellt.

Der BF ist nicht mit der afghanischen Kultur und den afghanischen Gepflogenheiten vertraut. Er ist im Iran geboren worden und hat in seinem Heimatland niemals gelebt. Er ist vom Iran aus nach Österreich gekommen und hält sich seit her ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Der BF hat daher prägende Jahre seine Entwicklung als Minderjähriger in Europa verbracht, wodurch er mit der westlichen Kultur und den westlichen Gepflogenheiten sozialisiert wurde. Außerdem hat der BF im Iran nur eine unzureichende Bildung in einer afghanischen Schule erhalten und ausschließlich im Bereich der Landwirtschaft Berufserfahrung gesammelt. Er verfügt in Afghanistan weder über ein soziales Netzwerk noch über Erfahrungen über das Leben in einer afghanischen Großstadt hat. Mit finanzieller Unterstützung, im Sinne einer längerfristigen Finanzierung seines Lebensunterhaltes durch seine Familie von Ausland aus, kann der BF im Fall der Rückkehr nach Afghanistan nicht rechnen. Dass der BF seinen Lebensunterhalt in Afghanistan aus eigenem Einkommen bestreiten und sein Lebengrundlage erwirtschaften kann, ist nicht zu erwarten.

Finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit existiert in Afghanistan nicht. Sozialleistungen gibt es - abseits von Pensionen in sehr wenigen Fällen, kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung - nicht.

Für Rückkehrer nach Afghanistan ist Rückkehrhilfe verfügbar, diese wird lediglich kurzfristig gewährt.

Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es ist dem BF aufgrund seine persönlichen Umstände und der COVID-19-Situation sowie der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage derzeit nicht möglich den notwendigen Lebensunterhalt für sich in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ausreichend sicher zu stellen. Durch seine Asthmaerkrankung zählt der BF zu einer Risikogruppe in Bezug auf eine Erkrankung wegen COVID-19.

Es ist dem BF somit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.3.    Zum Leben in Österreich:

Der BF hält sich seit November 2015 in Österreich auf.

Der BF hat mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern, die ebenfalls als Asylwerber nach Österreich gekommen sind, Familienangehörigen in Österreich. Ein näheres Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Angehörigen sowie ein sonstiges Naheverhältnis zu anderen in Österreich aufenthaltsberechtigten Personen ist im Zuge des Verfahrens nicht hervorgekommen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. Beziehungen, Lebensgemeinschaften) festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und war auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften, ist der BF kein Mitglied von Vereinen.

Der BF besuchte zwischenzeitlich zahlreiche integrations- und Sprachkurse und weist dies durch die Teilnahmebestätigungen und Zertifikate nach. Er hat auch den Pflichtschulabschluss nachgeholt und ist daher jedenfalls in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf Deutsch zu kommunizieren. Er ist in seiner Freizeit an einer Weiterbildung interessiert und bemühte sich um eine Lehrstelle als Tischler, jedoch war bisher in Österreich weder ehrenamtlich tätig noch erwerbstätig. Derzeit besucht der BF eine Höhere Technische Lehranstalt. Er ist strafrechtlich unbescholten, lebt von der Grundversorgung und ist in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM,23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher

Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Programm) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.4.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

1.4.2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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