TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/14 W201 2193401-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.05.2021
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Entscheidungsdatum

14.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W201 2193401-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Zl: XXXX vom 16.03.2018, zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.       Der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige Beschwerdeführer, Sta Afghanistan, stellte am 17.06.2015 nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am 18.06.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er die Heimat aus Angst um sein Leben verlassen habe. Sein Cousin väterlicherseits sei von den Taliban getötet worden. Sein Onkel väterlicherseits habe den Beschwerdeführer zwingen wollen, für den Tod des Cousins an den Taliban Rache zu nehmen. Er habe sich geweigert und sei zu seinem Onkel mütterlicherseits gegangen, der die Flucht organisiert habe.

2.       Am 03.07.2015 wurde eine Bestimmung des Knochenalters durchgeführt, welche GP 29, Schmeling 3 ergab.

3.       Mit Beschluss des Bezirkgsgerichtes XXXX vom 03.11.2015 wurde das Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX mit der gesamten Obsorge (Pflege und Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung gem. §§ 158 ff ABGB) betraut. Die Ausübung der Obsorge wurde der XXXX übertragen.

4.       Am 04.10.2017 erfolgte eine Meldung der Landespolizeidirektion Oberösterreich, dass der Beschwerdeführer wegen Verdachtes der Tatbestandsverwirklichung nach § 27/1 SMG angezeigt werde. Mit Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 24.10.2017 wurde mitgeteilt, dass von der Verfolgung vorläufig zurückgetreten worden sei.

5.       Mit Schriftsatz vom 07.11.2017 wurde von der gesetzlichen Vertretung eine Ergänzung zur Erstbefragung übermittelt. Zum Fluchtgrund des Beschwerdeführers wird im Wesentlichen vorgebracht, sein Onkel väterlicherseits „ XXXX “ stehe sowohl den örtlichen Taliban als auch den lokalen Sicherheitsbehörden nahe. Er sei gefährlich und setze seinen Willen auch mit Gewalt durch, da er durch seine Verbindungen keine Verfolgung zu befürchten habe.

So habe er die Ländereien der Mutter enteignet deren Erbe eigentlich der Beschwerdeführer gewesen sei, nachdem der Vater des Beschwerdeführers etwa sieben Monate vor der Flucht verstorben gewesen sei. Nach dieser Enteignung habe sich der Verdacht erhärtet, dass der Tod des Vaters kein Unfall gewesen sei, sondern dass der Onkel daran beteiligt gewesen sei. Der Onkel habe, noch zu Lebzeiten des Vaters des Beschwerdeführers, seinen Sohn mit der Schwester des Beschwerdeführers verheiraten wollen, die Eltern des Beschwerdeführers seien aber dagegen gewesen und die Schwester habe sich schnell mit einem anderen verlobt. Danach sei „zufällig“ der Vater des Beschwerdeführers getötet worden. Dem Beschwerdeführer habe man gesagt, der Vater sei bei einem Unfall gestorben. Während der Trauerzeit habe der Onkel Mutter und Schwester des Beschwerdeführers zum Essen eingeladen, die Schwester aber nicht mehr gehen lassen und mit Gewalt festgehalten. Seine Mutter habe sich dann an den Vater des Verlobten der Schwester, den Onkel mütterlicherseits, gewandt, welcher gemeinsam mit seinen 9 Söhnen die Schwester des Beschwerdeführers geholt habe. Es sei zu einer Massenschlägerei gekommen. Die Familie des Beschwerdeführers sei dann zur Familie (Bruder der Mutter) des Verlobten der Schwester gezogen und der Beschwerdeführer habe als Mechaniker gearbeitet.

Einer der Söhne des Onkels vs. „ XXXX sei wegen einer Reparatur in die Werkstatt gekommen. Der Chef der Werkstatt habe dann entschieden, dass alle gemeinsam mit einem Auto zurück ins Heimatdorf fahren müssten. Auf dem Heimweg seien sie von den Taliban kontrolliert worden. Da im Ausweis des Cousins eingetragen gewesen sei, dass er Ingenieur sei, hätten die Taliban angenommen er sei Dolmetscher für die USA und hätten ihn – trotz der Einwände des Chefs – mitgenommen und die anderen weiterfahren lassen.

Der Beschwerdeführer sei dann mit seinem Chef mit dem Auto zu seinem Onkel vs gefahren und hätte dessen Tochter die Autoschlüssel übergeben und ihr gesagt, sie müsse ihrem Vater erzählen was passiert sei. Am nächsten Tag sei der Leichnam des XXXX gefunden worden. Bei der Beerdingung habe der Onkel den Beschwerdeführer beschuldigt, für den Tod des Sohnes mitverantwortlich zu sein, indem er diesem in Gegenwart der Taliban etwas angehängt habe. Er habe verlangt, dass der Beschwerdeführer ihm sage, welche Taliban das gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe aber nicht gewusst, welche Gruppierung es gewesen sei. Sein Chef habe versucht, das aufzukären, hätte aber nur bei den Onkeln mütterlicherseits Erfolg gehabt, nicht aber beim Onkel vs. Das letzte Zitat seines Onkels den Beschwerdeführer betreffend habe gelautet: „Finden wir ihn – töten wir ihn“, wofür ihm seine Kontakte bei den Taliban, ebenso wie seine Kontakte bei der Regierung und seine Familie zur Verfügung stehen würden.

Ab diesem Zeitpunkt habe der Beschwerdeführer sich versteckt. Seine Onkel mütterlicherseits hätten auch herausgefunden, dass der Onkel „ XXXX “ der Regierung die falsche Information übermittelt habe, dass der Beschwerdeführer Spion der Taliban sei. Den Taliban habe er die Information gegeben, dass er ein Spion der Regierung sei. Der Beschwerdeführer habe dann ein Schreiben der Taliban erhalten, in welchem er aufgefordert worden sei, diese in der Moschee zu treffen. Der Familie und ihm sei aber klar gewesen, dass diese dem Onkel eher glauben würden. Auch hätten sie ihm vorgeworfen, dass der Beschwerdeführer sich gegen die Ehe der Schwester mit dem Sohn des Onkels vs gestellt habe. In einem weiteren Schreiben hätten sie ihm mitgeteilt, dass sie ihn im Falle des Nichterscheinens suchen würden und er dann kein Recht auf Beschwer habe. Seine Angst vor diesem „Besuch“ sei groß gwesen. Auch seine Familie sei der Meinung gewesen, dass dies ganz schlimm für ihn enden könne. Durch die vorgelegten Beweismittel würden seine Angaben dokumentiert.

6.       In der Einvernahme vor dem BFA am 14.11.2017, die in Anwesenheit der gesetzlichen Vertreterin und einer Vertrauensperson erfolgte, brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er mit seiner Mutter, seinen drei Brüdern und seiner Schwester in Dorf XXXX gelebt habe. Seine Familie lebe jetzt nicht mehr dort, sondern beim Onkel mütterlicherseits in XXXX . Als er in Österreich angekommen sei, habe er von seiner Mutter erfahren, dass die Familie mit dem Onkel nach XXXX in dessen neu gebautes Haus übersiedelt sei. Der Vater des Beschwerdeführeres sei ca 8 bis 10 Monate vor seiner Ausreise verstorben. Man habe ihm gesagt, das sei ein Unfall gewesen, aber seine Mutter habe ihm, als er schon in Österreich gewesen sei, mitgeteilt, dass er erschossen worden sei und sie deshalb umgezogen seien. Die Familie habe Grundstücke gehabt, welche aber nach dem Tod des Vaters vom Onkel väterlicherseits enteignet worden seien. Seine Schwester sei mit dem Cousin mütterlicherseits verheiratet. Der Großvater, sieben Onkel und eine Tante mütterlicherseits würden im Heimatstaat leben und hätten ein gutes Leben, Grundstücke und seien gut situiert. Zu den vier Onkeln väterlicherseits habe er keinen Kontakt. Er habe zwei Jahre die Schule besucht und dann eine Ausbildung als Automechaniker gemacht, die er aber aufgrund der Schwierigkeiten nicht habe abschließen können. Seine Familie würde ihm Geld schicken, wenn er es brauche.

Aufgefordert, seinen Fluchtgrund zu schildern, gab er an, er habe in Afghanistan nicht weiterleben können, weil sein Leben in Gefahr gewesen sei. Er sei mit seinem Ausbilder in der Werkstatt gewesen, als sein Cousin väterlicherseits gekommen sei, um sein Auto reparieren zu lassen. Er, der Ausbilder und der Cousin des Beschwerdeführers seien in einem Wagen in das Heimatdorf gefahren. In XXXX hätten Leute, die er nicht gekannt habe, den Wagen aufgehalten und durchsucht. Sein Cousin habe einen Ausweis gehabt, in dem er als Ingenieur ausgewiesen gewesen sei, weshalb die Leute gemeint hätten, er sei Dolmetscher und übersetze für die Engländer. Der Beschwerdeführer und sein Ausbilder seien freigelassen worden, sein Cousin habe zurückbleiben müssen. Sie seien mit dem Auto des Cousins ins Dorf zurückgefahren und er habe das Auto zum Onkel väterlicherseits gebracht. Er habe der Cousine, die aus dem Haus gekommen sei, die Autoschlüssel übergeben und ihr erzählt, was passiert sei. Er sei dann zu seiner Mutter und seinem Onkel mütterlicherseits gefahren. Am nächsten Morgen habe er erfahren, dass sein Cousin erschossen worden sei. Der Vater des Toten, der Onkel väterlicherseits, habe die Leiche ins Dorf gebracht und bei der Beerdigung gesagt, dass der Beschwerdeführer mit dem Tod zu tun habe. Wenn der Beschwerdeführer nichts damit zu tun habe, solle er ihm zeigen, wer diese Personen gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe aber nicht gewusst, wer die Personen gewesen seien, da sie Masken und Handschuhe getragen hätten. Seine Mutter habe ihn danach seine Tätigkeit aus Angst nicht mehr ausüben lassen. Im Haus seines Onkels mütterlicherseits sei der Beschwerdeführer sicher gewesen. Dort habe die ganze Familie des Onkels ms sowie dessen Söhne gewohnt. Zu diesem Zeitpunkt hätten noch sieben Onkel ms im Heimatdorf gelebt, davon würden vier jetzt noch im Dorf wohnen, aber drei seien nach XXXX gezogen, weil sie jetzt für die Regierung arbeiten würden. Niemand würde es mit dem Onkel mütterlicherseits aufnehmen. Der Onkel mütterlicherseits habe auch mehr Geld.

In einem Drohbrief sei der Beschwerdeführer von den Taliban aufgefordert worden, an einen bestimmten Ort zu kommen. Sein Onkel ms habe ihn aber nicht gehen lassen. Dann sei ein weiterer Brief von den Taliban gekommen, in dem gestanden habe, dass er nicht gekommen sei und sich auch nicht über das beschweren dürfte, was sie nun mit ihm machen würden. Er sei auch bei der Behörde angezeigt und beschuldigt worden, dass er ein Spion sei. Der Onkel väterlicherseits habe ihn auch beschuldigt am Tod von Polizisten schuld zu sein, die auf der Strecke XXXX ermordet worden seien. Er habe ein Schreiben erhalten, in dem er auf eine Polizeistation eingeladen worden sei. Sein Onkel ms habe ihn auch dort nicht hingehen lassen. Er habe gemeint, dass der Onkel väterlicherseits ihn mit Hilfe von Geld ins Gefängnis bringen oder verschwinden lassen könnte. Der Onkel ms habe dann seine Flucht organisiert. Seine Familienangehörigen seien nicht bedroht oder verfolgt worden. Seine Brüder seien noch sehr jung, möglicherweise würden sie auch Probleme bekommen, wenn sie älter würden. Im Falle der Rückkehr fürchte er, keine Sekunde am Leben gelassen zu werden. Er sei weder zu den Taliban noch zur Regierung gegangen. Sein Onkel väterlicherseits würde ihn nicht in Ruhe lassen und die Regierung gäbe es in jeder Provinz.

Er sei nicht Mitglied einer politischen Partei oder parteiähnlicher Organisation und sei in Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung bedroht oder verfolgt worden.

6.1.    Im Rahmen des verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens wurden Drohbriefe, Unterlagen zur Person und zu Deutsch- bzw. sonstigen Kursen sowie integrationsbescheinigende Beweismittel vorgelegt.

7.       Am 15.02.2018 wurde von der belangten Behörde ein Abschluss-Bericht der LPD Oberösterreich vom 13.02.2018 vorgelegt, welchem zu entnehmen ist, dass der Verdacht bestehe, dass der Beschwerdeführer an einem Raufhandel beteiligt gewesen sei.

8.       Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde genannt) vom 16.03.2018 wurde über den Antrag des Beschwerdeführers wie folgt abgesprochen:

„I.      Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 17.06.2015 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen.

III.    Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 nicht erteilt.

IV.      Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.

V.       Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

VI.      Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

VII.    Gemäß § 15 b Absatz 1 Asylgesetz 2005 wurde Ihnen aufgetragen ab 06.12.2017 in folgendem Quartier Unterkunft zu nehmen: XXXX “

Nach Wiedergabe der Einvernahmeprotokolle wurden die afghanische Staatsangehörigkeit, die Zugehörigkeit der Volksgruppe der Paschtunen und zum sunnitischen, muslimischen Glauben festgestellt. Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig.

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates wurde festgehalten, dass keine Verfolgung durch die Taliban, die Regierung oder durch seien Onkel festgestellt werden könne, da eine solche nicht habe glaubhaft gemacht werden können. Es habe auch keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung festgestellt werden können. Er verfüge über Angehörige, welche ihn Unterstützen könnten, 2 Jahre Schulbildung und könne für seinen Unterhalt selbst sorgen. Es liege eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf die Heimatpropvinz nicht aber in Bezug auf ganz Afghanistan vor. Die Sicherheitslage in Kabul sei ausreichend sicher.

Das Fluchtvorbringen wurde aufgrund der Widersprüche als unglaubwürdig erachtet.

8.       Gegen diesen Bescheid wurde von der Vertretung des Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang erhoben. Es wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass der Beschwerdeführer von einem mächtigen Mann, nämlich seinen Onkel vs, verfolgt werde, vor dem ihn auch der Staat nicht beschützen könne. Überdies werde er auf Betreiben dieses Mannes vom Staat sowie den Taliban verfolgt, da dieser mit beiden Seiten kooperiere. Die belangte Behörde sei nicht in ausreichendem Maße auf die vorgelegten Unterlagen eingegangen und habe nicht ausreichend die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt. Er kenne in Kabul keinen Menschen und sei eine existenzbedrohne Notlage geradezu vorprogrammiert. Im Übrigen sei die Beweiswürdigung mangelhaft erfolgt und nimmt der Beschwerdeführer in der Folge zu den vermeintlichen Widersprüchen Stellung. Zur Untermauerung des Vorbringens betreffend Asylrelevanz und schlechter Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan wird höchstgerichtliche Judikatur und aus Berichten zur Lage in Afghanistan zitiert.

9.       Am 24.04.2018 legte die belangte Behörde den Beschwerdeakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.

10       Am 23.10.2019 wurde ein Anlass-Bericht der LPD Oberösterreich vom 19.10.2019 vorgelegt, welchem zu entnehmen ist, dass der Verdacht bestehe, dass der Beschwerdeführer gegen das Suchtmittelgsetz verstoßen habe.

Seitens der LPD Oberösterreich erging am 14.02.2020 der Abschlussbericht, in welchem dargestellt wird, dass der Bescherdeführer nicht einvernommen werden habe können, da er – vermutlich um sich der Strafverfolgung zu unterziehen – die Republik Österreich verlassen habe und sich in Frankreich aufhalte.

11.      Einem Abschluss-Bericht der LPD Oberösterreich vom 11.03.2020 ist zu entnehmen, dass Verdacht auf schweren Betrug gem. § 147 Abs. 2 StGB bestehe. Der Beschwerdeführer befinde sich dem aktuellen Ermittlungsstand zufolge in Frankreich und sei mittel EKIS zur Festnahme ausgeschrieben.

12.      Einem Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem vom 26.03.2021 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer mit 31.10.2019 mangels aufrechter Meldeadresse aus der Grundversorgung entlassen wurde. Eine Anfrage an das zentrale Melderegister vom 26.03.2021 hat ergeben, dass der Beschwerdeführer seit 13.12.2019 abgemeldet und sein Aufenthalt unbekannt ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der afghanische Beschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Paschtunen und dem sunnitisch muslimischen Glauben an. Er reiste im Juni 2015 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 17.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan geboren und hat dort sein gesamtes Leben bis zur Ausreise verbracht und mit seiner afghanischen Familie im gemeinsamen Familienverband gelebt. Er ist mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut und hatte überwiegend Kontakt mit Afghanen. Er hat zwar nur zwei Jahre Schulbildung, hat aber mehrjährige Arbeitserfahrung als Hilfsarbeiter bzw. Automechaniker.

Der Beschwerdeführer wurde mit 31.10.2019 mangels aufrechter Meldeadresse aus der Grundversorgung entlassen. Der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers ist unbekannt.

Zum Fluchtgrund:

Zum Fluchtvorbringen, dass der Cousin des Beschwerdeführers durch Taliban getötet worden sei und dessen Vater (der Onkel väterlicherseits) den Beschwerdeführer habe zwingen wollen für den Tod des Sohnes an den Taliban Rache zu nehmen, was der Beschwerdeführer verweigert habe wird festgestellt, dass das diesbezügliche Fluchtvorbringen unglaubwürdig ist und es sich auch im Falle der Wahrunterstellung dabei um eine Privatverfolgung handeln würde, welche keinen Asylgrund darstellt.

Auch den im Laufe des Verfahrens vorgebrachten Steigerungen des Fluchtvorbringens – der Onkel vs halte den Beschwerdeführer für mitschuldig am Tod des Cousins, sei Mitglied der Taliban und der Regierung und habe sowohl die Taliban als auch die Regierung gegen den Beschwerdeführer aufgebracht, ist nicht glaubwürdig.

Eine Verfolgungsgefahr im Falle der Heimkehr aufgrund von drohender Rache durch den Onkel vs.des Beschwerdeführers oder drohender Sanktionen durch die Taliban können nicht festgestellt werden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat die Verfolgung von staatlicher Seite droht.

Ein konkreter asylrelevanter Anlass für das Verlassen des Herkunftsstaates liegt nicht vor. Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung keine Verfolgung.

Des Weiteren droht ihm auch keine konkrete und individuelle Verfolgung aufgrund der Tatsache, dass er in Europa gelebt hat. Nicht jedem afghanischen Rückkehrer aus Europa droht physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer hat keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates glaubhaft dartun können.

Zur Situation im Falle der Rückkehr:

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Dem Beschwerdeführer wäre eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Laghman aufgrund der Privatverfolgung und der dortigen Sicherheitslage nicht zumutbar. Jedenfalls aber steht dem Beschwerdeführer eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung. Er ist jung, gesund und arbeitsfähig und hat zwei Jahre die Schule besucht und verfügt über Arbeitserfahrung.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Überdies wird festgestellt, dass die vermögende Familie des Beschwerdeführers weiterhin in Afghanistan lebt und ihn im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen kann.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Auszug aus der Länderinformation vom 01.04.2021:

COVID-19:

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).

Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese, wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. NachAngaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

5. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage inAfghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu.

Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019 als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.01.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 01.07.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.03.2020).

5.1. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463

Kabul-Stadt - Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-ProfileAngriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).

Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanische

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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