Entscheidungsdatum
18.05.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W276 2205593-1/29E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Gert WALLISCH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.08.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.02.2021 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer („BF“) reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 02.05.2016 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.05.2016 gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass ein Bruder und ein Cousin von ihm beim Militär gewesen seien und diese seien im Krieg getötet worden. Danach habe er Drohbriefe bekommen, in denen gestanden sei, dass sie ihn umbringen werden und er sein Land verlassen müsse. Danach sei er ein Jahr in Kabul aufhältig gewesen. Er habe seine Eltern in Paktia nicht besuchen können, deshalb habe er beschlossen, auszureisen.
I.3. Am 27.03.2017 wurde der BF vom LG für Strafsachen XXXX (GZ: XXXX ) wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, Abs. 2a, Abs. 3 SMG, 15 StGB, zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.
I.4. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 09.04.2018 gab der BF an, dass er der Volksgruppe der Paschtunen angehöre. Er sei im Dorf XXXX , im Distrikt Zazai, in der Provinz Paktia geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe keine Schule besucht, aber habe zwei Jahre als Friseur gearbeitet. Seine Eltern, seine beiden Schwestern und sein jüngerer Bruder lebten weiterhin im Heimatdorf. Er habe einmal im Monat zu seiner Familie Kontakt. Sein älterer Bruder sei bei der afghanischen Armee und sein Dienstort befinde sich in der Provinz Laghman. Der BF habe noch weitere Verwandte in Khost, in Kabul und in Jalalabad. In der Stadt Kabul habe er eine Tante mütterlicherseits und in Jalalabad lebe seine Tante väterlicherseits.
Zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates gab er an, dass er in Paktia Probleme mit den Taliban gehabt habe. Er habe als Frisör gearbeitet und die Taliban hätten ihn nicht arbeiten lassen. Die Taliban hätten ihnen Probleme gemacht. Sie hätten auch seinen Cousin väterlicherseits getötet. Nach dem Tod seines Cousins, habe er auch Probleme bekommen und seine Familie habe zu ihm gesagt, dass er von dort weggehen solle. Die Taliban hätten ihn bedroht. Sie hätten einen Brief vor ihre Tür gelegt. Sie hätten auch seinen Vater bedroht. Daraufhin habe der BF sein zu Hause verlassen. Er sei noch einige Tage in Paktia, bei einem Nachbarn geblieben und sei dann nach Nimruz und von dort weiter nach Europa gereist.
I.5. Der BF wurde wegen § 27 Abs. 2a SMG, zu AZ: XXXX am 04.08.2018 in Untersuchungshaft genommen.
I.6. Am 09.08.2018 wurde das BFA von der Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft XXXX gegen den BF wegen § 27 Abs. 2a SMG verständigt.
I.7. Am 10.08.2018 wurde dem BF seitens des BFA mit Verfahrensanordnung der Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 AsylG, wegen Straffälligkeit (§ 2 Abs. 3 AsylG) und der Verhängung der Untersuchungshaft (§§ 173 ff StPO) mitgeteilt.
I.8. Mit angefochtenem Bescheid der belangten Behörde vom 20.08.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI). Weiters verlor der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 3 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 04.08.2018 (Spruchpunkt VII). Letztlich wurde gegen ihn gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII).
Die belangte Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der vom BF angegebene ausschlaggebende Fluchtgrund, er habe sein Heimatland verlassen, weil er, aufgrund seiner Tätigkeit als Frisör, Drohbriefe von den Taliban erhalten habe, nicht glaubhaft sei. Er habe auch nicht glaubhaft machen können, dass die Taliban ihn aufgefordert hätten, sich ihnen anzuschließen. Das Ermittlungsverfahren habe auch keine Gründe ergeben, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz gem. § 8 AsylG 2005 führen könnten.
I.9. Am 23.08.2018 wurde der BF vom LG für Strafsachen XXXX (GZ: XXXX ) wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a SMG, zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe im Ausmaß von fünf Monaten wurde unter Bestimmun einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Die erlittene Vorhaft vom 03.-23.08.2018 wurde auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Vom Widerruf der mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 27.03.2017 gewährten bedingten Strafnachsicht wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
I.10. Gegen den unter Punkt I.8. genannten Bescheid brachte der BF rechtzeitig Beschwerde ein. Es wurden Länderberichte zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, besonders in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zitiert.
I.11. Am 13.03.2019 langte eine Besuchsbestätigung des BF für einen Deutschkurs beim BVwG ein.
I.12. Am 04.04.2019 langte die Meldung von der Anhaltung des BFA wegen § 27 Abs. 2a SMG beim BVwG ein.
I.13. Am 05.04.2019 langte die Verständigung von der Verhängung der Untersuchungshaft über den BF am 03.04.2019 wegen §§ 27 Abs. 2a, 27 Abs. 3 SMG § 15 StGB, zu AZ: XXXX beim BVwG ein.
I.14. Am 07.05.2019 langte die Verständigung vom Strafantritt des BF beim BVwG ein.
I.15. Am 16.05.2019 langte der Protokollsvermerk und die gekürzte Urteilsausfertigung des LG für Strafsachen XXXX beim BVwG ein. Am 25.04.2019 wurde der BF vom LG für Strafsachen XXXX (GZ: XXXX ) wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a, 2. Fall SMG, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die erlittene Vorhaft vom 31.03.-25.04.2019 wurde auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Vom Widerruf der, mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 23.08.2018, gewährten bedingten Strafnachsicht wurde abgesehen, doch die Probezeit wurde auf fünf Jahre verlängert. Die bedingte Nachsicht der über den BF mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 27.03.2017 zu AZ: XXXX sowie die mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom 10.09.2018 zu XXXX ausgesprochene bedingte Entlassung wurde widerrufen.
I.16. Am 22.05.2019 langte die Vollzugsinformation des BF beim BVwG ein.
I.17. Am 04.02.2021 langte eine Beschwerdeergänzung und eine Beweismittelvorlage des BF beim BVwG ein.
I.18. Am 05.02.2021 fand vor dem BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF, seiner Vertreterin und eines Betreuers, der als Vertrauensperson anwesend war, statt. Die belangte Behörde erschien nicht zur Verhandlung. Der BF verwies auf die am 04.02.2021 eingebrachte Beschwerdeergänzung und die darin enthaltenen Unterlagen. Vom erkennenden Richter wurden Länderberichte und zahlreiche weitere Länderinformationen in das Verfahren eingebracht (vgl Pkt II.2 dieses Erkenntnisses). Der BF und seine Vertreterin verzichteten auf eine schriftliche Stellungnahme, zu den eingebrachten Länderberichten. Die Beschwerdeführervertreterin ersuchte um die Übermittlung der aktuellen EASO Leitlinien vom Dezember 2020 per E-Mail.
I.19. Am 17.02.2021 erfolgte ein Parteiengehör an den BF zur beabsichtigten Bestellung der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen XXXX aus dem Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie, zur Einholung eines medizinischen Gutachtens. Dem BF wurde Gelegenheit gegeben, Einwände gegen die Bestellung der Sachverständigen innerhalb einer Frist von einer Woche ab Zustellung des Schreibens bekannt zu geben.
I.20. Am 22.02.2021 langte eine Beweismittelvorlage und eine Stellungnahme ein. Die Bestellung von XXXX als Sachverständige aus dem Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie, zur Einholung eines medizinischen Gutachtens, wurde zur Kenntnis genommen.
I.21. Mit Beschluss vom 26.02.2021 wurde XXXX gemäß § 52 Abs. 2 AVG iVm. § 17 VwGVG zur Erstellung eines Gutachtens aus dem Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie zur Sachverständigen bestellt.
I.22. Am 14.04.2021 langte das Sachverständigengutachten der bestellten Sachverständigen beim BVwG ein.
I.23. Am 19.04.2021 wurde dem BF das Sachverständigengutachten zur Kenntnisnahme und allfälligen Stellungnahme innerhalb einer Frist von einer Woche ab Zustellung des Schreibens übermittelt.
I.24. Am 19.04.2021 wurde dem BF ein Parteiengehör zugestellt. Darin teilte das BVwG dem BF mit, dass es das LIB Afghanistan, Version 3, vom 01.04.2021 als Entscheidungsgrundlage heranzuziehen gedenkt. Es wurde ihm eine vierzehntägige Frist zur Stellungnahme eingeräumt.
I.25. Am 26.04.2021 langte eine Beweismittelvorlage und eine Stellungnahme des BF beim BVwG ein.
I.26. Am 07.05.2021 langte eine Stellungnahme des BF beim BVwG ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II. 1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der BF führt den im Spruch genannten Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu.
Der BF ist im Dorf XXXX , im Distrikt Zazai, in der Provinz Paktia geboren und aufgewachsen. Vor seiner Ausreise aus Afghanistan hat er zwei Jahre lang als Frisör gearbeitet und zumindest ein Jahr lang, in der Stadt Kabul bei seiner Tante mütterlicherseits gelebt, deren Ehemann Frisör ist.
Seine Eltern, seine beiden Brüder und seine beiden Schwestern leben im Heimatdorf des BF in der Provinz Paktia. Sein Vater arbeitet als Frisör und kommt so für den Lebensunterhalt der Familie auf. Er steht in Kontakt zu seiner Kernfamilie, es geht ihnen gut. Die Schlepperkosten des BF wurden Großteils von seinem Vater finanziert. In der Stadt Kabul leben seine Tante und sein Onkel väterlicherseits, die Halbschwestern seines Vaters, seine Tante mütterlicherseits und deren Ehemann sowie die restlichen Geschwister seiner Mutter. Seine Familienangehörigen können ihn finanziell unterstützen, er kann über seine Kernfamilie den Kontakt zu ihnen herstellen.
II.1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
II.1.2.1. Der BF war oder wäre zukünftig, aufgrund seiner Arbeitstätigkeit als Frisör, in Afghanistan keiner persönlichen Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Sein älterer Bruder war nicht beim afghanischen Militär tätig und wurde nicht von den Taliban getötet. Sein Vater wurde oder wird nicht aufgrund dessen Arbeitstätigkeit als Frisör von den Taliban bedroht. Der BF war oder wäre zukünftig, aufgrund der Arbeitstätigkeit seines Vaters, in Afghanistan keiner persönlichen Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Ein Cousin des BF ist Musiker, doch ist dieser bereits vor dem BF aus Afghanistan ausgereist. Der BF war oder wäre zukünftig, aufgrund dieses Verwandten, in Afghanistan keiner persönlichen Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Sein Cousin väterlicherseits wurde nicht von den Taliban getötet.
II.1.2.2. Außerdem wäre konkret der BF aufgrund seiner diagnostizierten psychotischen Störung, in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt. Es wäre auch nicht jeder afghanische Staatsangehörige, der an einer psychischen Erkrankung leidet in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt.
II.1.3. Zur Situation des BF in Österreich:
Der BF befindet sich spätestens seit 02.05.2016 durchgehend im Bundesgebiet und ist illegal eingereist.
Im eingeholten Sachverständigengutachten vom 10.04.2021 kam die Gutachterin zum Schluss, dass sich aktuell, unter psychopharmakologischer Medikation beim BF keine psychiatrische Erkrankung erkennen lässt. Im Längsschnitt anamnestisch und anhand der medizinischen Dokumentation im Akt wurden die Diagnosen Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide: Schädlicher Gebrauch F12.1, DD: Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide: Abhängigkeitssyndrom F12.2, Psychische und Verhaltensstörung durch Cannabinoide: psychotische Störung F12.5 getroffen. Eine drogenindizierte Psychose ist keine lebensbedrohliche Erkrankung. Der weitere Verlauf der aktuell remittierten psychotischen Störung kann nicht prognostiziert werden. Bei vielen Menschen sistieren die drogenindizierten Psychosen bei einer Drogenkarenz dauerhaft. Die Erkrankung kann dennoch einen chronischen Verlauf nehmen und bei Verschlechterung in eine schizophrene Psychose übergehen. Beide Störungen (cannabisinduzierte Psychose und paranoide Schizophrenie sind behandelbar). Die Antipsychotika mit den Wirkstoffen Haloperidol, Olan-zapine, Quetiapine, Apiprazol sind in Afghanistan verfügbar. Problematisch muss die fehlende Therapieadhärenz des BF und seine Entschlossenheit, keine Medikamente mehr einzunehmen, gesehen werden. Eine Rückführung in das Heimatland hätte keine gesonderte Auswirkung auf seine Therapieadhärenz. Der BF hat glaubhaft versichert, nie die Absicht gehabt zu haben, sich das Leben zu nehmen. Die durch einen Impulsdurchbruch ausgelöste Zerschlagung einer Fensterscheibe kann nicht als Suizidversuch ausgelegt werden. Es wurden seit der Erstattung des Sachverständigengutachtens keine aktuelleren psychiatrischen Befunde vorgelegt. Das im Sozialbericht vom 25.04.2021 beschriebene autoaggressive Verhalten am 20.03.2021 führte zu keiner stationären Aufnahme des BF.
Im Entscheidungszeitpunkt bestehen, auch unter Berücksichtigung des anhängigen Prüfverfahrens zur Bestellung einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung, seitens des erkennenden Gerichts keine begründeten Zweifel an der Prozess- und Handlungsfähigkeit des BF. Auch das Erinnerungsvermögen des BF ist nicht beeinträchtigt.
Dem BF wurde ein Stabilisierungsplatz zugewiesen und er wird im Rahmen von „EEB“ – Erhöhter Betreuungsbedarf“ betreut.
Er leidet nicht an schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen. Der Gesundheitszustand des BF steht seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen.
Es besteht, unter Drogenabstinenz, kein Grund zur Annahme, dass der BF aufgrund einer psychiatrisch relevanten Störung nicht im Stande wäre, einer Beschäftigung nachzugehen.
Er war bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Er lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der BF hat drei Alphabetisierungskurse und einen Deutschkurs besucht. Er hat keine Sprachprüfung abgelegt, spricht allerdings bereits recht gut Deutsch. Er ist kein Mitglied in einem Verein und geht keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten nach. Er geht keinen kulturellen Aktivitäten. Er macht Sport und geht spazieren. Er hat afghanische Freunde, österreichische Freunde hat er keine.
In Österreich leben zwei Cousins des BF, zu denen er Kontakt hat und die er manchmal sieht. Ein besonderes Naheverhältnis zu diesen Cousins besteht nicht.
Zuletzt befand der BF sich von 31.03.2019 bis 17.01.2020 in Strafhaft.
Der BF wurde in Österreich mehrfach rechtskräftig verurteilt:
Der BF und zwei Mitangeklagte haben am 24.02.2017 in XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Cannabiskraut, beinhaltend Delta-9-THC und THCA mit einem durchschnittlichen Reinheitsgrad von jeweils ca. 4%, gewerbsmäßig auf einer öffentlichen Verkehrsfläche öffentlich einem anderen gegen Entgelt, überlassen und zwar einem verdeckten Ermittler 1 Gramm zu 0,8 Gramm (bto), zu einem Preis von € 30, -- sowie zu überlassen versucht, indem sie weitere 17 Baggies, zu insgesamt 15,1 Gramm (bto) zum unmittelbar bevorstehenden Verkauf an unbekannte Suchtgiftabnehmer bereithielten.
Dafür wurde der BF am 27.03.2017 vom LG für Strafsachen XXXX (GZ: XXXX ) wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, Abs. 2a, Abs. 3 SMG, 15 StGB, zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Als mildernd wurde der bisher ordentliche Lebenswandel, das reumütige Geständnis und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist gewertet. Erschwerend wurde kein Umstand gewertet.
Der BF hat am 03.08.2018 im bewussten und gewollten Zusammenwirken vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Marihuana (Wirkstoff Delta-9-THC und THCA), auf einer öffentlichen Verkehrsfläche öffentlich und zwar in Anwesenheit von zumindest 30 bis 40 weiteren Personen, die die Handlung wahrnehmen konnten bzw. wahrnehmen hätten können, zwei Abnehmern gegen Entgelt überlassen, indem der BF den Kontakt zu den Abnehmern herstellte, der BF und eine abgesondert verfolgte Person kurz die öffentliche Verkehrsfläche verließen, zunächst der BF und später auch die abgesondert verfolgte Person in den Park zurückkehrten, die abgesondert verfolgte Person dem BF das Suchtgift übergab und dieser drei Baggies zu einem Preis von € 30, -- an die zwei Abnehmer verkaufte.
Dafür wurde der BF am 23.08.2018 vom LG für Strafsachen XXXX (GZ: XXXX ) wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a SMG, zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe im Ausmaß von fünf Monaten wurde unter Bestimmun einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Die erlittene Vorhaft vom 03.-23.08.2018 wurde auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Vom Widerruf der, mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 27.03.2017, gewährten bedingten Strafnachsicht wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Als mildernd wurden das Geständnis und das Alter unter 21 Jahren gewertet. Erschwerend wurde die einschlägige Vorstrafe gewertet.
Der BF und ein Mitangeklagter haben am 31.03.2019 in XXXX auf einer öffentlichen Verkehrsfläche vorschriftswidrig Suchtgift, und zwar Marihuana (Wirkstoff Delta-9-THC und THCA) im Wahrnehmungsbereich von mehr als 10 Personen öffentlich gegen Entgelt anderen, überlassen und zwar an einen verdeckten Ermittler 1,3 Gramm um € 30, -- sowie zu überlassen versucht, und zwar weitere 6,9 Gramm bto, indem sie das Suchtgift zum unmittelbaren Verkauf an weitere Abnehmer bereithielten.
Dafür wurde der BF am 25.04.2019 vom LG für Strafsachen XXXX (GZ: XXXX ) wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a, 2. Fall SMG, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die erlittene Vorhaft vom 31.03.-25.04.2019 wurde auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Vom Widerruf der, mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 23.08.2018, gewährten bedingten Strafnachsicht wurde abgesehen, doch die Probezeit wurde auf fünf Jahre verlängert. Die bedingte Nachsicht der über den BF mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 27.03.2017 zu AZ: XXXX sowie die mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom 10.09.2018 zu XXXX ausgesprochene bedingte Entlassung wurde widerrufen. Als mildernd wurde das Geständnis, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und das Alter unter 21 Jahren gewertet. Erschwerend wurden die einschlägigen Vorstrafen, der rasche Rückfall und die Begehung innerhalb offener Probezeit gewertet.
II.1.4. Zur Situation im Fall der Rückkehr nach Afghanistan:
Dem BF würde bei einer Überstellung nach Afghanistan in die Provinz Paktia ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK drohen.
Er kann sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan allerdings erneut in seinem Heimatort in der Stadt Kabul niederlassen. Er wäre bei einer Rückkehr in die Stadt Kabul nicht in seinem Recht auf das Leben gefährdet, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen, nicht von einem Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit oder von der Todesstrafe bedroht. Er kann grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Gesundheitsversorgung, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Im Hinblick auf die derzeit bestehende Pandemie, aufgrund des Corona-Virus, ist festzuhalten, dass der BF aktuell 21 Jahre alt ist und keine relevanten Vorerkrankungen aufweist, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen fällt (s. Pkt. II.1.5.3.). Ein bei einer Überstellung des BF nach Afghanistan vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK ist hierzu nicht erkennbar.
II.1.5.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan; aus dem COI-CMS, Version 3, 2. April 2021:
Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020). Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).
Zivile Opfer
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dha- ramshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Suro- bi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 1.6.2020).
Kabul-Stadt - Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 1.6.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten, und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu möglichen 6,5 Millionen Einwohnern (AAN 19.3.2019; vgl. IGC 13.2.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.).
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).
Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).
Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).
Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).
In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern" (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne" (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft" entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, BalaChawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile- Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).
Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).
Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. GN 15.7.2020) und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.7.2020).
Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 11.1.2020, AAN 11.2.2020, AAN 21.2.2020, TN 4.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr [Anm.: 2020] wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 11.1.2020; vgl. TN 24.7.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung „Security Charter" an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).
Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Com- mand - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 1.7.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.9.2020; vgl. GW 14.7.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 3.2.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018; vgl. TN 27.9.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.9.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.7.2020).
Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.5.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören (LI 22.1.2020; vgl. UNGASC 4.2.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.1.2020, WP 9.2.2020, EASO 9.2020). UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45% im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL- KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (UNAMA 2.2021).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, lEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (UNAMA 2.2021).
Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen (NYTM 25.6.2020; vgl. UNGASC 17.6.2020, RY 30.6.2020, EASO 9.2020). Im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (SIGAR 30.1.2021). In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs" verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat" (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (RFE/RL 23.2.2021).
Selbstmordanschläge (BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020a; NYTM 29.10.2020c; HRW 26.10.2020; RFE/RL29.4.2020; REU 29.4.2020) und IEDs (RFE/RL23.2.2021; BBC 22.12.2020; WP 26.2.2020; AJ 22.8.2020; NYTM 29.10.2020c; TN 4.10.2020; KP 4.6.2020) finden statt und es wurde von gezielten Tötungen (RFE/RL 23.2.2021; BAMF 11.1.2021; BBC 22.12.2020; BBC 15.12.2020; NYTM 26.3.2020; AT 22.8.2020; TN 21.10.2020; NYTM 5.11.2020) und Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte (RFE/RL 23.2.2021; BAMF 18.1.2021; BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020b; GN 11.2.2020; TN 22.6.2020; TN 8.7.2020; TN 6.7.2020; UNAMA 6.2020; TN 6.6.2020) sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen (UNOCHA 29.1.2020; NYTM 27.2.2020)
Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020; USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020; KP 6.5.2020; RFE/RL 11.5.2020; TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020; KP 12.2.2020; BBC 11.5.2020; TN 11.5.2020; PAJ 26.6.2020) sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (TN 7.7.2020b).
Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Balkh 2019).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 1.6.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 8.7.2020).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA4.7.2018).
Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.7.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.5.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.7.2020; vgl. TN 20.12.2019).
In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air Balkh o.D.; STDOK 25.3.2019).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.2.2020, STDOK 21.7.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.2.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen (STDOK 21.7.2020). Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari umkämpft waren (LWJ o.D.). Im Jahr 2020 gehörte Balkh zu den konfliktreichsten Provinzen des Landes (UNGASC 9.12.2020, UNGASC 17.6.2020, UNGASC 17.3.2020; vgl. LWJ 10.3.2020) und in der Hauptstadt und den Distrikten kommt es weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen (ACCORD 27.1.2021, KP 3.3.2021).
Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.7.2020). Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (NYT 16.12.2019, REU 14.3.2019).
Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 1.7.2020, TN 22.4.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 7.4.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 1.7.2020).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (lEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021). Ungeachtet der Friedensgespäche finden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt (KP 3.3.2021, ACCORD 27.1.2021)
Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (UNGASC 9.12.2020, UNGASC 17.6.2020, UNGASC 17.3.2020; vgl. LWJ 10.3.2020) und auch im September 2020 galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land (BAMF 14.9.2020). Es kommt zu direkten Kämpfen (KP 3.3.2021, UNOCHA 23.9.2020, AJ 1.5.2020, DH 8.4.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.7.2020, REU 1.5.2020, UNOCHA 26.2.2020) oder Sicherheitsposten (ANI 6.3.2021, NYTM 1.10.2020, NYTM 28.8.2020, AnA 18.3.2020, XI 7.1.2020). Die Regierungskräfte führen Räumungsoperationen durch (KP 3.3.2021, AN 25.6.2020, MENAFN 24.3.2020, AA 18.3.2020, XI 25.1.2020).
Ebenso wurde von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.8.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.8.2020, RFE/RL 25.8.2020; vgl. NYTM 28.8.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.8.2020, RFE/RL 25.8.2020, RFE/RL 19.9.2020). Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen (ACCORD 27.1.2021, NYTM 1.10.2020, AN 19.9.2020, TN 1.7.2020, AP 14.1.2020, TN 4.1.2020) sowie Angriffen auf bzw. die Tötung von Sicherheitskräften (KP 3.3.2021, ANI 6.3.2021, ACCORD 27.1.2021, BAMF 18.1.2021; vgl. PAJ 12.1.2021, AT 12.1.2021). Zudem wird von der Entführung (TN 13.3.2021, DH 8.4.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (KP 3.3.2021, ACCORD 27.1.2021, NYTM 1.10.2020, DH 8.4.2020).
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA Herat 4.2014). Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären" Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar,
Kozeor), Zawol und Zerko (NSIA 1.6.2020; IEC Herat 2019), die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (NSIA 1.6.2020). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ Herat o.D.).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Herat im Zeitraum 2020-21 auf 2,140.662 Personen, davon 574.276 in der Provinzhauptstadt (NSIA 1.6.2020). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ Herat o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. STDOK 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017, LCA 4.7.2018). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Straßen verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (LCA 4.7.2018), wo sich einer der größten Trockenhäfen Afghanistans befindet (KN 7.7.2020). Die Schaffung einer weiteren Zollgrenze zum Iran ist im Distrikt Ghoryan geplant (TN 11.9.2020). Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Stadt Herat und dem Iran, die die Grenze an diesem Punkt überqueren wird, ist derzeit im Bau (1TV 28.10.2020, TN 11.9.2020). Auf der Strecke Herat-Islam-Qala wurde über Tötungen und Entführungen berichtet (UNAMA 7.2020, KN 7.7.2020; vgl. PAJ 6.2.2020) sowie über Sprengfallen am Straßenrand (KN 7.7.2020; vgl. PAJ 6.2.2020), auch auf der Ring Road in Richtung Kandahar (TN 10.10.2020). Darüber hinaus gibt es Berichte über illegale Zolleinhebungen durch Aufständische sowie Polizeibeamte entlang der Strecke Herat-Kandahar (HOA12.1.2020, PAJ 4.1.2020; vgl. NYT 1.11.2020). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (STDOK 25.11.2020; cf. Kam Air Herat o.D.).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet s