Entscheidungsdatum
19.05.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W177 2178924-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 14.11.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.03.2021, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 14.02.2016 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus der Provinz Parwan stamme. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekenne sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Er habe in seinem Heimatland eine achtjährige Schulbildung in Kabul erhalten, wo er sich zuletzt in Afghanistan auch aufgehalten habe. In seinem Heimatland würden noch seine Eltern, seine drei Brüder und seine vier Schwestern leben. Ein Onkel und ein Cousin des BF sowie dessen Ehefrau wären in Österreich aufhältig. Sein letzter Aufenthaltsort in Afghanistan sei XXXX , im Bezirk XXXX in der Provinz Kabul gewesen. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil dort Krieg herrschen würde und er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara durch die IS-Kämpfer besonders gefährdet wäre. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, dass sein Leben zerstört wäre und er möglicherweise getötet werde.
3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 18.10.2017 gab der BF an, dass er gesund und arbeitsfähig sei. Er legte auch ein Konvolut integrationsbegründenden Unterlagen vor.
Er habe Afghanistan im Jänner 2016 verlassen und habe davor in der Provinz Kabul, im Distrikt XXXX gelebt. Zuvor habe er sein Heimatland noch nicht verlassen gehabt. Er sei in seinem Heimatland nicht vorbestraft und habe dort auch kein Problem mit Behörden oder anderen staatlichen Stellen gehabt oder werde er seitens dieser gesucht. Er sei acht Jahre in eine Schule gegangen und habe nicht gearbeitet. In seinem Heimatland wären noch seine Eltern, seine drei Brüder und seine vier Schwestern in Kabul aufhältig. Mit seiner Familie sei er in Kontakt. Dieser würde es gut gehen. Er selbst befinde sich in der Grundversorgung. Er sei auch kein Mitglied in einer politischen Partei gewesen und habe in seinem Heimatland weder wegen dem Militär noch wegen der Wehrdienstableistung Probleme. In Österreich habe er an keinen Demonstrationen teilgenommen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er der Volksgruppe der Hazara angehöre und er Schiite sei. Die Taliban und der IS würden die Schiiten bedrohen. Sein Vater und sein Großvater seien bei der Wahdat-Partei gewesen, weshalb diese Probleme mit den Taliban hätten. Sein Großvater sei in der Provinz Parwan angegriffen und dabei am Hals verletzt worden. Daher sei die Familie auch vor 15 Jahren nach Kabul übersiedelt. Vor seiner Ausreise seien der Vater und der Großvater des BF mehrmals von den Taliban mit dem Umbringen bedroht worden. Es habe auch telefonische Bedrohungen gegen die gesamte Familie gegeben. Er selbst habe deswegen das Haus nicht oft verlassen und habe auch nicht in die Moschee gehen können und nicht an den Feierlichkeiten der Hazara/Schiiten teilnehmen dürfen. Sein Großvater vermeinte, er solle das Land verlassen.
Es habe weder persönliche Bedrohungen gegen den BF gegeben noch sei dieser bei einem dieser Vorfälle dabei gewesen. Sein Vater und sein Großvater seien immer noch Mitglieder bei der Partei und beide wären Kommandanten. Sein Großvater sei vor drei Jahren einmal angegriffen worden, wobei ihm allerdings nichts zugestoßen sei. Ansonsten habe es in Kabul aber keine weiteren Vorfälle gegeben. Auch in der Schule habe es keine Vorfälle gegeben, jedoch habe er selbst Angst gehabt, in die Schule zu gehen. Seine Fluchtgründe wären einerseits die allgemeine schlechte Sicherheitslage und andererseits die Feinde seines Vaters und seines Großvaters. Aufgrund dessen würde für den BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan Lebensgefahr bestehen.
In Österreich habe er Deutsch- und Bildungskurse besucht und spiele mit seinen österreichischen Freunden Fußball. Abgesehen von seinem in Österreich aufhältigen Onkel würden hier noch zwei Kinder einer Tante seiner Großmutter, zu denen allerdings kein Kontakt bestehe, leben. Ansonsten habe er keine weiteren Angehörigen auf dem Gebiet der EU. Er könne seinen Tagesablauf gut auf Deutsch schildern. Er sei kein Mitglied in einem Verein und habe auch nicht ehrenamtlich gearbeitet.
4. Am 30.10.2017 erging seitens der gesetzlichen Vertretung eine Stellungnahme. In dieser wurde ausgeführt, dass der BF aufgrund seiner unterstellten politischen Gesinnung aufgrund der politischen Tätigkeit seines Vaters und seines Großvaters in Afghanistan eine asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten habe. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage sei dem BF auch eine Rückkehr nach Kabul nicht zumutbar. Ebenso würde der BF aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seiner Religionszugehörigkeit mit Schwierigkeiten zu rechnen haben. Diese müssten, ebenso wie seine Minderjährigkeit, zusammen mit der schlechten Versorgungslage im Falle seiner Rückkehr betrachtet werden.
5. Mit Bescheid vom 14.11.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF keine konkret gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr seinerseits behauptet hätte. Auch sonst wären im gesamten Verfahren keinerlei Anhaltspunkte hervorgekommen, die auf eine Glaubwürdigkeit der Gründe, die für das Verlassen des Herkunftsstaates verantwortlich gewesen wären, schließen zu lassen gehabt hätten. Seine Verwandten würden nach wie vor unbehelligt in Afghanistan leben können, weshalb es als nicht glaubwürdig erachtet werden müsse, dass der Vater bzw. der Großvater des BF aufgrund ihrer politischen Tätigkeit bedroht worden wären. Es könne daher nicht den Angaben des BF gefolgt werden, dass diese nach wie vor Mitglied dieser Partei wären und daher von den Taliban bedroht werden würden. Der BF gab an, dass sein Großvater vor 15 und vor drei Jahren angegriffen worden sei, wobei es aufgrund der zeitlichen Abstände dieser Vorfälle nicht nachvollziehbar sei, dass der Vater bzw. der Großvater des BF wegen deren Mitgliedschaft bei der Hezbe Wahdat Bedrohungen ausgesetzt wären. Für die sonstigen Fluchtgründe, nämlich die schlechte allgemeine Sicherheitslage und die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Minderheit, habe der BF keine konkreten Anhaltspunkte vorbringen können bzw. habe sich die Lage diesbezüglich in Afghanistan in letzter Zeit spürbar verbessert. Die Angaben des BF zu seinen Fluchtgründen wären daher vage, oberflächlich, nicht plausibel und teilweise auch widersprüchlich gewesen, weshalb das Fluchtvorbringen als nicht glaubwürdig zu werten gewesen sei.
Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre dem BF eine Wiederansiedlung in Kabul zumutbar, zumal diese Provinz als eine relativ friedliche Provinz eingestuft werde. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Eine Wiedereingliederung des BF in den Familienverband könne angenommen werden. Auch habe der BF in Österreich Erfahrungen gesammelt, die ihm in Afghanistan hilfreich seien. Aufgrund seiner ebenfalls zur Schau gestellten Selbstständigkeit und Anpassungsfähigkeit könne davon ausgegangen werden, dass der BF auch als Minderjähriger, aufgrund des Vorliegens eines sozialen Netzes in Kabul, im Falle einer Rückkehr als nicht vulnerabel zu betrachten sei. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 15.11.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 15.11.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 30.11.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die Behörde aufgrund des bloßen Aufenthaltes des Vaters und des Großvaters des BF nicht den Rückschluss ziehen könnte, dass diese keiner aktuellen Gefährdung durch die Taliban wegen ihrer politischen Tätigkeit ausgesetzt seien. Aus dem Vorbringen, dass der Großvater aufgrund seiner politischen Tätigkeit ca. 15 und ca. drei Jahren attackiert worden sei, könne aufgrund der langen Zeitspanne dazwischen nicht geschlossen werden, dass der BF keiner Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei, zumal dieser angegeben habe, dass sein Vater und sein Großvater oftmals verbal bedroht worden wären. Der BF sei aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie einer Sippenhaftung ausgesetzt. Ebenso sei zu berücksichtigen gewesen, dass Hazara in Pakistan (sic!) einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt wären und Hazara in Afghanistan ebenfalls nicht ausreichenden staatlichen Schutz erhalten würden. Außerdem hätte beim Vorbringen des BF seine Minderjährigkeit in stärkerem Ausmaß berücksichtigt werden müssen, sowie die Tatsache, dass er das Fluchtvorbringen nachvollziehbar und in Übereinstimmung zu seinem Onkel dargelegt habe.
Die schlechte Sicherheits- und Versorgungslage sowie die schwierige Situation der Rückkehrer würden selbst eine Ansiedlung in Kabul für den BF unzumutbar machen, weil der BF ein unbegleiteter Minderjähriger sei und Rückkehrer sich nur im Falle des Vorliegens eines sozialen Netzes wieder in Afghanistan ansiedeln können würden. Daher wäre dem BF aus diesem Grund bereits subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen. Ebenso habe sich der BF trotz kurzer Aufenthaltsdauer gut integriert, weshalb die Rückkehrentscheidung sohin für dauerhaft unzulässig erklärt hätte werden müssen. Abschließend wurde das Durchführen einer mündlichen Verhandlung beantragt.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 04.12.2017 vom BFA vorgelegt. Dieses beantragte die vollinhaltliche Abweisung der Beschwerde.
9. Mit Schreiben vom 05.09.2018 legte die gesetzliche Vertretung des BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.
10. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 15.12.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der bisher zuständigen Gerichtsabteilung W179 abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
11. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 05.03.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung, nunmehr die BBU GmbH, sein als BF1 geführter (nahezu gleichaltriger) Onkel und zwei Zeugen persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 03.03.2021 entschuldigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Zu Beginn wurden die beiden Verfahren mit Zustimmung des Rechtsvertreters miteinander verbunden. Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19 und es wurde auf die Verlesung der für das Ermittlungsverfahren wesentlichen Aktenteile verzichtet und die Aktenteile seitens des erkennenden Richters zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der heutigen Niederschrift erklärt.
Der BF gab an, dass seine bisher getätigten Angaben zu seinem Fluchtgrund der Wahrheit entsprochen hätten. Er wolle diesbezüglich weder etwas ändern noch korrigieren. Zu seiner in Afghanistan lebenden Familie habe er keinen Kontakt mehr, weil ihm diese im September 2019 mitgeteilt hätte, dass sie aufgrund der Sicherheitslage Afghanistan verlassen wolle und in den Iran oder nach Pakistan gehen werde. In Kabul würden keine weiteren Angehörigen mehr leben. Es wurden Schreiben der Hezbe Hasarat Islami Afghanistan vorgelegt. Diese Dankesschreiben am Jihad sollen darlegen, dass die Väter der BF bei dieser Partei aktiv wären. Der Vater und der Großvater des BF hätten diese Schreiben persönlich ausgestellt bekommen, als diese hingegangen wären. Ein vorgelegtes Foto sollte darlegen, dass sich ein Konnex zur Hezbe Wahdat ergebe. Diese habe der Onkel des BF nach dem Erhalt seines negativen Bescheides im Jahr 2018 zugesandt bekommen. Auf Nachfrage, dass die Datumsangaben der Schreiben verdeckt und nicht leserlich seien, gab der Onkel des BF an, dass es die Originale ebenfalls nicht geben würde. Die Hezbe Wadat habe sich aber aufgespalten und ein Teil dieser sei eben der in den vorgelegten Schreiben genannt. Der BF gab an, dass nicht viel über die politische Tätigkeit ihrer (Groß-)Väter gesprochen worden wäre. Diese liege wohl circa 20 Jahre zurück.
Nach Erörterung der Situation im Falle einer Rückkehr der BF führten beide aus, dass in diesen Städten keine Kontakte hätten und sie wegen COVID-19-Pandemie keine Arbeit finden würden. Die Rechtsvertretung des BF aus, dass sie sich eine Stellungnahme vorbehalte und legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Weitere Bescheinigungen würden der Stellungnahme beigefügt werden.
Die ersteinvernommene Zeugin gab an den BF aus einem Sozialprojekt für Jugendliche, in dem es um Fußball ging, persönlich zu kennen. Er sei zielstrebig und sehe sich als Österreicher. Er wäre quasi ihr Co-Trainer bei einer Mädchenmannschaft bis elf Jahren eines Fußballvereines. Er würde auch in der Erwachsenenmannschaft aushelfen. Außerdem wäre er sehr kontaktfreudig uns sehr hilfsbereit in allen Lebenslagen. Er habe sich außergewöhnlich integriert, weil er offen und zielstrebig sei. Ebenso habe er sehr gut die Sprache erlernt. Sie habe zwei Mal die Woche Kontakt zu ihm und berede mit ihm auch private Dinge abseits des Fußballs. Sie sehe ihn als Sohn, den sie mitbetreue.
Ein weiterer Zeuge kenne den Onkel des BF aus seiner Zeit beim Zivildienst, den er bei der Caritas absolviert habe. Er habe insbesondere mit dem Onkel des BF viel und tiefergehend geredet, sodass ihm dieser ans Herz gewachsen sei. Er sehe ihn zwar nicht mehr so oft, habe aber Kontakt über die sozialen Netzwerke, wobei er das Gefühl habe, dass es ihm gut gehe und er sich außergewöhnlich integriert habe.
Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.
12. Mit Schriftsatz vom 02.04.2021 erfolgte seitens der Rechtsvertretung der BF eine Stellungnahme, die beinhaltete, dass die BF in Afghanistan kein soziales Netzwerk hätten und sich diese aufgrund ihrer langjährigen Abwesenheit dort nicht mehr zurechtfinden würden. Ebenso habe die Coronapandemie die Situation auf dem afghanischen Arbeitsmarkt verschlechtert, sodass Personen, die Afghanistan in jungem Alter verlassen, keine Familie, keine Ausbildung, kein Unterstützungsnetzwerk, keine finanziellen Mittel und zu einer oftmals diskriminierten Bevölkerungsgruppe zählen würden, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative kein Leben ohne unbillige Härten führen könnten. Die Integrationsleistungen der BF wären außergewöhnlich, weil sie die Sprache erlernt und sich in der Gesellschaft integriert hätten. Sie hätten sohin das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wobei der BF selbsterhaltungsfähig sei und eine Einstellungszusage vorlegen könne.
13. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Offener Brief des Bündnis Solidarität statt Abschiebung
? Reisewarnung des BMEIA für Afghanistan
? Schulbesuchsbestätigung (Intensivkurs: Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss)
? Bestätigungen über den Besuch der Übergangsklasse an der AHS und BMHS
? Schulnachricht und Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung
? Teilnahmebestätigungen an zahlreichen Schulsportveranstaltungen
? Bestätigung über das Durchführen von gemeinnütziger Tätigkeit
? Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen
? ÖSD-Zertifikate A1, A2 und B1
? Teilnahmebestätigungen an Bildungs- und Integrationskursen (ua: EDV-Kurs, PSA-Test)
? Zeugnis zur Integrationsprüfung
? Bestätigung der Mitgliedschaft in einem Fußballverein aus dem Jahr 2018 und Bestätigungsschreiben eines weiteren Fußballvereins
? Einstellungszusage
? Teilnahmebestätigung an einem Theaterworkshop
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und gehört der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.
Der BF wurde nach seinen Angaben in der Provinz Parwan geboren und hielt sich vor seiner Ausreise aus Afghanistan im Distrikt XXXX in der Provinz Kabul auf. Er hat in Afghanistan eine achtjährige Schulbildung erhalten, aber noch nicht gearbeitet. In seinem Heimatland sind keine Verwandten mehr aufhältig. Zu seinem Großvater, seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seinen vier Schwestern, die ins benachbarte Ausland gezogen sind, besteht kein Kontakt mehr. Ein Onkel des BF lebt in Österreich als Asylwerber und erhält zum selben Zeitpunkt wie der BF eine gleichlautende Entscheidung im Asylverfahren. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich ebenfalls unbescholten.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über den Iran und die Türkei in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 14.02.2016 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 14.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil dort Krieg herrschen würde und er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara durch die IS-Kämpfer besonders gefährdet wäre. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, dass sein Leben zerstört wäre und er möglicherweise getötet werde.
Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung, er wird von diesen oder dieser auch nicht gesucht.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan aufgrund einer politischen Tätigkeit seines Vaters keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch staatliche Behörden oder andere Personen.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Parwan, die als volatile Provinz eingestuft wird, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage nicht zumutbar. Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Kabul, wo er sich zuletzt in Afghanistan regelmäßig aufgehalten hat und die nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt, zumutbar. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist dem BF auch noch – neben einer Rückkehr nach Kabul – die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans, insbesondere der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif, zumutbar. Bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.
Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde; er ist gesund. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF. Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
Da der BF keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat und deren Aufenthalts ungewiss und wohl nicht mehr in Afghanistan ist, ist nicht davon auszugehen, dass diese den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorübergehend finanziell unterstützen kann.
Der BF hat jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt. Zu Bedenken ist auch, dass der BF im Falle einer Rückkehr auch von seinem Onkel unterstützt werden kann, der eine gleichlautende Asylentscheidung erhält und somit ebenfalls zusammen mit BF nach Afghanistan zurückkehrt.
Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.
Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, weil er in seinem Heimatland in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist, er ist dort auch jahrelang in die Schule gegangen.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 14.02.2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 14.02.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF hat, abgesehen von seinem Onkel, der eine gleichlautende Asylentscheidung erhält, keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich auch keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen. Zu den in Österreich aufhältigen zwei Kindern der Tante seiner Großmutter hat der BF keinen Kontakt.
Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist der BF kein Mitglied in Vereinen.
Der BF hat in Österreich den Pflichtschulabschluss nachgeholt und zeigte sich in der schulischen Ausbildung sehr engagiert. Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate darlegen. Er ist daher in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben. Er ist bemüht seine Sprachkenntnisse zu vertiefen und hat bereits das ÖSD-Zertifikat B1-Kurs.
Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er verfügt über lediglich über eine Einstellungszusage und ist ansonsten ausschließlich ein wenig gemeinnützig tätig gewesen. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF jedoch nicht gelungen.
Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine Verurteilungen des BF auf. Er ist unbescholten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
Länderspezifische Anmerkungen
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.
Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen
COVID-19
Letzte Änderung: 14.12.2020
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM,23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher
Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Programm) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
0. Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG
Erläuterung
Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.
Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.
Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:
Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.
1.5.1. Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
1.5.2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im G