TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/28 W104 2207307-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.05.2021
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Entscheidungsdatum

28.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


W104 2207307-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian BAUMGARTNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Helmut BLUM, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , Außenstelle XXXX , vom 21.8.2018, Zl. 1155138501-170658445, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.4.2021 zu Recht:

A)       Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 2, Abs. 9, 46 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 3.6.2017 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Baghlan geboren, afghanischer Staatsbürger und hängte der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, zwei Brüder und zwei Schwestern seien nach wie vor in Afghanistan im Heimatdorf wohnhaft. Vor ungefähr einem Jahr habe der Beschwerdeführer den Entschluss zur Ausreise aus seinem Herkunftsstaat gefasst. Zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, er sei der älteste Sohn der Familie. In Afghanistan habe er keine Möglichkeit gehabt, die Schule zu besuchen, und es habe keine Sicherheit gegeben. In seinem Herkunftsort hätten die Taliban geherrscht und verlangt, dass der Beschwerdeführer sich ihnen anschließe. Die Eltern des Beschwerdeführers hätten nicht gewollt, dass er im Krieg ums Leben komme und ihn deshalb weggeschickt. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan fürchte der Beschwerdeführer, von den Taliban gezwungen zu werden, für sie zu kämpfen.

3. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Handwurzelröntgen zur Bestimmung des Knochenalters an, dem sich der Beschwerdeführer am 14.6.2017 unterzog. Das Röntgen ergab, dass sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia geschlossen sind, während sich am Radius eine zarte Epiphysennarbe zeigt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl holte zudem ein rechtsmedizinisches Sachverständigengutachten zum Lebensalter des Beschwerdeführers ein. Laut diesem Gutachten ist das spätestmögliche Geburtsdatum des Beschwerdeführers der XXXX .

Mit Verfahrensanordnung vom 25.7.2017 stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren sei.

4. Am 1.8.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Hier wiederholte der Beschwerdeführer zunächst, dass er am XXXX geboren sei. Dieses Geburtsdatum hätten ihm seine Eltern genannt. Weiter gab er an, der Volksgruppe der Belutschen anzugehören. Er habe keine Schule besucht, sei Analphabet und verfüge über Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Taxifahrer. Zu seiner Ausreise gab er an, Afghanistan vor ungefähr zweieinhalb bis drei Jahren verlassen zu haben. Nach seinen Ausreisegründen befragt, führte der Beschwerdeführer aus, in seinem Dorf gebe es keine Schule, weswegen er Analphabet sei. Das Dorf werde von den Taliban regiert, welche junge Männer rekrutiert und auch zwangsweise mitgenommen hätten. Eines Tages seien die Taliban zu seiner Familie nach Hause gekommen und hätten von seinem Vater verlangt, dass sich der Beschwerdeführer ihnen anschließe. Sein Vater habe das nicht gewollt, da der Beschwerdeführer als ältester Sohn die Familie versorgt habe, und den Beschwerdeführer daher zu seinem Onkel nach Kabul geschickt. Dort habe sich der Beschwerdeführer zwei Monate lang aufgehalten, ehe er auf Verlangen seines Vaters nach Baghlan zurückgekehrt sei. Zurück in Baghlan habe er gesehen, dass sein Vater ein gebrochenes Bein gehabt habe. Die Taliban hätten den Vater geschlagen und schwer verletzt. Auch ein Cousin väterlicherseits des Beschwerdeführers sei von den Taliban geschlagen und im Rückenbereich angeschossen worden. Außerdem hätten die Taliban versucht, sein Taxi auf dem Weg nach Hause anzuhalten. Da der Beschwerdeführer nicht stehen geblieben sei, hätten sie auf ihn geschossen. Eine Kugel habe den Beschwerdeführer durch die Autotür am rechten Oberschenkel getroffen. Der Beschwerdeführer sei daraufhin ungefähr 15 Tage zu Hause gewesen, ehe er seine Mutter nach XXXX gebracht habe und selbst Richtung Europa weitergereist sei. Seine Mutter sei seit 19 Jahren krank. Er habe sein gesamtes Einkommen für die Gesundheit seiner Mutter ausgegeben. Dennoch habe das Geld für ihre medizinische Versorgung nicht gereicht.

5. Am 16.8.2018 langte ein Konvolut medizinischer Unterlagen betreffend die Erkrankung der Mutter des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein.

6. Mit E-Mail vom 20.8.2018 übermittelte der Betreuer des Beschwerdeführers ein Konvolut an Integrationsunterlagen für den Beschwerdeführer.

7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 21.8.2018, zugestellt am 29.8.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen (gemeint: 14 Tagen) ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe die Krankheit seiner Mutter bei seiner Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt, weshalb eine die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers vermindernde Steigerung seines Vorbringens evident sei. Die vorgebrachte Gefährdung durch die Taliban beschränke sich nach Ansicht der belangten Behörde allenfalls auf die Heimatprovinz des Beschwerdeführers. Zwar seien die Taliban durchaus in der Lage, Personen auch über die Heimatprovinz hinaus zu verfolgen; im Fall des Beschwerdeführers sei das Verfolgungsinteresse der Taliban aber gering ausgeprägt und regional beschränkt, da er der „Low-Profile-Kategorie“ angehöre. Mit den Städten Herat und Mazar-e Sharif stünden dem Beschwerdeführer zwei innerstaatliche Schutzalternativen zur Verfügung. Es sei daher nicht von einer asylrelevanten Verfolgung des Beschwerdeführers im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auszugehen. Eine Niederlassung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif sei dem Beschwerdeführer auch zumutbar, da der Beschwerdeführer jung, gesund und arbeitsfähig sei und über Berufserfahrung verfüge.

8. Dagegen richtet sich die am 21.9.2018 bei der belangten Behörde eingelangte vollumständliche Beschwerde. Nach der Darlegung des Sachverhaltes und des bisherigen Verfahrensganges führt die Beschwerde im Wesentlichen aus, die Länderberichte, wonach die Taliban junge Männer für ihren Krieg bzw. für größere Offensiven zwangsrekrutieren, würden die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund bestätigen. Die belangte Behörde habe verkannt, dass der Beschwerdeführer in die Risikogruppe der von regierungsfeindlichen Gruppen verfolgten Personen falle. Sowohl gegen den Beschwerdeführer als auch gegen seine Familie seien bereits Verfolgungshandlungen durch die Taliban gesetzt worden. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan fürchte der Beschwerdeführer seinen Tod. Es gebe keinen staatlichen Schutz vor Verfolgung durch die Taliban. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe für den Beschwerdeführer nicht, da die Taliban in der Lage seien, ihn aufgrund ihrer guten Vernetzung und Struktur überall zu finden. Entgegen den Annahmen der belangten Behörde sei nicht mit einer (finanziellen) Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine Familie zu rechnen. Diese sei arm und kaum in der Lage, sich selbst zu ernähren. Außerdem sei die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor prekär; auch die allgemeinen Lebensbedingungen und die Versorgungslage würden sich als sehr schwierig gestalten. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan drohe dem Beschwerdeführer unmenschliche Behandlung und Gefahr für sein Leben sowie seine körperliche Unversehrtheit.

9. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.

10. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.2.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der erkennenden Gerichtabteilung zugewiesen.

11. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte mit Schreiben vom 16.3.2021 eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 28.4.2021 an, brachte Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme.

12. Mit Schreiben vom 6.4.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 1.4.2021 ins Verfahren ein. In einem gab es den Parteien die Möglichkeit, dazu binnen einer Frist von zwei Wochen Stellung zu nehmen.

13. Am 7.4.2021 langte eine Vollmachtsbekanntgabe von Dr. Helmut BLUM, Rechtsanwalt, für den Beschwerdeführer samt Integrationsunterlagen beim Bundesverwaltungsgericht ein. In einem wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer wolle seine bisherigen Angaben dahingehend berichtigen, dass er bereits im Alter von elf Jahren von seinem Vater aus Afghanistan weggeschickt worden sei, nachdem die Taliban ihn hätten rekrutieren wollen und er eine Schussverletzung erlitten habe. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan daher bereits mit elf Jahren verlassen und sich bis zur Flucht nach Österreich mehr als fünf Jahre in der Türkei aufgehalten. Zu den Länderberichten sei anzumerken, dass keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer bestehe, da die Taliban in der Lage seien, ihn überall zu finden. Der Beschwerdeführer habe in den großen Städten zudem weder Verwandte noch ein soziales Netzwerk, auf dessen Hilfe er zurückgreifen könne. Es sei ihm – insbesondere vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie – nicht möglich, ohne soziales Netzwerk in Herat, Kabul oder Mazar-e Sharif zu überleben.

14. Am 21.4.2021 reichte die belangte Behörde einen Abtretungs-Bericht des Bezirkspolizeikommandos XXXX , Polizeiinspektion XXXX , vom 11.4.2021 an die Staatsanwaltschaft XXXX nach. Diesem Bericht ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer verdächtig ist, Suchtgift in Form von Cannabiskraut erworben, besessen und gewinnbringend weitergegeben zu haben (Verdacht auf § 27 Abs. 1 SMG).

15. Die belangte Behörde teilte mit Schreiben vom 22.4.2021 mit, dass die Teilnahme eines informierten Vertreters an der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei. Ungeachtet dessen werde die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde beantragt und um Übersendung des Verhandlungsprotokolls ersucht.

16. Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 28.4.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigte Rechtsvertreterin und eine Dolmetscherin für die Sprache Paschtu teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen einer Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat wegen seiner Weigerung, sich den Taliban anzuschließen, aufrecht. Abweichend von seinen bisherigen Angaben im Verfahren führte der Beschwerdeführer hier jedoch aus, er sei bereits im Jahr 2011 aus Afghanistan ausgereist, als er ungefähr elf Jahre alt gewesen sei. Anschließend habe er ungefähr fünf Jahre in der Türkei gelebt. Mit seiner Familie habe er seit seiner Ankunft in Österreich nur einmal Kontakt über seinen Onkel mütterlicherseits gehabt. In Afghanistan habe er sich um die Ziegen und Schafe gekümmert und zu Hause mitgeholfen. Im Alter von neun Jahren sei der Beschwerdeführer am Bein angeschossen worden, woraufhin sein Vater ihn zu seinem Cousin väterlicherseits geschickt habe. Dort habe der Beschwerdeführer ungefähr ein Jahr lang gelebt und seinem Cousin bei dessen Arbeit als Taxilenker geholfen. In der Türkei habe er in einer Fabrik gearbeitet, in der Sackerl hergestellt worden seien. Zu seinem Leben in Österreich gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe eineinhalb Jahre einen Deutschkurs und ein Jahr die Schule besucht. Bislang habe er noch keine Deutschprüfungen absolviert. Er sei nicht erwerbstätig, habe jedoch ehrenamtlich – unter anderem bei der Gemeinde – gearbeitet.

Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers legte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein Konvolut an Integrationsunterlagen (Arbeitsvorverträge, Empfehlungsschreiben) vor, welche als Beilage ./1 zum Akt genommen wurden, und beantragte die Einvernahme von XXXX , Jugendkoordinatorin beim „Team der Offenen Jugendarbeit XXXX “, zum Beweis der außerordentlichen Integration und des Bestehens eines schützenswerten Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich. Dieser Antrag wurde vom Bundesverwaltungsgericht unter Verweis auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur außerordentlichen Integration abgelehnt. Weiter führte die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers in der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Wesentlichen zusammengefasst aus, den Länderberichten sei zu entnehmen, dass es zu einem Anstieg an sicherheitsrelevanten Vorfällen in Afghanistan gekommen sei. Die Ausbreitung des Corona-Virus habe zu einem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit der Bevölkerung in ganz Afghanistan geführt. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan bereits im Alter von elf Jahren verlassen und den Großteil seines Lebens außerhalb Afghanistans verbracht. In den letzten vier Jahren habe der Beschwerdeführer nur einmal Kontakt zur Familie gehabt. Er verfüge über kein unterstützungsfähiges bzw. unterstützungswilliges soziales Netzwerk, welches jedoch für Rückkehrer, die lange außerhalb Afghanistans gelebt haben, notwendig sei. In den letzten Jahren habe der Beschwerdeführer außerordentliche Schritte in Richtung einer gelungenen Integration getätigt. Insbesondere habe sich der Beschwerdeführer um einen Arbeitsplatz bemüht und im Rahmen der mündlichen Verhandlung zwei Arbeitsvorträge vorlegen können. Im Fall der Erlangung eines Aufenthaltstitels sei der Beschwerdeführer daher umgehend selbsterhaltungsfähig. Es werde ersucht, das schützenswerte Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Antrag des Beschwerdeführers auf Unterstützung der Erziehung über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus vom 30.11.2017;

?        Bestätigung der XXXX über die Teilnahme am Deutschkurs im Zeitraum 16.6.2017 bis 11.7.2017 vom 11.7.2017;

?        Bestätigung des ÖIF über Teilnahme am Werte- und Orientierungskurs am 13.10.2017;

?        Semesterrückmeldung des Bundesreal- und Bundesoberstufenrealgymnasiums XXXX vom 20.2.2018;

?        Jahresrückmeldung des Bundesreal- und Bundesoberstufenrealgymnasiums XXXX vom 4.7.2018;

?        Bestätigung der Marktgemeinde XXXX über Leistung gemeinnütziger Arbeit am 12.6.2018 im Ausmaß von drei Stunden vom 7.8.2018;

?        Bestätigung des Vereins XXXX über ehrenamtliche Mitarbeit im Ausmaß von elf Stunden vom Juli 2018;

?        Bestätigung der Gemeinde XXXX über gemeinnützige Arbeit des Beschwerdeführers vom 23.8.2018;

?        Arbeitsnachweise des Amts der XXXX Landesregierung, XXXX für März und April 2019;

?        Beratungsplan der XXXX vom 22.1.2019;

?        Arbeitsrechtlicher Vorvertrag (undatiert), abgeschlossen zwischen XXXX , Restaurant „ XXXX “ als Arbeitgeber und dem Beschwerdeführer als Arbeitnehmer als Küchenhilfe im Ausmaß von 40 Stunden wöchentlich;

?        Arbeitsrechtlicher Vorvertrag vom 27.4.2021, abgeschlossen zwischen XXXX , Restaurant „ XXXX “ als Arbeitgeber und dem Beschwerdeführer als Arbeitnehmer als Küchenhilfe im Ausmaß von 24 Stunden wöchentlich;

?        Arbeitsrechtlicher Vorvertrag vom 25.5.2021, abgeschlossen zwischen dem Restaurant „ XXXX “, Inhaber XXXX , als Arbeitgeber und dem Beschwerdeführer als Arbeitnehmer als Küchenhilfe im Ausmaß von 40 Stunden wöchentlich;

?        Bestätigung des Fußballvereins XXXX betreffend Teilnahme des Beschwerdeführers am Training der U18-Mannschaft (undatiert);

?        diverse Unterstützungs- und Empfehlungsschreiben;

?        Krankenversicherungsbeleg für grundversorgte Personen gültig ab 3.6.2017;

?        Dokumentation der Arzt- und Krankenhausbesuche für AsylwerberInnen in der Grundversorgung betreffend TBC Untersuchung des Beschwerdeführers am 6.6.2017;

?        Krankenversicherungsbeleg für grundversorgte Personen gültig ab 12.7.2017;

?        Dokumentation der Arzt- und Krankenhausbesuche für AsylwerberInnen in der Grundversorgung mit Eintragungen vom 13.7.2017 und vom 25.7.2017 (Stampiglien unleserlich);

?        Impfpass des Beschwerdeführers;

?        Dokumentation der XXXX betreffend Diagnosen, Behandlungen und Prognosen des Beschwerdeführers mit Eintragungen vom 13.7.2017, 17.7.2017 und 25.7.2017;

?        Ambulanzkarte des Landeskrankenhauses XXXX , unfallchirurgische Abteilung, Diagnose: Cont. cub. sin. (Prellung des linken Ellenbogens), Unfalldatum 11.7.2017;

?        Ärztliche Überweisung des Beschwerdeführers von XXXX an einen Facharzt für Radiologie (undatiert);

?        Konvolut medizinischer Unterlagen betreffend die Mutter des Beschwerdeführers.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl;

?        Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht;

?        Einsichtnahme in folgende vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachte Berichte:

-        Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 1.4.2021;

-        European Asylum Support Office (EASO): Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020;

https://easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2020_0.pdf;

-        European Asylum Support Office (EASO): Country of Origin Information Report: Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, December 2017;

https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports;

-        European Asylum Support Office (EASO): Bericht Afghanistan Netzwerke (Übersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), Stand Jänner 2018;

https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports;

-        Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31.5.2018;

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Afghanistan: Covid-19, 5.6.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie, 30.4.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2030099.html

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie, 23.4.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2030080.html;

-        Ecoi.net – European Country of Origin Information Network: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen (Methoden; Netzwerke), 15.2.2013;

-        Landinfo, Informationszentrum für Herkunftsländer: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne (Arbeitsübersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staaten-dokumentation), 23.8.2017; https://landinfo.no/asset/3590/1/3590_1.pdf;

-        European Asylum Support Office (EASO): Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan – Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen, September 2016;

https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Afghanistan_Recruitment_German.pdf

-        Landinfo, Informationszentrum für Herkunftsländer: Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban (Arbeitsübersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), 29.6.2017;

https://landinfo.no/asset/3588/1/3588_1.pdf,

?        Einsichtnahme in folgende Berichte und Informationen zur aktuell maßgeblichen Situation in Afghanistan aufgrund der COVID-19-Epidemie:

-        Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 1.4.2021;

-        Homepage der Word Health Organization (WKO), letzter Zugriff jeweils am 26.5.2021;

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19;

https://covid19.who.int/region/emro/country/af;

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Afghanistan: Covid-19, 5.6.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie, 30.4.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2030099.html

-        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom, 23.4.2020;

https://www.ecoi.net/de/dokument/2030080.html;

?        Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Berichte.

2.       Feststellungen:

2.1.    Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Dorf XXXX in der afghanischen Provinz Baghlan geboren. Er ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Belutschen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Er ist Analphabet und kann diese Sprache weder lesen noch schreiben. Weiter spricht der Beschwerdeführer ein wenig Dari, Türkisch, Englisch und Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wuchs in seinem Heimatdorf im afghanischen Familienverband mit seinen Eltern, zwei Schwestern und zwei Brüdern im familieneigenen Haus auf. Die Familie des Beschwerdeführers besaß dort mehrere landwirtschaftlich genutzte Grundstücke. Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan keine Schule. Er half als Kind in der familieneigenen Landwirtschaft, indem er sich insbesondere um die Ziegen und Schafe kümmerte. Weiter war der Beschwerdeführer als Jugendlicher ungefähr eineinhalb bis zwei Jahre lang als Taxifahrer bis zu seiner Ausreise im Frühsommer 2016 tätig. Während seines ungefähr achtmonatigen Aufenthaltes in der Türkei arbeitete der Beschwerdeführer in einer Fabrik.

Die Eltern des Beschwerdeführers, eine Schwester und seine beiden Brüder leben nach wie vor im familieneigenen Haus im Heimatdorf. Die Mutter des Beschwerdeführers leidet unter einer chronischen Erkrankung und bedarf laufender medizinischer Versorgung. Die ältere Schwester des Beschwerdeführers ist bereits verheiratet und lebt von der Landwirtschaft ihrer angeheirateten Familie. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie. In der Heimatprovinz des Beschwerdeführers leben zudem zwei Onkel väterlicherseits und zwei Tanten des Beschwerdeführers. Ein Onkel mütterlicherseits lebt in Kabul. Außerhalb von Afghanistan leben ein Onkel mütterlicherseits in Pakistan in XXXX , ein Onkel mütterlicherseits in Großbritannien in XXXX und zwei Cousins väterlicherseits in der Türkei.

Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund sowie arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer stellte am 3.6.2017 seinen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet und hält sich seither durchgehend in Österreich auf. Er lebt in Österreich von der Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer hat seit seiner Einreise an mehreren Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskursen, darunter am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF, teilgenommen. Er verfügt über Grundkenntnisse der deutschen Sprache, hat jedoch noch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt. Derzeit nimmt er am Deutschunterricht im Flüchtlingsheim XXXX teil. Im Schuljahr 2017/18 besuchte der Beschwerdeführer ein Jahr lang das Bundesreal- und Bundesoberstufenrealgymnasium XXXX . In der Vergangenheit war der Beschwerdeführer hauptsächlich in den Jahren 2018 und 2019 gemeinnützig für die Marktgemeinde XXXX , den Verein XXXX , die Gemeinde Stams und für das Amt der XXXX Landesregierung, XXXX , tätig. Derzeit ist der Beschwerdeführer jedoch weder gemeinnützig tätig, noch besucht er die Schule. Er war in Österreich auch nicht erwerbstätig. Im April und Mai 2021 schloss der Beschwerdeführer zwei arbeitsrechtliche Vorverträge als Küchenhilfe mit zwei potentiellen Arbeitgebern ab, welche sich verpflichteten, den Beschwerdeführer in ihrem Betrieb zu beschäftigen, sobald er über einen Aufenthaltstitel für Österreich und einen Zugang zum Arbeitsmarkt verfügt. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft und ist Mitglied in einem Fußballverein. In seiner Freizeit besucht der Beschwerdeführer gerne das Jugendzentrum in XXXX , spielt Fußball oder geht ins Fitnessstudio. Zukünftig möchte der Beschwerdeführer eine Deutschprüfung ablegen und einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

2.2.    Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation des Beschwerdeführers

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Der Beschwerdeführer wurde nicht von den Taliban aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Die Taliban suchten weder den Vater des Beschwerdeführers auf und brachen ihm das Bein, noch schossen die Taliban auf seinen Cousin. Auch der Beschwerdeführer selbst wurde nicht von den Taliban angeschossen. Die Taliban haben kein besonderes Interesse an der Person des Beschwerdeführers und wollten ihn nicht zwangsrekrutieren. Auch zukünftig droht dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Er ist daher im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan keinen Übergriffen bzw. Verfolgung durch die Taliban, etwa aufgrund einer ihm unterstellten politischen bzw. oppositionellen Gesinnung, ausgesetzt. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Baghlan) zählt zu den unruhigsten Provinzen Afghanistans. Es kommt häufig zu Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen, wobei die Taliban oft Sicherheitsposten der Regierungstruppen angreifen. In der Provinz werden Luftangriffe und Räumungsoperationen durchgeführt; es kommt auch zu Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand. Hauptursache für zivile Opfer sind Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Baghlan droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.

Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat zählten zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, die vom Konflikt relativ wenig betroffen sind. In Balkh hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen der abgelegenen Distrikte der Provinz verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch wenig betroffen und gilt nach wie vor als vergleichsweise sicher. Im Jahr 2019 kam es beinahe monatlich zu kleineren Anschlägen mit improvisierten Sprengkörpern, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif jedoch so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.

Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie z.B. Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, ist die Hauptstadt der Provinz – Herat (Stadt) – davon wenig betroffen. In Herat (Stadt) kam es in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Die Distrikte um die Stadt Herat stehen unter der Kontrolle der Regierung. Je weiter man sich von der Stadt Herat, die im Jänner 2019 als „sehr sicher“ galt, und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Herat (Stadt) gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als relativ sicher.

Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.

Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) droht diesem nicht die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat waren im Jahr 2018 von einer Dürre betroffen. Durch die sozioökonomischen Auswirkungen der derzeit bestehenden COVID-19-Pandemie und dem damit einhergehenden Anstieg der Lebensmittelpreise hat die Ernährungsunsicherheit inzwischen wieder ein ähnliches Niveau erreicht wie während dieser Dürre. In Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) sind Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung jedoch grundsätzlich gegeben. Der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) ist zwar aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus beschränkt, jedoch grundsätzlich vorhanden. In Krankenhäusern sind sogenannte „Fix-Teams“ stationiert, die verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort untersuchen und in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung stehen. In den Großstädten wurden einige der Regional- und Provinzkrankhäuser in Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt eingeschränkt sein. Gegenwärtig gibt es jedoch weder in Mazar-e Sharif, noch in Herat (Stadt) Ausgangssperren. Aktuell sind alle Grenzübergänge geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) werden aktuell international wie auch national angeflogen. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten sind derzeit nur für Geschäftsreisende geöffnet, wobei Hotels bzw. Teehäuser nicht genau nachfragen, weil sie Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können. Seit Februar 2021 sind COVID-19-Tests in Afghanistan leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhielten, diese durchzuführen. Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen; bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht. Mit Stand 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet.

Im Fall einer Rückführung des – volljährigen, gesunden und arbeitsfähigen – Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist davon auszugehen, dass er sich – wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten – eine Lebensgrundlage wird aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ein mit anderen dort lebenden Afghanen vergleichbares Leben ohne unbillige Härten führen können. Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann von XXXX Jahren, der an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet und (hinsichtlich COVID-19) nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten oder Bluthochdruck fällt. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut und verfügt über Berufserfahrung in der familieneigenen Landwirtschaft, als Taxifahrer sowie als Fabrikarbeiter. Zudem spricht er mit Paschtu eine weit verbreitete Sprache seines Herkunftsstaates muttersprachlich und verfügt zusätzlich über Grundkenntnisse der Sprache Dari. Der Beschwerdeführer verbrachte sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise im Frühsommer 2016 in Afghanistan und wurde dort im afghanischen Familienverband sozialisiert. Der Beschwerdeführer ist arbeits- und erwerbsfähig und hat keine Sorgepflichten in Afghanistan. Der Aufbau einer Existenzgrundlage in den Großstädten Mazar-e Sharif oder (Herat) Stadt ist ihm, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, möglich. Seine Existenz könnte der Beschwerdeführer – zumindest anfänglich – mit Hilfs und Gelegenheitsarbeiten sichern.

Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen, die der Beschwerdeführer in Anspruch nehmen könnte. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.

2.3.    Zur Lage im Herkunftsstaat

Die folgenden Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

?        Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 1.4.2021 (im Folgenden: LIB);

?        European Asylum Support Office (EASO): Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020 (im Folgenden: EASO);

https://easo.europa.eu/country-guidance-afghanistan-2020;

?        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018 (im Folgenden: UNHCR);

?        European Asylum Support Office (EASO): Country of Origin Information Report: Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, December 2017 (im Folgenden: EASO Individuals); https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports;

?        European Asylum Support Office (EASO): Bericht Afghanistan Netzwerke (Übersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), Stand Jänner 2018 (im Folgenden: EASO Netzwerke);

https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports;

?        Landinfo, Informationszentrum für Herkunftsländer: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne (Arbeitsübersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), 23.8.2017 (im Folgenden: Landinfo 1);

https://landinfo.no/asset/3590/1/3590_1.pdf;

?        Homepage der Word Health Organization (WKO), letzter Zugriff jeweils am 13.1.2021 (im Folgenden: WHO);

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19;

https://covid19.who.int/region/emro/country/af;

?        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen (Methoden; Netzwerke) [a-8282] vom 15.2.2013 (im Folgenden: ACCORD, Fähigkeit der Taliban);

?        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.4.2020 (im Folgenden: ACCORD Masar-e Sharif);

https://www.ecoi.net/de/dokument/2030099.html

?        ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.4.2020 (im Folgenden: ACCORD Herat);

https://www.ecoi.net/de/dokument/2030080.html

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel Politische Lage).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel Sicherheitsbehörden).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel Politische Lage).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer (LIB, Kapitel Politische Lage).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel Politische Lage). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen. Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (LIB, Kapitel Politische Lage).

COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (LIB, Kapitel COVID-19).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit (März 2021) nur für Geschäftsreisende geöffnet. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (LIB, Kapitel COVID-19).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht. Indien hat zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden (LIB, Kapitel COVID-19).

Allgemeine Wirtschaftslage

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum, was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (LIB, Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (LIB, Kapitel COVID-19). Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus. Eine Reihe von U.S.-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (LIB, Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft).

Armut und Lebensmittelunsicherheit:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, sind es in urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft, Unterkapitel Armut und Lebensmittelunsicherheit).

Nach Angaben der Vereinten Nationen lag die Zahl der Menschen, die von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, im Zeitraum von August bis Oktober 2020 bei etwa 36% der untersuchten Bevölkerung (LIB, Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft, Unterkapitel Armut und Lebensmittelunsicherheit). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert (LIB, Kapitel COVID-19).

In städtischen Gebieten werden die geringere Verfügbarkeit von Einkommensmöglichkeiten während des Winters, unterdurchschnittliche Rücküberweisungen und überdurchschnittliche Nahrungsmittelpreise wahrscheinlich den Zugang zu Nahrung und Einkommen für viele arme Haushalte einschränken, wobei während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 ohne Hilfe eine Bewertung mit IPC Stufe 3 ("Crisis") des von FEWS NET verwendeten fünfstufigen Klass

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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