Entscheidungsdatum
02.06.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W187 2188097-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkt I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 und 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
III. XXXX gemäß § 54 Abs 1 Z 2, § 58 Abs 2 iVm § 55 Abs 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt.
IV. Die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer an, traditionell verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Nangarhar geboren, afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und Moslem. Seine Ehefrau, seine Eltern, drei Schwestern und zwei Brüder hielten sich nach wie vor im Heimatort auf. Eine Schwester des Beschwerdeführers lebe in Österreich. Als Beweggrund für seine Ausreise gab der Beschwerdeführer an, der habe die Universität in der Stadt XXXX besucht und an einer Demonstration mitgewirkt. Bei dieser Demonstration seien weiße Flaggen, welche die Bedeutung „Taliban-Anhänger“ hätten, geschwenkt worden. Die Polizei habe daraufhin nach ihm gesucht. Der Beschwerdeführer habe auch nicht nach Hause gehen können, da dort die Taliban nach ihm gesucht hätten. Er habe Angst um sein Leben.
3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer eingangs an, der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams anzugehören. Seine Familie halte sich nach wie vor in Nangarhar im Distrikt XXXX auf. Sein Vater sei dort Inhaber eines Geschäfts und verkaufe Autoteile. In Österreich lebe die älteste Schwester des Beschwerdeführers, mit welcher sich der Beschwerdeführer ungefähr alle zwei Monate treffe. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, er habe ein Semester lang eine medizinische Privatuniversität in XXXX besucht. Ein Freund, der sich sehr für die Rechte der Studierenden eingesetzt habe, habe den Beschwerdeführer überredet, an einer Studentendemonstration teilzunehmen, die am XXXX (entspricht dem XXXX nach dem gregorianischen Kalender) stattgefunden habe. Der Organisator der Demonstration habe den Demonstranten Aufgaben zugeteilt und diese auf einer Liste vermerkt. Der Beschwerdeführer habe die Aufgabe gehabt, in der ersten Reihe zu stehen und zu schreien. 20 Minuten nach Beginn der Demonstration hätten sie gemerkt, dass sich Leute mit weißen Fahnen unter den Demonstranten befunden hätten. Als der Behörde dies aufgefallen sei, hätten Polizisten versucht, alle Demonstranten festzunehmen. Dem Beschwerdeführer sei die Flucht gelungen und er sei nach Hause gegangen. Der Organisator der Demonstration habe der Polizei die erstellte Liste mit den Namen der Teilnehmer an der Demonstration übergeben. Am zweiten Tag nach der Demonstration habe der Beschwerdeführer einen Anruf von seinem Freund erhalten, der ihm mitgeteilt habe, er solle nicht zur Universität kommen, da die Polizei nach ihm suche. Der Beschwerdeführer sei insgesamt drei Tage zu Hause geblieben. Am dritten Tag nach der Demonstration habe ihm sein Freund ein Schreiben bzw eine Ladung der Sicherheitsbehörde zu einem Gespräch gegeben, das ihm der Direktor der Universität übergeben habe. Der Beschwerdeführer habe daraufhin seinen Onkel angerufen, der ihm empfohlen habe, das Land zu verlassen. Der Beschwerdeführer befürchte, dass ihn die Polizei verdächtige, den Taliban anzugehören. Im Fall seiner Rückkehr befürchte er, inhaftiert zu werden. Weiter befürchte der Beschwerdeführer Verfolgung durch die Taliban. Diese hätten ihn einmal angehalten und sein Handy durchsucht. Dabei seien die Taliban auf Videos bzw. Lieder gestoßen und hätten seine SIM-Karte beschlagnahmt. Weiter hätten die Taliban dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er die Universität nicht mehr besuchen solle. Dennoch habe der Beschwerdeführer die Universität weiterhin heimlich besucht. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, von den Taliban als Ungläubiger angesehen zu werden. Der Beschwerdeführer legte im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme unter anderem die Ladung der Sicherheitsbehörde vor.
4. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer neuerlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und damit konfrontiert, dass die Demonstration laut vorgelegten Schreiben der afghanischen Sicherheitsbehörden am XXXX (entspricht dem XXXX nach dem gregorianischen Kalender) und damit zu einem Zeitpunkt, als sich der Beschwerdeführer bereits in Österreich aufgehalten habe, stattgefunden habe. Der Beschwerdeführer gab dazu an, dass es sein könne, dass der Regierung ein Fehler bei der Jahresangabe unterlaufen sei. Der Tag und der Monat würden stimmen. Auf Nachfrage, wie es dann sein könne, dass auch auf dem Stempel der Schule das Jahr XXXX ersichtlich sei, gab der Beschwerdeführer an, es könne sein, dass sein Freund das aus dem Jahr XXXX stammende Schreiben erst im Jahr XXXX geholt habe. Vielleicht habe der Direktor im Jahr XXXX unterschrieben, aber erst im Jahr XXXX gestempelt. Weiter wurde der Beschwerdeführer mit Unstimmigkeiten in seiner Erzählung hinsichtlich des Erhalts des Schreibens konfrontiert, woraufhin der Beschwerdeführer angab, seine Aussage habe nicht gestimmt. Er habe das Schreiben erstmals in Österreich gesehen.
5. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX , XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde unter Spruchpunkt VI. gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erzielt worden wäre.
7. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem verzichtete die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
8. Das Bundesverwaltungsgericht erteilte dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom XXXX einen Verbesserungsauftrag, da unklar sei, ob der Beschwerdeführer auch die Spruchpunkte III., V. und VI. des Bescheides anfechte. Eine Beschwerde habe gemäß § 9 Abs 1 Z 3 VwGVG die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt, zu enthalten. Es seien der Beschwerde jedoch keine den Spruchpunkten III., V. und VI. zuordenbare Gründe zu entnehmen. Der Beschwerdeführer werde daher aufgefordert, binnen zwei Wochen durch Abgabe eines ausdrücklichen die Spruchpunkte III., V. und VI. betreffenden Begehrens klarzustellen, ob und inwiefern er diese anfechte und gegebenenfalls auch die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit hinsichtlich dieser Spruchpunkte stützt, auszuführen.
9. Am XXXX langte eine Vollmachtbekanntgabe der BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH für den Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein.
10. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom XXXX wurde die gegenständliche Rechtssache der erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen.
11. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an, übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme.
12. Am XXXX langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers beim erkennenden Gericht ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Beschwerdeführer befinde sich seit mittlerweile fünfeinhalb Jahren in Österreich, sei sozial sehr aktiv und habe einen großen Freundeskreis. In Österreich lebe seine Schwester, die fünf zum Teil bereits erwachsene Kinder habe, mit der der Beschwerdeführer in ständigem Kontakt stehe und die er mindestens zweimal in der Woche treffe. Zu seinem ebenfalls in Österreich lebenden ältesten Cousin habe der Beschwerdeführer täglich Kontakt. Weiter habe der Beschwerdeführer ein enges Naheverhältnis zu einer Österreicherin, die er seit dreieinhalb Jahren kenne und die er als Patin bezeichne. Der Beschwerdeführer sei außerordentlich gut integriert. Eine Abschiebung stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in sein durch Art 8 EMRK geschütztes Recht auf Privat- und Familienleben dar.
13. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.
Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:
„[…]
Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführer: Nein.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX in der Stadt XXXX geboren. Gewohnt habe ich im Distrikt XXXX .
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführer: Ich spreche Paschto, Urdu und Deutsch. Lesen kann ich Paschto und Deutsch.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführer: Ich bin Paschtune, ich bin sunnitischer Moslem und verheiratet.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführer: Ich bin in XXXX geboren, gelebt habe ich aber bis zu meinem Schulabschluss in XXXX und danach bin ich nach XXXX gezogen und habe dort begonnen zu studieren.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführer: Im Heimatdorf haben wir in unserem eigenen Haus gelebt. Unser Dorf ist ca. 75 km vom Zentrum in XXXX entfernt. Nachdem ich die Schule fertiggemacht habe, bin ich nach XXXX gezogen dort habe ich mir ein Zimmer genommen. Ich habe mit der Universität begonnen.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?
Beschwerdeführer: Vormittags habe ich die Schule besucht und nachmittags habe ich im Geschäft meines Vaters mitgeholfen. Nachdem ich dann die Schule abgeschlossen habe, bin ich in die Stadt gezogen.
Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?
Beschwerdeführer: Ich habe 12 Jahre die Schule besucht.
Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführer: Meine Familie lebt in unserem Haus in XXXX
Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?
Beschwerdeführer: Nein, seit zweieinhalb oder drei Jahren habe ich keinen Kontakt zu meiner Familie, da es dort keine Telefonnetze gibt.
Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführer: Die meisten Verwandten leben im Heimatdorf und diejenigen die in der Stadt leben haben entweder kein Internet oder ich habe die Telefonnummern nicht.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführer (auf Deutsch): Ich bin seit mehr als XXXX Jahren in Österreich und ich habe hier A1 und A2 Deutschkurse besucht bis B1. Ich habe im XXXX beim „ XXXX “ die Vorbereitung für den Pflichtschulabschluss besucht. Wenn ich Asyl habe, möchte ich gerne eine Ausbildung als Krankenpfleger machen.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführer (auf Deutsch): Ja, ich habe Freunde. Meine Schwester wohnt seit ca. XXXX Jahren in Österreich. Frau XXXX , die hier Anwesende, ist wie meine Mutter, ich kenne sie seit XXXX Sie hilft mir bei vielen Sachen, bei der freiwilligen Arbeit oder wenn ich Geld brauche. Wenn ich Hilfe brauche, ist sie für mich da. Ich gehe mit ihrer Tochter ins Kino oder mit ihrem Freund. Wir spielen Fußball, aber jetzt geht es nicht wegen Corona. Ich habe einen Freund im XXXX . Er heißt XXXX ich kenne ihn seit vier Jahren. Er ist schon etwas älter. Wenn er Hilfe braucht wie zum Beispiel beim Einkaufen oder für die Wohnung zum Putzen, dann helfe ich ihm. Wir gehen auch gemeinsam Kaffee trinken oder spazieren.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführer (auf Deutsch): Vor Corona war ich im Fitnessstudio und habe Cricket und Fußball gespielt.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführer (auf Deutsch): Nein.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführer: Ich habe 12 Jahre die Schule in XXXX besucht. Meine Schule hieß „ XXXX Danach bin ich in die Stadt gezogen und habe medizinische Labordiagnostik studiert. Ich hatte bereits seit sechs Monaten studiert, dann habe ich eine Einladung von einem Freund, der Studienvertreter der Studenten von Nangarhar ist, zu einer Demonstration erhalten. Ich habe an dieser Demonstration teilgenommen. Um 8 Uhr in der Früh, hat die Demonstration begonnen und hat zwei Stunden gedauert. Bei der Demonstration haben sich mit der Zeit viele Leute angesammelt, darunter auch einige Taliban. Etwa nach 20 Minuten kamen diese Leute mit den Studenten, demonstrierten und haben dann plötzlich ihre Flaggen hochgehoben und haben mit den Flaggen der Taliban, die Demonstration begleitet. Unsere Demonstration wurde von der Polizei begleitet, als die Polizei auf die Demonstranten der Taliban aufmerksam wurde, wollten sie sofort die Demonstration auflösen. Es ist zu einem Tumult gekommen – es kam alles durcheinander. Jeder ist davongelaufen – einer in eine Richtung, der andere in die andere, auch ich bin in Richtung nach Hause gelaufen. Am nächsten Tag bin ich nicht auf die Universität gegangen, weil ich krank war, erst am nächsten Tag wollte ich auf die Universität gehen. Da hat mich mein Freund angerufen und hat gesagt, ich solle nicht auf die Universität kommen, da die Polizei nach mir sucht. Ich habe Angst gehabt und habe meinen Onkel angerufen und erzählte ihm was passiert ist. Der Onkel hat mir gesagt, es ist besser, wenn ich das Land verlasse. Mein Onkel sagte mir, dass ich dort nicht länger bleiben kann, deswegen bin ich dann nach Kabul gereist und bin dann Richtung Pakistan aufgebrochen und habe so Afghanistan verlassen.
Richter: Warum haben Sie Ihre Frau nicht mitgenommen?
Beschwerdeführer: Vor diesem Vorfall, war ich einmal Richtung meinem Heimatdorf unterwegs. Auf dem Weg wurde unser Auto von den Taliban angehalten. Die Taliban haben uns alle durchsucht und kontrolliert, auch mein Handy haben sie genommen. Auf meinem Handy hatte ich einige Lieder gespeichert. Sie haben mir mein Handy weggenommen. Ich bekam meine SIM-Karte zurück, das Handy nicht mehr. Sie sagten mir, dass ich meine Uni nicht weiter besuchen soll. Ich bin dann nach Hause gegangen und habe mich drei Tage lang zu Hause versteckt und bin dann heimlich wieder in die Stadt zurückgekommen. Aus diesem Grund war es mir nicht möglich in das Heimatdorf zu gehen und meine Frau mitzunehmen und gemeinsam mit ihr nach Kabul zu reisen.
Richter: Wo und wie lebt Ihre Frau jetzt?
Beschwerdeführer: Sie lebt in XXXX , ich weiß nicht wie es ihr geht. Ich habe seit drei Jahren keinen Kontakt zu ihr.
Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?
Beschwerdeführer: Die Polizei wollte mich festnehmen. Sie ist davon ausgegangen, dass diese Demonstration von den Taliban organisiert wurde und nicht von den Studenten. Die Polizei wollte mich festnehmen. Auf der Universität in Nangarhar gibt es Vertreter einiger Gruppierungen, es gibt Vertreter der Taliban die für die Erschaffung eines Emirates sind, diese werden als „Emarati“ bezeichnet. Es gibt aber auch Vertreter anderer politischen Gruppierungen. Ich hatte Angst vor der Festnahme der Polizei. Ich stamme aus der Region XXXX , diese Region hat einen sehr schlechten Ruf bekommen, denn seit 12 Jahren hat die Regierung keinerlei Kontrolle über diese Region. Da ich aus der Region XXXX stamme, hatte ich die große Angst, dass die Polizei mich entweder unter den Namen der Taliban oder Daesh festnehmen wird. Aus diesem Grund habe ich Afghanistan verlassen.
Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?
Beschwerdeführer: Illegal.
Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?
Beschwerdeführer: Mein Onkel väterlicherseits hat die Kosten übernommen. Er hat dann bestimmt mit meinem Vater abgerechnet.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführer: Ich kann nicht nach Afghanistan zurückkehren, denn ich werde von den Behörden festgenommen. Auch in mein Heimatdorf kann ich nicht zurückkehren, denn dort werden mich nicht die Taliban in Ruhe lassen. Die Taliban haben mir schon zuvor gesagt, dass ich nicht mehr die Universität besuchen soll. Trotz dieser Aufforderung bin ich zurück in die Stadt gegangen und habe weiterstudiert. Die Taliban in der Heimatregion glauben, wenn man in der Stadt studiert, dass man von den Behörden trainiert wird. Deswegen lassen die Taliban solche Leute nicht mehr am Leben. Die Taliban verdächtigen solche Leute als Mitarbeiter der Behörden oder sogar als Spione.
Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?
Beschwerdeführer: Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wird man mich sofort am Flughafen festnehmen. Die Behörden haben meine detaillierten Daten. Die Behörden werden mich bestimmt fragen, warum ich überhaupt geflüchtet bin und wo ich mich die letzten XXXX Jahre aufgehalten habe. Meine damalige Angst vor den Behörden, hat jetzt ein großes Problem für mich verursacht. Ins Heimatdorf kann ich so und so nicht mehr zurück. Wenn man erfährt, dass ich in Europa war, wird man mich als Ungläubigen abstempeln oder sie werden mich fragen, wo ich die letzten XXXX Jahre verbracht habe oder ob mich die Regierung irgendwo versteckt hat. Die Taliban werden bestimmt annehmen, dass ich von den Behörden als Spion in die Heimatregion zurückgeschickt worden bin. Ich kann weder nach Herat oder nach Mazar e-Sharif zurück, da ich kein Dari spreche. Ich habe dort keine Unterkunft, es gibt keine Arbeit und kein Leben. Wegen Corona gibt es dort so und so jetzt überhaupt keine Arbeit.
Rechtsvertreter: Sie haben erwähnt, dass Sie eine Schwester haben?
Beschwerdeführer: Ja, ich habe eine Schwester. Sie wohnt im XXXX . Ich habe einen guten Kontakt mit ihr. Zweimal oder drei Mal besuche ich sie in der Woche. Ihre Kinder kommen zu uns. Ihr ältestes Kind kommt jeden Tag zu uns, er arbeitet am XXXX als Mechaniker Ich wohne im XXXX . Wenn ich im XXXX bin spiele ich mit meinem Neffen, er ist XXXX oder XXXX Jahre alt. Meine Schwester hilft mir auch, egal bei was. Wenn ich Geld brauche oder so.
Rechtsvertreter: Sind Sie strenggläubig? Trinken Sie Alkohol?
Beschwerdeführer: Nein, ich bin nicht so streng. Wenn ich fasten will, dann faste ich. Wenn nicht dann nicht. Alkohol trinke ich. Wenn die Fastenzeit Ramadan ist, dann versuche ich das Gebet zu verrichten, sonst verrichte ich das Gebet nicht. Bislang war ich auch nicht in der Moschee. Mit meiner Wahlmutter habe ich auch Weihnachten gefeiert und ich war auch öfters mit meiner Wahlmutter bei österreichischen Hochzeiten und Feierlichkeiten.
[…]
Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Beschwerdeführer: Ja.“
Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers legte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung Kurszertifikate A2, eine Kursbesuchsbestätigung B1 und ein Konvolut an Empfehlungsschreiben vor. Diese Unterlagen wurden in Kopie als Beilage ./A zum Akt genommen.
14. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde mit Schreiben vom 11.5.2021 das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 1.4.2021) und die aktuellen EASO-Leitlinien zu Afghanistan (EASO Country Guidance) vom Dezember 2020 zur Stellungnahme.
15. Der Beschwerdeführer äußerte sich dazu mit Schriftsatz vom 31.5.2021.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, welche er sowohl lesen als auch schreiben kann. Weiter spricht der Beschwerdeführer Urdu und Deutsch zumindest auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Nangarhar in der Provinzhauptstadt XXXX geboren. Kurz nach seiner Geburt übersiedelte die Familie des Beschwerdeführers in den Distrikt XXXX in ein Dorf, wo der Beschwerdeführer im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus mit seinen Eltern, vier Schwestern und zwei Brüdern aufwuchs. Der Vater des Beschwerdeführers sorgte in Afghanistan für den Unterhalt der Familie. Er besaß ein eigenes Geschäft in XXXX und verkaufte Autoteile. Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX zwölf Jahre die Schule und schloss diese mit einer Reifeprüfung ab. Nebenbei half der Beschwerdeführer unterstützte der Beschwerdeführer seinen Vater nachmittags in dessen Geschäft. Nach seinem Schulabschluss übersiedelte der Beschwerdeführer in die Provinzhauptstadt XXXX und studierte dort ein Semester medizinische Labordiagnostik an der Universität bis zu seiner Ausreise Richtung Europa. In XXXX lebte der Beschwerdeführer in einem angemieteten Zimmer.
Die Eltern des Beschwerdeführers, drei Schwestern, zwei Brüder und die Ehefrau des Beschwerdeführers leben nach wie vor im Heimatdorf im Distrikt XXXX Provinz Nangarhar. Weiter lebt ein Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers in XXXX und ein weiterer Onkel väterlicherseits in XXXX . Zwei Tanten mütterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits leben ebenso in der Provinz Nangarhar. Die finanzielle Situation der Familie des Beschwerdeführers ist durchschnittlich. Derzeit hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan. In Österreich lebt eine Schwester des Beschwerdeführers, XXXX , geboren am XXXX , welche im Bundesgebiet asylberechtigt ist.
1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer gelangte im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Seither hält er sich durchgehend im Bundesgebiet auf.
Der Beschwerdeführer wohnt in einer Privatwohnung in XXXX . Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.
Seit seiner Einreise nahm der Beschwerdeführer an mehreren Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskursen teil. Dabei zeigte er besonderes Interesse und Engagement beim Erlernen der deutschen Sprache und absolvierte im XXXX eine Deutschprüfung auf Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen mit der Beurteilung „gut bestanden“. Im XXXX und XXXX bestand der Beschwerdeführer jeweils insgesamt drei Mal die Deutschprüfung auf Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Zuletzt legte er im XXXX erfolgreich eine Deutschprüfung auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab. Der Beschwerdeführer spricht bereits sehr gut Deutsch und ist in der Lage, Gespräche in fließendem Deutsch zu führen.
Seit XXXX nimmt der Beschwerdeführer am Brückenkurs der Bildungsinitiative XXXX des Vereins „ XXXX “ teil, welcher zum Ziel hat, die Teilnehmer auf die Aufnahmeprüfung für einen Pflichtschulabschlusskurs vorzubereiten. Zukünftig möchte der Beschwerdeführer einen Pflichtschulabschlusskurs besuchen, um seinen Pflichtschulabschluss in Österreich nachzuholen. Anschließend möchte der Beschwerdeführer eine Ausbildung zum Krankenpfleger machen.
In seiner Freizeit zeigt sich der Beschwerdeführer sehr um seine Integration bemüht und an Sport und Kultur interessiert. Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über einige soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – und ist bereits gut in die österreichische Gesellschaft integriert. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner in Österreich lebenden Schwester, XXXX , geboren am XXXX , und deren Kindern und trifft sich zwei bis drei Mal wöchentlich mit ihr. Zu seinen wichtigsten sozialen Kontakten in Österreich zählt XXXX , welche der Beschwerdeführer im XXXX kennenlernte und welche der Beschwerdeführer als seine „Wahlmutter“ bezeichnet. XXXX unterstützt den Beschwerdeführer bei seinem Leben in Österreich beratend und auch finanziell. Der Beschwerdeführer zeigt sich der österreichischen Kultur und Bräuchen gegenüber aufgeschlossen, feierte mit der Familie von XXXX Weihnachten und begleitete sie zu Hochzeiten und weiteren Feierlichkeiten. Gemeinsam mit der Tochter von XXXX , XXXX , bewarb sich der Beschwerdeführer um ehrenamtliche Tätigkeiten, erhielt jedoch keine Zusage. Dennoch zeigt der Beschwerdeführer großes soziales Engagement und unterstützt etwa Herrn XXXX , geboren am XXXX , insbesondere seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie, indem er die Einkäufe übernimmt und ihn mit Lebensmitteln versorgt. Weiter hilft der Beschwerdeführer Herrn XXXX auch beim Putzen der Wohnung und geht regelmäßig mit ihm spazieren. Einem weiteren Freund half der Beschwerdeführer beim Renovieren der Wohnung. Das soziale Umfeld des Beschwerdeführers beschreibt ihn durchwegs als freundlich, hilfsbereit, zuverlässig, respektvoll, motiviert und insgesamt gut integriert. In seiner Freizeit trifft sich der Beschwerdeführer gerne mit Freunden, spielt Fußball oder geht ins Fitnessstudio.
Unter Berücksichtigung der Persönlichkeitskonstellation des Beschwerdeführers, dessen Lebens- und Ausbildungsverlaufs seit seiner Einreise und seinen Zukunftsperspektiven ist von einer positiven Prognose auszugehen.
In Österreich lebt die asylberechtigte Schwester des Beschwerdeführers, XXXX , geboren am XXXX , welche fünf zum Teil bereits erwachsene Kinder hat. Der Beschwerdeführer trifft sich zwei bis drei Mal wöchentlich mit seiner Schwester. Seinen ältesten (bereits volljährigen) Neffen sieht der Beschwerdeführer fast täglich. Der Beschwerdeführer hat ein gutes freundschaftliches Verhältnis zu seiner Schwester und deren Kindern. Er lebt jedoch nicht im gemeinsamen Haushalt mit seiner Schwester und deren Familie. Die Schwester unterstützt den Beschwerdeführer ab und zu finanziell. Der Beschwerdeführer bezieht jedoch Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist daher nicht auf die Unterstützung seiner Schwester und deren Familie angewiesen. Es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Der Kontakt des Beschwerdeführers zu seiner Schwester und deren Familie geht nicht über den üblichen Kontakt zwischen einer volljährigen Person und deren volljähriger Schwester samt deren Familie ohne gemeinsamen Wohnsitz hinaus.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Patin, XXXX , welche er als „Wahlmutter“ bezeichnet. Sie unterstützt den Beschwerdeführer bei seinem Leben in Österreich beratend und auch finanziell, wenn er Hilfe braucht. Der Beschwerdeführer lebt mit XXXX nicht im gemeinsamen Haushalt. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht auf die (finanzielle) Unterstützung seiner Patin angewiesen. Es besteht kein (gegenseitiges) Abhängigkeitsverhältnis des Beschwerdeführers zu XXXX .
Abgesehen von seiner Schwester und deren Familie leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers in Österreich. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.
1.3 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan
Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch die afghanischen Sicherheitskräfte bzw. die Taliban wegen (unterstellter) politischer Gesinnung, mit Verfolgung als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland sowie mit der allgemeinen Sicherheitslage.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.
Der Beschwerdeführer nahm nicht an einer Demonstration von Studierenden teil. Es mischten sich daher auch keine Anhänger der Taliban unter die Demonstrierenden, die die weiße Flagge der Taliban schwenkten. Die afghanische Polizei versuchte nicht, sämtliche Demonstrierenden festzunehmen. Insbesondere wird der Beschwerdeführer durch die afghanischen Sicherheitskräfte nicht verdächtigt, den Taliban anzugehören. Er wird daher nicht von der afghanischen Regierung, etwa wegen unterstellter Unterstützung regierungsfeindlicher Gruppierungen, gesucht und hat insbesondere auch keine Ladung zu einer Einvernahme erhalten. Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan nicht aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung. Dem Beschwerdeführer drohen im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan weder Übergriffe, noch Verfolgung durch den afghanischen Staat oder sonstige Akteure etwa aufgrund unterstellter politischer (oppositioneller) Gesinnung. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer wurde auch nicht von den Taliban angehalten und sein Handy nicht kontrolliert. Die Taliban beschlagnahmten weder die SIM-Karte, noch das Handy des Beschwerdeführers und forderten ihn nicht auf, seine Ausbildung zu beenden. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer keine Übergriffe bzw. Verfolgung durch die Taliban bis hin zu seiner Tötung etwa aufgrund unterstellter politischer (oppositioneller) Gesinnung.
Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.
Dem Beschwerdeführer droht im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch keine asylrelevante Verfolgung durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure wegen eines (unterstellten) Abfalls vom Glauben (Apostasie).
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.
Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Nangarhar) zählt zu den volatilen Provinzen im Osten Afghanistans. Nangarhar galt lange Zeit als eine der Hochburgen des Islamischen Staats Khorosan Provinz (ISKP) in Afghanistan. Der ISKP musste die Kontrolle von Gebieten in Nangarhar nach Niederlagen im November 2019 aufgeben, verfügt aber nach wie vor über eine Präsenz im Osten Afghanistans. Die Taliban dehnten ihre Kontrolle in den letzten Monaten auf die abgelegenen, gebirgigen Gebiete der Provinz aus. Die Regierungstruppen kontrollieren lediglich zehn der 22 Distrikte Nangarhars fast vollständig. Neben den Taliban ist als al Qauida in Nangarhar versteckt aktiv. Auch pakistanische Gruppierungen von Aufständischen sind in Nangarhar unter der Schirmherrschaft der Taliban präsent. In der Provinz werden Luftangriffe durchgeführt; es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen. Hauptursache für zivile Opfer sind Selbstmordanschläge, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und Bodenkämpfen.
Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Nangarhar droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.
Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Provinzen Balkh und Herat zählten zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, die vom Konflikt relativ wenig betroffen sind. In Balkh hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen der abgelegenen Distrikte der Provinz verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch wenig betroffen und gilt nach wie vor als vergleichsweise sicher. Im Jahr 2019 kam es beinahe monatlich zu kleineren Anschlägen mit improvisierten Sprengkörpern, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif jedoch so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.
Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie zB Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, ist die Hauptstadt der Provinz – Herat (Stadt) – davon wenig betroffen. In Herat (Stadt) kam es in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Die Distrikte um die Stadt Herat stehen unter der Kontrolle der Regierung. Je weiter man sich von der Stadt Herat, die im Jänner 2019 als „sehr sicher“ galt, und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Herat (Stadt) gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als relativ sicher.
Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.
Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) droht diesem nicht die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Provinzen Balkh und Herat waren im Jahr 2018 von einer Dürre betroffen. Durch die sozioökonomischen Auswirkungen der derzeit bestehenden COVID-19-Pandemie und dem damit einhergehenden Anstieg der Lebensmittelpreise hat die Ernährungsunsicherheit inzwischen wieder ein ähnliches Niveau erreicht wie während dieser Dürre. In Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) sind Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Trinkwasser und medizinische Versorgung jedoch grundsätzlich gegeben. Der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) ist zwar aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus beschränkt, jedoch grundsätzlich vorhanden. In Krankenhäusern sind sogenannte „Fix-Teams“ stationiert, die verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort untersuchen und in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung stehen. In den Großstädten wurden einige der Regional- und Provinzkrankhäuser in Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt eingeschränkt sein. Gegenwärtig gibt es jedoch weder in Mazar-e Sharif, noch in Herat (Stadt) Ausgangssperren. Aktuell sind alle Grenzübergänge geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) werden aktuell interanational wie auch national angeflogen. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten sind derzeit nur für Geschäftsreisende geöffnet, wobei Hotels und Teehäuser nicht genau nachfragen, weil sie Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können. Seit Februar 2021 sind COVID-19-Tests in Afghanistan leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhielten, diese durchzuführen. Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen; bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht. Mit Stand 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet.
Im Fall einer Rückführung des – volljährigen, gesunden und arbeitsfähigen – Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist davon auszugehen, dass er sich – wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten – eine Lebensgrundlage wird aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ein mit anderen dort lebenden Afghanen vergleichbares Leben ohne unbillige Härten führen können. Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann von XXXX Jahren, der an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet und (hinsichtlich COVID-19) nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten oder Bluthochdruck fällt. Der Beschwerdeführer ist gesund; sein Gesundheitszustand steht einer Rückkehr nach Afghanistan daher nicht entgegen. Der Beschwerdeführer ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut. Er verfügt über mehrjährige Berufserfahrung als Verkäufer von Autoteilen im Betrieb seines Vaters, sowie über eine zwölfjährige Schulbildung in Afghanistan. Weiter besuchte er ein Semester lang eine medizinische Privatuniversität. Der Beschwerdeführer spricht zudem mit Paschtu eine Sprache seines Herkunftsstaates muttersprachlich. Er verbrachte sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise im XXXX in Afghanistan und wurde dort im afghanischen Familienverband sozialisiert. Der Beschwerdeführer ist arbeits- und erwerbsfähig; seine Ehefrau, mit der er traditionell verheiratet ist, wird von ihrer Familie versorgt. Der Beschwerdeführer hat daher keine Sorgepflichten in Afghanistan. Der Aufbau einer Existenzgrundlage in den Großstädten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist ihm, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, möglich. Seine Existenz könnte der Beschwerdeführer – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern.
Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen, die der Beschwerdeführer in Anspruch nehmen könnte. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:
1.4.1 Staatendokumentation (Stand 1.4.2021, außer wenn anders angegeben)
1.4.1.1 COVID-19
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).
Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese – wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert – diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele