TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/15 W256 2163890-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.06.2021
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Entscheidungsdatum

15.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W256 2163890-1/67E

W256 2191122-1/44E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Caroline Kimm als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1 XXXX , StA. Türkei und Syrien und 2. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Mag. Julia Kolda, Rechtsanwältin in 4400 Steyr, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1. vom 21. Juni 2017, Zl. XXXX und 2. vom 21. Februar 2018, Zl. XXXX , berichtigt durch den Bescheid vom 9. März 2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A) Die Beschwerden werden hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. der angefochtenen Bescheide sowie hinsichtlich der darin erfolgten Nichterteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ als unbegründet abgewiesen.

B) Im Übrigen wird den Beschwerden stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs 2 und 3 BFA-VG eine die Beschwerdeführer betreffende Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

C) Den Beschwerdeführern wird jeweils gemäß § 58 Abs 2 iVm § 54 Abs 1 Z 2 und Abs 2 iVm § 55 Abs 1 und 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

D) Der Spruchpunkt III. 2. und 3. Satz des angefochtenen Bescheids vom 21. Juni 2017, Zl. XXXX sowie die Spruchpunkte IV. bis VI. des Bescheids vom 21. Februar 2018, XXXX , berichtigt durch den Bescheid vom 9. März 2018, Zl. XXXX , werden ersatzlos behoben.

E) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer, ein türkischer und syrischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen zwei minderjährigen Kindern in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005).

Am 15. September 2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers statt. Darin gab er an, aus Syrien zu stammen, syrischer Staatsbürger, Moslem und Kurde zu sein. Neben seiner Muttersprache Kurdisch spreche er auch Arabisch. Er sei in XXXX geboren und dort zur Schule gegangen. Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte er (wortwörtlich wiedergegeben) Folgendes an: „Wir haben Syrien 2014 wegen dem Krieg verlassen. Wir haben uns in der Stadt XXXX aufgehalten, dort haben Kampfhandlungen stattgefunden. In XXXX hatten wir eine Wohnung und ein Geschäft, das Geschäft wurde zerstört, die Wohnung wurde an mir nicht bekannte Personen weitergegeben. Wir haben Angst um unsere Kinder, deshalb sind wir in die Türkei geflüchtet. Wir haben die Türkei verlassen, da man dort als Syrer nicht leben kann, es gibt dort keine Arbeit für uns. Weitere Gründe für meinen Anspruch auf Asyl kann ich nicht benennen.“

Am 30. August 2016 wurde der Erstbeschwerdeführer durch ein Organ der belangten Behörde einvernommen. Darin führte er erneut aus, syrischer Staatsangehöriger zu sein. Er habe bis zu seiner Ausreise in die Türkei im Jahr 2012 in der eigenen Landwirtschaft gearbeitet und nebenbei ein Geschäft für Fotografie und Filme geführt. Seine Ehefrau, mit der er seit 2009 verheiratet sei, sei seine Cousine und im selben Dorf wie er aufgewachsen. Er habe mit seiner Ehefrau zwei Töchter, wobei seine ältere Tochter noch in Syrien geboren worden sei. Die Mutter des Erstbeschwerdeführers lebe seit zwei Jahren in der Türkei und stehe er mit ihr auch in Kontakt. Zu seinem Vater habe er keinen Kontakt mehr. Nachgefragt gab er an, von Mai 2013 bis September 2015 in der Türkei gelebt zu haben. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der Erstbeschwerdeführer (wortwörtlich wiedergegeben) u.a. Folgendes an: „VP: Es herrschte Krieg in Syrien und die kurdischen PYD haben Druck auf uns ausgeübt, weil wir nicht Mitglied ihrer Partei waren. Sie haben einen Cousin von mir getötet und wollten einfach die jungen Männer und auch die jungen Frauen für ihren Militärdienst mitnehmen. Sie haben uns auch unser Grundstück für die Landwirtschaft weggenommen. LA: Ist das Ihr einziger Fluchtgrund? VP: Ja.“ Den regulären Militärdienst habe er von 1998 bis 2000 für die syrische Armee geleistet. Ende 2011 sei sein Name auf der Liste für den Reservemilitärdienst gestanden. Die Behörden hätten ihn nicht gefunden, weil er sich versteckt habe. Übergriffe gegen seine Person oder gegen seine Familie wurden vom Erstbeschwerdeführer dezidiert verneint. In der Türkei habe er aufgrund der schwierigen Lage für Syrer nicht bleiben können. Sie hätten keine Arbeit gefunden und seien seine Kinder beschimpft worden. Probleme aufgrund seiner Volksgruppen-, und Religionszugehörigkeit schloss der Erstbeschwerdeführer auf Nachfrage aus. Ebenso schloss er eine politische Tätigkeit oder Probleme mit staatlichen Behörden aus.

Am 22. August 2016 sowie am 11. November 2016 langten bei der belangten Behörde z.T. anonyme Hinweise ein, dass es sich bei dem Erstbeschwerdeführer um einen türkischen und syrischen Staatsangehörigen handle.

Am 2. März 2017 wurde der Erstbeschwerdeführer erneut niederschriftlich einvernommen. Auf Vorhalt, dass die türkische Botschaft seine türkische Staatsangehörigkeit bestätigt habe, beharrte der Erstbeschwerdeführer darauf, aus XXXX zu stammen und keine türkische Staatsangehörigkeit zu haben.

Am 30. März 2017 erfolgte eine Urkundenvorlage von u.a. Teilnahmebestätigungen von Deutschkursen.

Mit Schreiben vom 19. April 2017 bestätigte das türkische Generalkonsulat in XXXX , dass der Erstbeschwerdeführer sowie seine Frau und auch die Kinder die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Seine Frau und seine Kinder seien in der Türkei geboren worden und würden diese die türkische Staatsbürgerschaft von Geburt an besitzen, der Erstbeschwerdeführer habe sie seit XXXX 2012.

Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2017 wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, vom 7. Februar 2017, letzte Kurzinformation vom 27. April 2017 mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme hierzu sowie zur Bekanntgabe etwaiger Fluchtgründe übermittelt. Dazu langte keine Stellungnahme ein.

Mit Bescheid vom 21. Juni 2017 wies die belangte Behörde u.a. den Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III 1. Satz), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III. 2. Satz) und stellte fest, dass die Abschiebung des Erstbeschwerdeführers in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt III. 3 Satz). Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Erstbeschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft habe machen können. Eine persönliche Verfolgung in Syrien sei aus seinen Erzählungen nicht hervorgekommen, vielmehr hätten die allgemeinen Kriegsumstände, die verschiedensten Gruppierungen dazu bewegt, Personen für deren Truppen zu rekrutieren. Der Erstbeschwerdeführer sei aber weder bedroht, noch körperlich angegriffen worden. Da er seit 2012 auch die türkische Staatsangehörigkeit besitze und er sich in den letzten Jahren in der Türkei aufgehalten habe, könne nicht davon ausgegangen werden, dass er zum syrischen Reservemilitärdienst einberufen werden könnte. Sämtliche von ihm angeführten Fluchtgründe Syrien betreffend seien mit einem weiteren Aufenthalt seiner Familie in der Türkei hinfällig. Die in Bezug auf die Türkei vorgebrachten Fluchtgründe befand die belangte Behörde ebenfalls für nicht glaubhaft, weil die gesamte Familie die türkische Staatsbürgerschaft besitze und deshalb nicht glaubhaft sei, dass seine Kinder aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit beschimpft worden seien. Der Erstbeschwerdeführer habe die Türkei lediglich zur Verbesserung seiner finanziellen Situation verlassen. Eine generell lebensbedrohliche Situation in seiner Heimat sei nicht bekannt. Bei Bedarf an Unterstützungsleistungen könnten staatliche als auch private Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus verfüge er in der Türkei über Angehörige in Form seiner Mutter, was eine ausreichend gute Ausgangslage für existenzbegründende Maßnahmen darstelle.

In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde u.a. ausgeführt, dass es dem Erstbeschwerdeführer selbst als türkischem Staatsangehörigen und als Kurde nicht möglich sei, in das Regime Erdogans zurückzukehren, was im angefochtenen Bescheid überhaupt nicht berücksichtigt worden sei. Aufgrund der massiven Repressionen des Erdogan Regimes gegen die kurdische Minderheit und der militärischen Operationen im andauernden türkisch-kurdischen Konflikt sei der Erstbeschwerdeführer im Falle einer Abschiebung in die Türkei der Gefahr ethnischer Verfolgung ausgesetzt, was die belangte Behörde nicht einmal rudimentär untersucht habe. Die politische Situation und die Lage der Menschenrechte sei für Kurden äußerst bedrohlich. Weiters wurde auf die gute Integration in Österreich hingewiesen. U.a. wurde der Antrag gestellt, einen länderkundigen Sachverständigen zu beauftragen, sich mit der aktuellen Situation in Syrien bzw in der Türkei zu befassen und zu recherchieren, ob die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers der Wahrheit entsprechen.

Die belangte Behörde legte die Beschwerde des Erstbeschwerdeführers samt dem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.

Der Erstbeschwerdeführer stellte am 9. Februar 2018 als gesetzlicher Vertreter für seine am XXXX in Österreich geborene Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin einen Antrag auf Gewährung desselben Schutzes nach § 34 AslyG 2005.

Mit Bescheid vom 21. Februar 2018, berichtigt mit Bescheid vom 9. März 2018 wies die belangte Behörde den Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz u.a. ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung der Zweitbeschwerdeführerin in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.) und eine Frist zur freiwilligen Ausreise nicht bestehe (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Zweitbeschwerdeführerin – mangels Vorbringens eigener Fluchtgründe – keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft habe machen können.

In der dagegen erhobenen Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin wurde im Wesentlichen auf das Vorbringen u.a. des Erstbeschwerdeführers verwiesen.

In weiterer Folge wurden dem Bundesverwaltungsgericht von den Beschwerdeführern zahlreiche Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vorgelegt.

Mit Schreiben vom 5. Juni 2018 wurde ein Unterstützungsschreiben von XXXX vorgelegt.

Mit Schreiben vom 16. Juni 2018 wurde ein Unterstützungsschreiben des Bürgermeisters von XXXX vorgelegt.

Mit Schreiben vom 6. Juli 2018 wurde ein Unterstützungsbrief der Lehrerschaft der Volksschule XXXX vorgelegt.

Mit Schreiben vom 12. Juli 2018 langte ein Unterstützungsschreiben der Deutschlehrerin des Erstbeschwerdeführers ein.

Mit am 2. August 2018 einlangendem Schreiben wurde von der Freiwilligen Feuerwehr XXXX ein Unterstützungsschreiben vorgelegt.

Mit Schreiben vom 19. November 2018 wurde ein Unterstützungsschreiben der Dorfgemeinschaft XXXX vorgelegt.

Über Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichts wurden mit am 4. März 2019 einlangendem Schreiben u.a. folgende Unterlagen vorgelegt:

?        Der Bescheid des Bruders des Erstbeschwerdeführers, XXXX , mit dem diesem der Status des Asylberechtigten verliehen wurde.

?        Einstellungszusage XXXX ;

?        Unterstützungsschreiben der Gemeinde XXXX vom 19. November 2018;

?        Unterstützungserklärung der XXXX vom 6. Juli 2018;

?        Unterstützungserklärung XXXX vom 5. Juni 2018;

?        Zeitungsbericht der XXXX vom XXXX die Beschwerdeführer betreffend;

?        Referenzschreiben der Freiwilligen Feuerwehr und Feuerwehrausweis sowie ein Foto von einem Einsatz mit dem Erstbeschwerdeführer;

?        Zertifikate und Bestätigungen der Sprachintegration;

Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11. März 2019 wurden die Beschwerden der Beschwerdeführer als unbegründet abgewiesen und erfolgte dazu über Antrag der Beschwerdeführer eine schriftliche Ausfertigung am 17. Mai 2019, zu den Zahlen L518 2163890-1/33E und L 518 2191122-1/13E.

Dagegen wurde zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) erhoben.

Mit Beschluss des VfGH vom 23. Oktober 2019, E 1358-1359/2019-9, wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt und mit Beschluss des VfGH vom 24. Oktober 2019, E 1358-1359/2019-11, dem Verwaltungsgerichtshof (VwGH) zur Entscheidung abgetreten.

Daraufhin erhoben die Beschwerdeführer gegen das am 11. März 2019 mündliche verkündete und am 17. Mai 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts mit Schriftsatz vom 1. November 2019 eine außerordentliche Revision an den VwGH.

Mit Erkenntnis des VwGH vom 3. März 2020, Ra 2019/01/0046 bis 0047-14, wurde das am 11. März 2019 mündliche verkündete und am 17. Mai 2019 schriftlich ergangene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L518 2163890-1/33E und L 518 2191122-1/13E wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben. Aufgrund der Doppelstaatsbürgerschaft des Erstbeschwerdeführers falle die Beschwerde der Beschwerdeführer laut Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts in die Zuweisungsgruppe „AFR- W3“ (Asyl- und Fremdenrecht Syrien), für welche die Gerichtsabteilung L518 nicht zuständig gewesen sei.

Daraufhin erklärte sich die Gerichtsabteilung L518 mit Aktenvermerk vom 17. April 2020 für die Behandlung der vorliegenden Beschwerde als unzuständig und wurde diese daraufhin der Gerichtsabteilung W256 zugeteilt.

Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 2021 wurde den Beschwerdeführern die Gelegenheit eingeräumt, aktuelle Angaben zu ihren Fluchtgründen und zu ihrem Leben in Österreich zu machen. Gleichzeitig wurde ihnen und auch der belangten Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei vom 17. März 2021 (im Folgenden: LIB Türkei 2021) zum Parteiengehör übermittelt.

In der darauf erstatteten Stellungnahme der Beschwerdeführer vom 27. April 2021 wurde u.a. darauf hingewiesen, dass das übermittelte LIB Türkei 2021 keine Hinweise zur Situation von kurdischen Doppelstaatsbürger/innen enthalte. Auch fänden sich darin keine Ermittlungsergebnisse zu Syrien. Bei den Beschwerdeführern handle es sich um Angehörige der kurdischen Minderheit, welche in der Türkei offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt seien. Unter einem wurde ein Konvolut an aktuellen Empfehlungsschreiben, Zeugnissen und Bestätigungen, darunter eine Anmeldung für die ÖIF-Integrationsprüfung B1 am XXXX vorgelegt, welche die außergewöhnliche Integration der Beschwerdeführer und ihrer Familie in Österreich belegen würde. Dabei wurde insbesondere auf die Einstellungszusage der Firma XXXX sowie auf das Schreiben des Bürgermeisters hingewiesen.

Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde den Parteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 2. April 2021 (im Folgenden: LIB Syrien 2021) zum Parteiengehör übermittelt.

Mit Schreiben vom 25. Mai 2021 wurde der Erstbeschwerdeführer u.a. aufgefordert, bekanntzugeben, ob er die ÖIF-Integrationsprüfung B1 erfolgreich bestanden habe und dies bejahendenfalls anhand geeigneter Nachweise zu belegen. Auch wurde er aufgefordert, sonstige Nachweise zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG oder zur Ausübung einer erlaubten Erwerbstätigkeit mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze iSd § 5 Abs 2 ASVG erreicht wird, vorzulegen.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde durch die erkennende Richterin in der gegenständlichen Rechtssache am 28. Mai 2021 eine öffentlich mündliche Verhandlung durchgeführt. Dabei wurden erneut u.a. diverse Integrationsunterlagen vorgelegt.

?        Testergebnis der ÖIF-Integrationsprüfung B1, wonach der Erstbeschwerdeführer die Prüfung am 30. April 2021 nicht bestanden hat,

?        eine Anmeldebestätigung vom 26. Mai 2021 für die Buchung der ÖIF-Integrationsprüfung B1 für den XXXX

?        eine Verständigung vom 3. Mai 2021 für einen Grundausbildungslehrgang bei der Landeswehrfeuerwehrschule XXXX ,

?        eine Bestätigung über den voraussichtlichen Verdienst des Erstbeschwerdeführers vom potentiellen Arbeitgeber,

?        Bestätigung des Kindergartens XXXX für die Zweitbeschwerdeführerin,

?        diverse Farbfotografien welche die Familie des Erstbeschwerdeführers bei diversen Ausflügen zeigen.

?        Gedächtnisprotokoll des Erstbeschwerdeführers in Bezug auf einen Termin im Konsulat XXXX vom 13. November 2019 in Kopie.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der Beschwerdeführer

Die – im Kopf genannten – Beschwerdeführer sind Angehörige der Volksgruppe der Kurden. Der Erstbeschwerdeführer ist der Vater der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin und Staatsangehöriger von Syrien. Seit 2012 hat er auch die Staatsangehörigkeit von der Türkei. Die in Österreich geborene Zweitbeschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Türkei (Urkundenvorlage vom 30. März 2017; Schreiben des türkischen Generalkonsulats vom 19. April 2017; Verhandlungsschrift, Seite 5).

Der Erstbeschwerdeführer stammt aus der Stadt XXXX , Gouvernement al-Hasaka, im Nordosten Syriens (Verhandlungsschrift, Seite 5).

Der Erstbeschwerdeführer hat eine Volksschule besucht und als Fotograf gearbeitet (Verhandlungsschrift, Seite 6).

Der Erstbeschwerdeführer ist 2008 in die Türkei, XXXX , gereist, um seine Hochzeit zu organisieren, welche 2009 in der Türkei stattgefunden hat. Im Jahr 2008 und 2009 ist er zwischen XXXX und XXXX hin- und hergereist und hat in dieser Zeit als Fotograf gearbeitet. 2009 ist der Erstbeschwerdeführer wieder nach Syrien zurückgekehrt. Im Zeitraum 2009 bis 2012 ist er mehrmals in die Türkei gereist. Er hat Syrien 2012 verlassen und hat bis 2015 in der Türkei gelebt. 2013 ist er noch einmal nach Syrien zurückgekehrt, um gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in die Türkei zu reisen (Verhandlungsschrift, Seite 6 und Seite 8).

Ein Bruder und die Mutter des Erstbeschwerdeführers leben in der Türkei und steht der Erstbeschwerdeführer zu diesen im telefonischen Kontakt. In Syrien lebt sein Vater, zu welchem er allerdings nicht in Kontakt steht (Verhandlungsschrift, Seite 6).

Die Beschwerdeführer sind gesund (Verhandlungsschrift, Seite 12). Der Erstbeschwerdeführer verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse (Verhandlungsschrift, insbesondere Seite 12).

zur Integration und zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich

Der Erstbeschwerdeführer lebt mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern, darunter die Zweitbeschwerdeführerin, seit über fünf Jahren im Pfarrhof von XXXX (Urkundenvorlage vom 27. April 2021; Verhandlungsschrift, Seite 13).

Der Erstbeschwerdeführer verfügt in Österreich über einen Bruder, XXXX , welchem mit Bescheid vom 17. Juli 2014, Zl. XXXX , der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wurde (Urkundenvorlage vom 4. März 2019). Der Erstbeschwerdeführer steht mit diesem in engem Kontakt. Es liegt aber weder ein gemeinsamer Wohnsitz, noch ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis vor (Verhandlungsschrift, Seite 12).

Der Erstbeschwerdeführer hat Deutschkurse besucht und legte am XXXX die Sprachprüfung auf A2-Niveau erfolgreich ab (Urkundenvorlage vom 4. März 2019). Er legte eine Anmeldebestätigung der Volkshochschule XXXX für die ÖIF-Integrationsprüfung B1 am XXXX vor (Urkundenvorlage vom 27. April 2021), welche er nicht erfolgreich bestanden hat (Verhandlungsschrift, Seite 13).

Der Erstbeschwerdeführer wohnt seit über fünf Jahren bzw die Zweitbeschwerdeführerin seit über drei Jahren im Pfarrhof von XXXX . Der Erstbeschwerdeführer hat das Team der Katholischen Jugend Region XXXX mit seinen handwerklichen Fähigkeiten bereits mehrfach unterstützt. Daneben unterstützt er die Gartenpflege rund um das Seniorenheim XXXX (Urkundenvorlage vom 27. April 2021).

Die Beschwerdeführer haben zahlreiche Unterstützungsschreiben, ua von Gemeindebewohnern, der Ortsgemeinde, der Volksschule (ua von Lehrern, Klassenkollegen sowie des Elternvereins), der Pfarre sowie der Freiwilligen Feuerwehr vorgelegt, welche die Familie als hilfsbereit und als bestens integriert bezeichnen (Urkundenvorlage vom 5. Juni 2018, 16. Juni 2018, 6. Juli 2018, 12. Juli 2018, 2. August 2018, 19. November 2018, 4. März 2019, 27. April 2021).

Der Erstbeschwerdeführer ist seit 2018 zudem Mitglied der freiwilligen Feuerwehr in XXXX und wird dort als wertvolles Feuerwehrmitglied beschrieben, der sich durch sein enormes Engagement im Feuerwehrwesen auszeichnet. Die Freiwillige Feuerwehr gab in diesem Zusammenhang weiters an, dass der Erstbeschwerdeführer einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert habe. Er ist als Teilnehmer für die Grundausbildung an der Landesfeuerwehrschule XXXX vorgesehen (Urkundenvorlage vom 27. April 2021 und vom 28. Mai 2021).

Des Weiteren arbeitet der Erstbeschwerdeführer seit einigen Jahren ehrenamtlich in der Gemeinde XXXX In dieser Funktion war er ua für die Pflege der Grünanlagen im Haus der Senioren und im Pfarrkindergarten zuständig und wird er von seinen Kollegen und Kolleginnen wertgeschätzt. Zusätzlich verfügt der Erstbeschwerdeführer bereits über eine Vollzeit-Arbeitsstellenzusage bei „ XXXX (Urkundenvorlage vom 27. April 2021) und eine – vorbehaltlich eines gültigen Aufenthaltstitels – Einstellungszusage als Saisonarbeitskraft im Bauhof der Gemeinde XXXX (Urkundenvorlage vom 4. März 2019 und vom 27. April 2021).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist für den im September 2021 startenden Kindergarten angemeldet (Urkundenvorlage vom 28. Mai 2021).

Die Beschwerdeführer werden im Rahmen der Grundversorgung versorgt (Auszug aus dem Grundversorgungssystem vom 25. Mai 2021). Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug vom 25. Mai 2021).

zur Lage in der Türkei

zur Sicherheitslage

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans [PKK] im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (LIB Türkei, Seite 13).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat [IS] und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht (LIB Türkei, Seite 13 f).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C.

Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend. Dort sind die Spannungen besonders groß und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Die Regierung setzte die inneren und grenzüberschreitenden Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und in Syrien sowie innerhalb des Landes fort. In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen (LIB Türkei, Seite 14).

Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung [?HD] kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten. 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten. 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757. Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe fast 5.200 Tote [(PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten] im Zeitraum Juli 2015 bis 10.12.2020. Im Jahr 2020 wurden bis zum 10.12.2020 311 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (LIB Türkei, Seite 14).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre [Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak], aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (LIB Türkei, Seite 14).

Das türkische Parlament stimmte [mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP] am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (LIB Türkei, Seite 14).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (LIB Türkei, Seite 14).

zur Situation der Kurden in der Türkei

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (LIB Türkei, Seite 83 f).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung [AKP]. Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker [HDP]. Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP, besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache [Hür Dava Partisi - Hüda-Par], die für die Einführung der Schari’a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdo?an, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der PKK und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (LIB Türkei, Seite 84).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt, auch 2019, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang. Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (LIB Türkei, Seite 84).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen und blieben es auch (LIB Türkei, Seite 84).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind [oder als solche aktiv wahrgenommen werden], einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (LIB Türkei, Seite 84 f).

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift. Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Gesetzliche Einschränkungen des muttersprachlichen Unterrichts in Grund- und Sekundarschulen bleiben allerdings bestehen. In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (LIB Türkei, Seite 85).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Ca?r? FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (LIB Türkei, Seite 85).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder (LIB Türkei, Seite 85).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Zwei Universitäten hatten Kurdisch-Institute. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereich vollständig und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2020 immer wieder von Gewaltakten, einschließlich Mord und Totschlag, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden. Nebst der (spontanen) Gewalt von Einzelpersonen kommt es auch zu organisierten gewalttätigen Angriffen türkisch-nationalistischer Milizen gegen kurdische Gruppen. Erstere sind überall in der Türkei zu finden, aber besonders im Westen und in Großstädten wie Istanbul und Ankara (LIB Türkei, Seite 86).

zur Grundversorgung/Wirtschaft

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Gesundheitskrise haben eine fragile wirtschaftliche Erholung in der Türkei zum Entgleisen gebracht. In der zweiten Jahreshälfte 2019 begann sich die Wirtschaft allmählich von den wirtschaftlichen Turbulenzen Mitte 2018 zu erholen. Bis März 2020 drehte sich die Situation schnell. Erstens entstand in der Türkei im zweiten Quartal 2020 schnell wieder ein Leistungsbilanzdefizit durch den Rückgang des Handels und des Tourismus. Der Einbruch der globalen Nachfrage forderte einen hohen Tribut im türkischen Warenhandel. Zweitens haben eine weltweite Kapitalflucht in sichere Häfen und ein erheblicher Rückgang der türkischen Devisenreserven den Druck auf die Außenfinanzierung und die Märkte erhöht. Der negative Kapitalfluss führte zu einer erheblichen Belastung der Devisenreserven, die in diesem Zeitraum um 25% fielen. Drittens führten der externe Druck und die Eindämmungsmaßnahmen in Hinblick auf COVID-19 zu einem plötzlichen Stillstand der inländischen Produktion im April-Mai 2020. Das verarbeitende Gewerbe war stark betroffen, einschließlich großer, exportintensiver Industrien. Viertens haben die Auswirkungen auf die Realwirtschaft die Probleme auf dem Arbeitsmarkt verschärft, die bereits vor der Pandemie bestanden. Der COVID-19-Schock hat die rückläufigen Trends bei der Erwerbsbeteiligung und Beschäftigung deutlich verschärft. Eine Kombination dieser Faktoren deutet darauf hin, dass der COVID-19-Schock das Wohlstandsniveau der Haushalte in der Türkei ernsthaft beeinträchtigen wird, insbesondere das der armen und gefährdeten Menschen. Der Schock für die Haushaltseinkommen könnte die Armutsquote in der Türkei von 10,4% auf 14,4% erhöhen (LIB Türkei, Seite 106).

Nach einem starken Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im dritten Quartal 2020 um 6,7%, verlangsamt sich das Wachstum in den Wintermonaten, bevor es ab Mitte 2021 wieder aufwärts gehen soll. Die türkische Wirtschaft ist wegen ihrer starken Einbindung in internationale Lieferketten den Folgen der Pandemie in starkem Maße ausgesetzt. Dazu kommt die hohe Abhängigkeit vom Tourismus, der von der Krise stark betroffen ist. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum der Regierung für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizierte einen Rückgang des BIP um real 5% und für 2021 einen Anstieg um 5%. Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit längerem strukturelle Reformen ein und ziehen Kapital ab. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die Inflation ist hoch und die türkische Lira hat stark an Wert verloren. Die schwache Lira verteuert Importe und die Rückzahlung internationaler Kredite und somit die Durchführung von Projekten. Sie vergünstigt aber auch die türkischen Exporte. Positiv wirkt sich zudem der Ölpreisverfall aus, da die Türkei in hohem Maße auf Energieimporte angewiesen ist (LIB Türkei Seite 106).

Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (LIB Türkei, Seite 106).

In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (LIB Türkei, Seite 107).

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yard?mla?ma ve Dayani?ma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (LIB Türkei, Seite 107).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. „Milchgeld“ in einmaliger Höhe von 202 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 567 TL und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2020 alle zwei Monate Anspruch auf 587 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (LIB Türkei, Seite 107 f).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (LIB Türkei, Seite 108).

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind. Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2020 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1177 TL, der Maximalbetrag 2.853 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat. Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (LIB Türkei, Seite 109).

COVID-19-Pandemie

Wegen der Corona-Krise hat die Regierung die Regelung zur Kurzarbeit zugunsten der Arbeitnehmer geändert. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde ein neuer Übergangsartikel geschaffen (Übergangsartikel 23). Dieser bestimmt, dass bei Kurzarbeitergeldanträgen aufgrund der Corona-Krise bis zum 20.6.2020 die Leistungsvoraussetzungen gelockert werden: Damit genügt es, dass der Versicherte in den vergangenen drei Jahren für 450 Tage (statt 600 Tage) Beiträge entrichtet hat. Auch muss er vor dem Leistungsanspruch lediglich 60 (statt 120) Tage ununterbrochen beschäftigt gewesen sein. Weiterhin wurde der Präsident ermächtigt, die Geltungsfrist dieser Bestimmung bis zum 31.12.2020 zu verlängern sowie die Maßstäbe für die Berechnung des Kurzarbeitergelds zu ändern. Mit der am 16.4.2020 verfügten Übergangsbestimmung des Gesetzes 7244 gilt ein Kündigungsverbot für alle Arbeitsverhältnisse für eine Dauer von drei Monaten. Dabei ist nicht von Belang, ob der Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes fällt oder nicht. Eine Ausnahme besteht lediglich im Fall einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung (LIB Türkei, Seite 109).

zur medizinischen Versorgung

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der „Nationalen Gesundheitsfürsorge“ und der „Sozialen Krankenkasse“ etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Rentner ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (LIB Türkei, Seite 111).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (LIB Türkei, Seite 111).

Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (LIB Türkei, Seite 111 f).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken. Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit. Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (LIB Türkei, Seite 112).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Die aktuelle Kapazität wird mit Blick auf die wachsenden Patientenzahlen als noch unzureichend eingeschätzt, weshalb die Regierung einen Ausbau plant. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Krankenhäusern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (LIB Türkei, Seite 112).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei 88,29 TL an (LIB Türkei, Seite 113).

Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (LIB, Seite 113).

zur Behandlung nach Rückkehr

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das Allgemeine Informationssammlungssystem, das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das Zentrale Melderegistersystem (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (LIB Türkei, Seite 113).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (LIB Türkei, Seite 114).

Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbollah, Al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern von der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt. Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (LIB Türkei, Seite 114).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten deutschen Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (LIB Türkei, Seite 114).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in „Sippenhaft“ genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Allein 2020 wurden über ein Dutzend aus Österreich einreisende Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Türkei angehalten und, sofern sie nicht in Untersuchungshaft kamen, mit einer Ausreisesperre belegt (LIB Türkei, Seite 114 f).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (LIB Türkei, Seite 115).

Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (LIB Türkei, Seite 115).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çi?dem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, EMail: almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (LIB Türkei, Seite 115).

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Art. 9 des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Nach Einschätzung des DFAT wendet die Türkei die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (LIB Türkei, Seite 115 f).

Gemäß Art. 8 des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art.9). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Art.9 Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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