TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/22 W261 2242848-1

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Veröffentlicht am 22.06.2021
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Entscheidungsdatum

22.06.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W261 2242848-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Maga Karin RETTENHABER-LAGLER sowie die fachkundige Laienrichterin Dr.in Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 31.03.2021, betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin stellte am 02.10.2020 per Email formlos einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (auch Sozialministeriumservice, in der Folge belangte Behörde) und ersuchte um Übermittlung der Antragsformulare.

2. Die belangte Behörde übermittelte der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 06.10.2020 die angeforderten Unterlagen und wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass sie diese ausgefüllt und unterschrieben an die belangte Behörde zurücksenden möge.

3. Die Beschwerdeführerin übermittelte das unterschriebene Antragsformular per Email mit Nachricht vom 12.10.2020 und schloss eine Reihe von medizinischen Befunden an.

4. Die belangte Behörde holte zur Überprüfung des Antrages ein Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Ärztin für Allgemeinmedizin ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 05.03.2021 erstatteten Gutachten vom 22.03.2021 stellte die medizinische Sachverständige bei der Beschwerdeführerin die Funktionseinschränkungen rezidivierende depressive Störung, Persönlichkeitsstörung, Essstörung, Pos. Nr. 03.06.01, Grad der Behinderung 30 % und arterielle Hypertonie, Pos. Nr. 05.01.01, Grad der Behinderung 10 %, und einen Gesamtgrad der Behinderung in Höhe von 30 von Hundert (in der Folge vH) fest.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.03.2021 wies die belangte Behörde den Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40, 41 und 45 Bundesbehindertengesetz (BBG) ab und stellte einen Grad der Behinderung in Höhe von 30 v.H. fest. Die belangte Behörde legte dem Bescheid das eingeholte Sachverständigengutachten in Kopie bei.

6. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und brachte zusammengefasst vor, dass sie mit dem Ergebnis der Begutachtung nicht einverstanden sei. Ihre Alltagsfunktionalität sei eingeschränkt, sie sei seit fast 20 Jahren arbeitsunfähig, sie habe soziale Probleme und habe vielfältige Probleme im Kontext des Zusammenlebens mit ihren Mitmenschen. Hinzu käme noch eine Reihe von körperlichen Problemen, welche derzeit noch in medizinischer Abklärung seien. In deren Beschwerde verwies die Beschwerdeführerin auf ein ebenfalls bei der belangten Behörde anhängiges Feststellungsverfahren nach dem Behinderteneinstellungsgesetz hin, in welchem sie ebenfalls einen negativen Bescheid erhalten habe. Die Beschwerdeführerin legte der Beschwerde keine ärztlichen Befunde bei.

7. Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit vor, wo dieser am 28.05.2021 einlangte.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 31.05.2021 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach die Beschwerdeführerin österreichischer Staatsbürgerin ist, und ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.

9. Mit E-Mailnachricht vom 10.06.2021 ersuchte die Beschwerdeführerin um Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Sie gab bekannt, dass in nächster Zeit einige Untersuchungen stattfinden werden, welche für den Grad der Behinderung von Relevanz sein könnten. Es werde am 06.08. eine diagnostische OP im KH der XXXX in XXXX stattfinden, eine Gastro- und Koloskopie in der Ambulanz/ XXXX und ein Monitoring, das die Verschlechterung der Schlafapnoe anlange.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses langte am 12.10.2020 bei der belangten Behörde ein.

Die Beschwerdeführerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz im Inland.

Derzeitige Beschwerden:

"Ich kann nicht durchschlafen, bin müde und habe Konzentrationsprobleme. Auch mit dem Gedächtnis habe ich in der letzten Zeit Probleme. Ich grüble sehr viel und führe Selbstgespräche. Phasenweise geht es mir sehr schlecht bis hin zu suizidalen Gedanken. 1995 und 2012 war ich psychiatrisch aufgenommen, ambulant in XXXX , im WSP in XXXX und auch im XXXX . Damals habe ich mit Medikamenten Selbstmordversuche gemacht. Ich bin in Behandlung bei Dr. XXXX ca. alle 4 bis 6 Wochen. Psychotherapie zahlt die Krankenkasse keine mehr. Ich hatte schon ca. 5 Mal Psychotherapie, zuletzt 2013 bzw. 2014. Der Psychotherapeut hat geschrieben, dass eine weitere Therapie sinnlos wäre.

Manchmal habe ich ein Taubheitsgefühl am linken Arm bis zum Kleinfinger und am Bein bis zur Kleinzehe. Auch habe ich Kreuz- und Kopfschmerzen. Das hängt mit der Wohnsituation zusammen, weil es immer laut ist.

Nächtlich habe ich Essanfälle - auch wenn ich Stress habe."

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Enac, Concor, Spasmolyt, Enterobene, Rosuvastatin, Halcion, Novalgin

Sozialanamnese:

Ledig, keine Kinder, bezieht Notstandshilfe und Aufstockung zur Mindestsicherung, letzte berufliche Tätigkeit 2002 in einem Sekretariat.

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Dr. XXXX /FA für Psychiatrie 03/2020: Diagnosen: rezidivierende depressive Erkrankung - gegenwertig mittelschwer depressiv, somatoform autonome Funktionsstörung, Binge eating Disorder, kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und schizoiden Anteilen, Hypertonie, subperitoneale Endometriose, Z. n. 2x LSK. Frau XXXX befindet sich bei mir seit März 2018 in regelmäßiger psychiatrischer Betreuung. Bereits im Vorfeld bestand eine jahrelange psychiatrische Vorbetreuung mit stationären Aufenthalten, unter anderem 2012 im XXXX nach einem Selbstmordversuch. Aus psychiatrischer Sicht liegt eine rezidivierende depressive Erkrankung - ggw. mittelschwer depressiv, eine somatoform autonome Funktionsstörung, eine Binge Eating Störung, der Verdacht auf eine hypochondrische Störung, als auch eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und narzisstischen Anteilen vor. Leider reagiert die Patientin sehr stark auf medikamentöse Nebenwirkungen, sodass verschiedene Versuche einer antidepressiven Behandlung bisher scheiterten und die Patientin auch gegenwärtig nicht unter psychopharmakologischer Behandlung steht. Gegenwärtig leidet Frau XXXX an einer protrahiert mittelschwer depressiven Episode mit einer gedrückt-freudlosen Stimmungslage, einem reduzierten Antrieb, Zukunftsängsten, einem Interessensverlust, Einschlaf- und Durchschlafstörungen, einer schnellen Erschöpfbarkeit sowie einer insgesamt deutlich reduzierten Gesamtbelastbarkeit. Dazu kommen ihre bereits seit Jahrzehnten bestehenden Körperschmerzen mit hypochondrischen Befürchtungen, schwer erkrankt zu sein, welche eine deutliche Belastung darstellen. In der psychologischen Testung zeigten sich zudem Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistung, welche die Patientin subjektiv vor allem in Form einer Beeinträchtigung ihrer Konzentrationsleistung erlebt. Ihre narzisstische Persönlichkeitsstruktur führt auch immer wieder bei Kränkungserlebnissen zu weiteren depressiven Einbrüchen

....

Eine wesentliche Verbesserung ihres Zustandes wird vor allem durch zwei Faktoren beeinträchtigt: Einerseits ihre schwierige psychosoziale Situation (drohende Obdachlosigkeit, notdürftige Wohnung, Finanzielles, wenig soziale Kontakte...) und anderseits ihre Unverträglichkeit gegenüber Psychopharmaka. Der Schwerpunkt einer Behandlung könnte erst nach Stabilisierung ihrer sozialen Situation fruchten und würde aus neuerlichen psychopharmakologischen und vor allem auch psychotherapeutischen Interventionen bestehen.

Radiologischer Befund - Diagnosezentrum XXXX - 06.07.2019: Rechtes Ellbogengelenk a.p. und seitlich: Unauffälliger Befund. Linkes Ellbogengelenk a.p. und seitlich: Unauffälliger Befund. Röntgen rechtes Sprunggelenk, a.p. und seitlich: kleiner plantarer Fersensporn. Mitdargestellt ein kleiner arthrotischer Anbau an der dorsalen Kante derproximalen Gelenksfläche des Os naviculare pedis. Röntgen linkes Sprunggelenk, a.p. und seitlich: Kleiner plantarer Fersensporn. Beide Hüftgelenke a.p. (stehend) und axial: Unauffälliger Befund. Röntgen LWS, a.p. und seitlich: Aufgrund des Konstitutionstyps etwas eingeschränkte Beurteilbarkeit der Knochenstruktur; man erkennt eine großbogige linkskonvexe Fehlhaltung des thorakolumbalen Überganges, 15 Grad Skoliosewinkel, Scheitel L2. Reguläre Lendenlordose. Reguläres Alignement. Geringe Arthrose der kleinen Wirbelgelenke L4-S1. Sonst soweit unauffälliger Befund. NB: mäßige Spondyloosteochondrose TH11/TH12.

XXXX KH/Interne Abt. 04/2018: Diagnosen: Galliger Reflux 02/2018 (K29.6), St. p. Ulcus ventriculi, Sigmapolypektomie 04/2017 (K63.5) (Polypknospe eines tubulären Dickdarmschleimhautadenom IEN low grade, im Gesunden entfernt), Arterielle Hypertonie (110), Hyperlipidämie, Adipositas (E66.0), Vaginalendometriose (N80.4)

Dr. XXXX /FA für Psychiatrie 09/2020: Diagnose(n): rez. depressive Erkrankung - ggw. mittelschwer depressiv, testpsychologisch verifizierte Kontrollzwänge und Zwangsgedanken, testpsychologisch verifizierte Aufmerksamkeitsstörung, somatoform autonome Funktionsstörung, Binge eating Disorder, kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und schizoiden Anteilen, Hypertonie, subperitoneale Endometriose, Z. n. 2x LSK.

...

Gegenwärtig leidet Frau XXXX an einer protrahiert mittelschwer depressiven Episode ....

Ausmaß der Funktionseinschränkungen:

Allgemeinzustand: 51-jährige Antragstellerin in gutem AZ, kommt alleine ohne Hilfsmittel zur Untersuchung.

Ernährungszustand: adipös, BMI: 42,1

Größe: 163,00 cm  Gewicht: 112,00 kg

Klinischer Status – Fachstatus:

Caput: HNAP frei, kein Meningismus, HWS frei beweglich, Sprache unauffällig. Hirnnerven: Pupillen rund, isocor bds., Lichtreaktion prompt und konsensuell, Lidspalten gleich weit, Bulbusmotilität in allen Ebenen frei und koordiniert, kein pathologischer Nystagmus, keine Doppelbilder, HN VII seitengleich innerviert, basale HN frei.

Obere Extremitäten:

Trophik, Tonus und grobe Kraft seitengleich unauffällig. VA: kein Absinken, Feinmotilität nicht beeinträchtigt, BSR, TSR, RPR seitengleich untermittellebhaft auslösbar, Knips beidseits negativ, Eudiadochokinese beidseits, Finger-Nasen-Versuch (FNV) beidseits zielsicher, keine unwillkürlichen Bewegungen.

Untere Extremitäten:

Trophik, Tonus und grobe Kraft seitengleich unauffällig. PV: kein Absinken, PSR und ASR seitengleich auslösbar, Babinski beidseits. negativ, KHV beidseits zielsicher, keine unwillkürlichen Bewegungen.

Sensibilität: allseits intakt. Angabe von fallweisen Hypästhesien OA bis Kleinfinger links sowie linkes Bein bis zur Kleinzehe.

Gesamtmobilität – Gangbild:

Gangbild unauffällig, Zehen- und Fersengang möglich, Einbeinstand möglich.

Status Psychicus:

Wach, zur Person, örtlich, zeitlich orientiert, Konzentration, Aufmerksamkeit im Gespräch unauffällig, Mnestik: keine höhergradigen Defizite fassbar, subjektiv Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörung, Antrieb erhalten, Stimmung etwas gedrückt, anamnetisch Essanfälle, Affizierbarkeit in beiden Skalenbereichen gegeben, Ductus kohärent und zielführend, keine produktive Symptomatik, Schlaf mit Medikation.

Bei der Beschwerdeführerin bestehen folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

1.       Rezidivierende depressive Störung, kombinierte Persönlichkeitsstörung, Essstörung

2.       Arterielle Hypertonie

Der Gesamtgrad der Behinderung (GdB) beträgt 30 v. H.

Leiden 2 erhöht den GdB nicht, da keine ungünstige, wechselseitige Leidensbeeinflussung.

Die Endometriose, Adipositas permagna, Spondylosteochondrose - erreichen unter Berücksichtigung der klinischen Symptomatik und der vorliegenden objektiven Befunde keinen Grad der Behinderung.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen hinsichtlich der Antragsstellung basieren auf dem Akteninhalt.

Die Feststellungen zum Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Inland basieren auf dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.

Der Gesamtgrad der Behinderung gründet sich auf das seitens der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 22.03.2021, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 05.03.2021.

Darin wird auf die Art der Leiden der Beschwerdeführerin und deren Ausmaß vollständig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei eingegangen. Die medizinische Gutachterin setzt sich auch umfassend und nachvollziehbar mit den vorgelegten Befunden sowie mit der Frage der wechselseitigen Leidensbeeinflussungen und dem Zusammenwirken der zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen auseinander. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf den im Rahmen einer persönlichen Untersuchung erhobenen Befunden, entsprechen auch den festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen; die Gesundheitsschädigungen sind nach der Einschätzungsverordnung richtig eingestuft.

Die Beschwerdeführerin leidet an psychischen Erkrankungen, welche diese subjektiv in ihrer Lebensführung beeinträchtigten. Die medizinische Sachverständige beurteilte die Funktionseinschränkungen und Leidenszustände der Beschwerdeführerin anhand der von dieser vorgelegten und in den Feststellungen zitierten medizinischen Befunden und aufgrund der von ihr persönlich vorgenommenen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 05.03.2021. Hierbei sind rein medizinische Aspekte von Relevanz, weswegen der Argumentation der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde, dass sie unter vielfältigen Problemen zu leiden habe, nicht gefolgt werden kann. Wenn die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde ausführt, dass sie noch weitere medizinische Befunde hinsichtlich ihrer körperlichen Leiden einholen werde, so ist dem entgegen zu halten, dass diese Befunde zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht vorliegen, und dementsprechend auch nicht berücksichtigt werden können. Sollten diese (neuen) medizinischen Befunde eine Verschlechterung der Leidenszustände der Beschwerdeführerin medizinisch nachweisbar machen, so steht es der Beschwerdeführerin frei, einen neuen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses zu stellen.

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nach § 1 Abs. 1 letzter Satz Bundesverwaltungsgericht Einbringungsverordnung (BVwG-EVV) eine E-Mail Nachricht keine zulässige Form der Einbringung von Stellungnahmen beim Bundesverwaltungsgericht ist, weswegen die Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 10.06.2021 nicht zu beachten ist.

Die Beschwerdeführerin ist damit in ihrer Beschwerde den Ausführungen der medizinischen Sachverständigen nicht und damit insbesondere auch nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten, steht es dem Antragsteller, so er der Auffassung ist, dass seine Leiden nicht hinreichend berücksichtigt wurden, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes doch frei, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften (vgl. etwa VwGH 27.06.2000, 2000/11/0093).

Seitens des Bundesverwaltungsgericht bestehen folglich keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Schlüssigkeit des vorliegenden Sachverständigengutachtens vom 23.02.2021 Es wird daher in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

1.       Zur Entscheidung in der Sache

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:

„§ 40 (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2.       sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3.       sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

5.       sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41 (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1.       nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3.       ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.

§ 42 (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

§ 45 (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 46 Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung beträgt 12 Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.“

Die maßgebenden Bestimmungen der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung, BGBl. II. Nr. 261/2010 idgF BGBl II. Nr. 251/2012) lauten auszugsweise wie folgt:

"Behinderung

§ 1 Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

Grad der Behinderung

§ 2 (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.

Gesamtgrad der Behinderung

§ 3 (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 v.H. sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.

(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn

-        sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,

-        zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.

(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.

Grundlage der Einschätzung

§ 4 (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.
(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.

...“

Zunächst ist rechtlich festzuhalten, dass der Grad der Behinderung im Beschwerdefall - wie dies auch die belangte Behörde zu Recht annahm - nach der Einschätzungsverordnung einzuschätzen war, was im Verfahren auch unbestritten geblieben ist.

Beim Leiden 1 der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine rezidivierende depressive Störung, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung und eine Essstörung, welche die medizinische Sachverständige richtig zwei Stufen über dem unteren Rahmensatz der Position 03.06.01 der Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung von 30 % einstufte. Dabei berücksichtigte die medizinische Sachverständige den Umstand, dass bei der Beschwerdeführerin ein protrahierter Verlauf besteht und insbesondere, dass nicht alle Therapieoptionen ausgeschöpft sind.

Beim Leiden 2 handelt es sich um eine arterielle Hypertonie, welche die medizinische Sachverständige richtig nach Position 05.01.01 mit einem Grad der Behinderung von 10 % einstufte.

Die Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung hat bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen nicht im Wege der Addition der einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen zu erfolgen, sondern es ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für welche der höchste Wert festgestellt wurde, und dann ist zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Funktionsbeeinträchtigungen eine höhere Einschätzung des Grades der Behinderung gerechtfertigt ist (vgl. den eindeutigen Wortlaut des § 3 der Einschätzungsverordnung, sowie die auf diese Rechtslage übertragbare Rechtsprechung, VwGH 17.07.2009, 2007/11/0088; 22.01.2013, 2011/11/0209 mwN).

Wie oben unter Punkt 2. (Beweiswürdigung) ausgeführt, wird der gegenständlichen Entscheidung das seitens der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 23.03.2021, beruhend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 05.03.2021 zu Grunde gelegt.

Der medizinische Sachverständige stellt in diesem Sachverständigengutachten fest, dass eine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung der beiden Leiden der Beschwerdeführerin nicht besteht, woraus sich ein Gesamtgrad der Behinderung von 30 v.H. ergibt.

Mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 30 v.H. sind die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG, wonach behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbstätigkeit von mindestens 50 v.H. ein Behindertenpass auszustellen ist, aktuell nicht erfüllt.

Im Übrigen ist aber auch darauf hinzuweisen, dass bei einer späteren Verschlechterung des Leidenszustandes die neuerliche Einschätzung des Grades der Behinderung nach Maßgabe des § 41 Abs. 2 BBG in Betracht kommt.

Die Beschwerde war daher spruchgemäß abzuweisen.

2.       Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung

Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und insbesondere auf das von der belangten Behörde eingeholte medizinische Sachverständigengutachten, das auf einer persönlichen Untersuchung beruht, auf alle Einwände und die im Verfahren vorgelegten Atteste der Beschwerdeführersin in fachlicher Hinsicht eingeht, und welchem die Beschwerdeführerin nicht substantiiert entgegengetreten ist. Die strittige Tatsachenfrage, genauer die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin sind einem Bereich zuzuordnen, der von einem Sachverständigen zu beurteilen ist. Beide Parteien haben keinen Verhandlungsantrag gestellt. All dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass Grad der Behinderung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2242848.1.00

Im RIS seit

16.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.08.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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