TE Bvwg Beschluss 2021/6/28 W216 2239269-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.06.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

28.06.2021

Norm

Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1
BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W216 2239269-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Benedikta TAURER sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Regina BAUMGARTL als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , bevollmächtigt vertreten durch den Kriegsopfer- und Behindertenverband für Wien, Niederösterreich und Burgenland (KOBV), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien vom 09.12.2020, OB: XXXX betreffend die Abweisung des Antrages auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung sowie die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung "Der Inhaber/die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" in den Behindertenpass, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Beschwerdeführerin brachte am 06.08.2020 (einlangend) – unter Vorlage eines Befundkonvolutes – beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; im Folgenden: belangte Behörde) einen Antrag auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung sowie auf Vornahme der Zusatzeintragung "Die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" in den Behindertenpass ein.

1.1.    Zur Überprüfung der Anträge holte die belangte Behörde ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Radiologie sowie Arztes für Allgemeinmedizin, basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 08.09.2020, mit dem Ergebnis ein, dass der Gesamtgrad der Behinderung weiterhin mit 80 v.H. festgestellt wurde und die Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung nicht vorlägen.

1.2.    Im Rahmen des gemäß § 45 Abs. 3 AVG erteilten Parteiengehörs wendete die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 15.10.2021 – unter Vorlage medizinischer Befunde – im Wesentlichen zusammengefasst ein, dass die Versteifungen des rechten und linken Unterarms, als auch Versteifungen des rechten und linken Handgelenks nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Aufgrund dieser Versteifungen seien Drehbewegungen nur in geringem Ausmaß aus der Schulter heraus möglich. Aus diesem Grund hätten sich auch Schulterbeschwerden beidseits entwickelt. Weiters bestünden Funktionseinschränkungen der Finger beidseits. Zudem seien ihre Unterarme verkürzt. Aufgrund dieses umfassenden Beschwerdebildes sei es ihr nicht möglich, sich ausreichend sicher in einem öffentlichen Verkehrsmittel anzuhalten. Auch würden ihre Finger nach kurzer Zeit taub bzw. würden diese zu krampfen beginnen und sei auch aus diesem Grund ein Anhalten nicht ausreichend sicher möglich. Es werde daher beantragt, dass eine Untersuchung durch einen orthopädischen Sachverständigen erfolge.

1.3.    Zur Überprüfung der Einwendungen sowie der vorgelegten Befunde ersuchte die belangte Behörde den bereits befassten Sachverständigen, basierend auf der Aktenlage, hierzu Stellung zu nehmen. In der mit 08.12.2020 datierten medizinischen Stellungnahme kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass weder die erhobenen Einwendungen, noch die vorgelegten Beweismittel geeignet seien, eine geänderte Beurteilung zu begründen.

2.       Mit dem angefochtenen Bescheid vom 09.12.2020 wies die belangte Behörde – ohne der Beschwerdeführerin das Ergebnis des erweiterten Ermittlungsverfahrens zur Kenntnis zu bringen und die Gelegenheit einzuräumen dazu Stellung zu nehmen – die Anträge auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung sowie auf Vornahme der Zusatzeintragung "Die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" in den Behindertenpass ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Der Inhaber/die Inhaberin kann die Fahrpreisermäßigung nach dem Bundesbehindertengesetz in Anspruch nehmen" vorliegen.

3.       Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, in dem die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung moniert wird. Im Wesentlichen brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie an massiven Beeinträchtigungen der oberen Extremitäten leide. Es läge eine Fehlbildung der Arme mit Versteifung beider Unterarme und Handgelenke beidseits mit Funktionseinschränkungen der Finger beidseits vor, weiters ein Zustand nach Sturz auf die rechte Schulter bei Oberarmfraktur und notwendiger Operation sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Gelenke. Aufgrund der verkürzten Arme komme sie kaum zu den Haltestangen und, wenn ein Anhalten an den Haltestangen möglich sei, dann nur sehr kurz und nur mit der linken Hand, welche auch nach kurzer Zeit zu krampfen beginne. An der rechten Hand seien die Finger dermaßen deformiert, dass ein Anhalten nicht möglich sei. Außerdem sei in beiden Unterarmen nur ein Nervenstrang statt zwei Nervensträngen funktionstüchtig. Betreffend die beschriebenen Einschränkungen sei ein sicherer Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zumutbar bzw. sei eine Begleitperson unbedingt erforderlich. Die belangte Behörde habe sich bisher lediglich eines allgemeinmedizinischen Sachverständigen bedient und wäre aufgrund der beschriebenen gesundheitlichen Problematik eine Begutachtung aus den Fachbereichen der Neurologie und Orthopädie erforderlich.

4.       Mit dem – im Bundesverwaltungsgericht am 04.02.2021 eingelangten – Schreiben selben Tages legte die belangte Behörde den Verwaltungsakt und die Beschwerde vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).

Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Gemäß § 29 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG sind die Erkenntnisse zu begründen. Für Beschlüsse ergibt sich aus § 31 Abs. 3 VwGVG eine sinngemäße Anwendung.

Zu A)

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

1.       wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes.

Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte aus.

Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.

Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zur ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten. (§ 1 Abs. 2 BBG)

Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1.       ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2.       sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3.       sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4.       für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5.       sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderten-einstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(§ 40 Abs. 1 BBG)

Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist u.a. jedenfalls einzutragen:

1.       die Art der Behinderung, etwa dass der Inhaber/die Inhaberin des Passes

a)       überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist;

diese Eintragung ist vorzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine diagnosebezogene Mindesteinstufung im Sinne des § 4a Abs. 1 bis 3 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG), BGBl. Nr. 110/1993, vorliegen. Bei Kindern und Jugendlichen gelten jedoch dieselben Voraussetzungen ab dem vollendeten 36. Lebensmonat.

2.       die Feststellung, dass der Inhaber/die Inhaberin des Passes

a)       einer Begleitperson bedarf;

diese Eintragung ist vorzunehmen bei

-        Passinhabern/Passinhaberinnen, die über eine Eintragung nach § 1 Abs. 4 Z.1 lit. a verfügen;

-        Passinhabern/Passinhaberinnen, die über eine Eintragung nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d verfügen;

-        bewegungseingeschränkten Menschen ab dem vollendeten 6. Lebensjahr, die zur Fortbewegung im öffentlichen Raum ständig der Hilfe einer zweiten Person bedürfen;

-        Kindern ab dem vollendeten 6. Lebensjahr und Jugendlichen mit deutlicher Entwicklungsverzögerung und/oder ausgeprägten Verhaltensveränderungen;

-        Menschen ab dem vollendeten 6. Lebensjahr mit kognitiven Einschränkungen, die im öffentlichen Raum zur Orientierung und Vermeidung von Eigengefährdung ständiger Hilfe einer zweiten Person bedürfen, und

-        schwerst behinderten Kindern ab Geburt bis zum vollendeten 6. Lebensjahr, die dauernd überwacht werden müssen (z. B. Aspirationsgefahr).

3.       die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

-        erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder

-        erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder

-        erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder

-        eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder

-        eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d

vorliegen.

(§ 1 Abs. 4 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen auszugsweise)

Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in § 1 Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(§ 1 Abs. 5 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen)

In einem Fall, in dem die Zusatzeintragung "Notwendigkeit einer Begleitperson" in den Behindertenpass gemäß § 42 Abs. 1 des BBG verfahrensgegenständlich ist, sind – regelmäßig unter Beiziehung eines ärztlichen Sachverständigen – die Art der Gesundheitsschädigung des Betroffenen und deren Konsequenzen für die allfällige Notwendigkeit der Beiziehung einer Begleitperson darzustellen (vgl. VwGH 01.03.2016, Zl. Ro 2014/11/00224).

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs muss ein Sachverständigengutachten einen Befund und das eigentliche Gutachten im engeren Sinn enthalten. Der Befund ist die vom Sachverständigen – wenn auch unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Feststellungsmethoden – vorgenommene Tatsachenfeststellung. Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen aus dem Befund, zu deren Gewinnung er seine besonderen Fachkenntnisse und Erfahrungen benötigt, bilden das Gutachten im engeren Sinn. Eine sachverständige Äußerung, die sich in der Abgabe eines Urteiles (eines Gutachtens im engeren Sinn) erschöpft, aber weder die Tatsachen, auf die sich dieses Urteil gründet, noch die Art, wie diese Tatsachen ermittelt wurden, erkennen lässt, ist mit einem wesentlichen Mangel behaftet und als Beweismittel unbrauchbar; die Behörde, die eine so geartete Äußerung ihrer Entscheidung zugrunde legt, wird ihrer Pflicht zur Erhebung und Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes (§ 37 AVG) nicht gerecht (VwGH vom 17.02.2004, GZ 2002/06/0151).

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung "Die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" sind die Feststellung der Art und des Ausmaßes der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung der Auswirkungen der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen auf den Bedarf an einer Begleitperson.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nicht ausreichend Ermittlungen geführt.

Die belangte Behörde legte dem gegenständlichen Verfahren betreffend den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung "Der Inhaber/die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" in den Behindertenpass ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Radiologie sowie Arztes für Allgemeinmedizin vom 05.10.2020 (samt ergänzender Stellungnahme vom 08.12.2020) basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin zu Grunde. In diesem Gutachten wird zwar ausgeführt, warum der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar sei, betreffend die beantragte Zusatzeintragung "Der Inhaber/die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" wurde jedoch eine nähere Begründung unterlassen und lediglich in einem Vordruck ein "Nein"-Kästchen angekreuzt. Auch in der ergänzenden medizinischen Stellungnahme des Sachverständige vom 08.12.2020 wird nur begründet, warum der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar sei und zur Frage des Bedarfs an einer Begleitperson wird lediglich festgehalten: "Nach den bestehenden Richtlinien liegen auch keine Voraussetzungen für eine Begleitperson vor".

Diese gutachterlichen Ausführungen sind – der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs folgend – nicht geeignet, den Anforderungen an ein schlüssiges und nachvollziehbares Gutachten zu genügen. Die Ausführungen des Sachverständigen lassen allenfalls interpretativ den Schluss zu, dass sie keiner Begleitperson bedarf, der fehlende Bedarf kann aber auf Grund der vorliegenden Ausführungen nur mutmaßlich erschlossen werden. Eine Begründung, warum die Beschwerdeführerin keiner Begleitperson bedarf fehlt nahezu vollständig.

Damit fehlt es aber an einer nachvollziehbaren Begründung für die Annahme der belangten Behörde, die Beschwerdeführerin bedürfe keiner Begleitperson. Wie bereits ausgeführt, ergeben sich auch aus der seitens der belangten Behörde eingeholten medizinischen Stellungnahme des Amtssachverständigen keine ausreichenden Ergänzungen.

Die belangte Behörde hat somit notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen und erweist sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Der Inhaber/die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" in den Behindertenpass auf Grund der nur ansatzweise erfolgten Ermittlungen im verwaltungsbehördlichen Verfahren als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich sind. Im Beschwerdefall hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den maßgeblichen Sachverhalt bloß ansatzweise ermittelt und hätte die Klärung der Frage, ob die Beschwerdeführerin die Tatbestandsvoraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung "Der Inhaber/die Inhaberin des Passes bedarf einer Begleitperson" in den Behindertenpass erfüllt, daher die Einholung ergänzender Gutachten im Sinn der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert.

Das von der belangten Behörde seiner Beurteilung zugrundegelegte Sachverständigengutachten ist somit nicht ausreichend begründet. Es fehlt eine nachvollziehbare Begründung hinsichtlich der Beurteilung des Gesamtbildes des Leidenszustandes im Hinblick auf die beantragte Zusatzeintragung "Bedarf einer Begleitperson".

Darüber hinaus wurde dem komplexen Krankheitsbild der Beschwerdeführerin nicht ausreichend Rechnung getragen:

Die Beschwerdeführerin hat die gegenständlichen Anträge mit einem umfassenden Konvolut fachärztlicher Befunde belegt und ein ausführliches Vorbringen insbesondere aus dem orthopädischen Formenkreis erstattet.

Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit der eingeholten Gutachten an. Gegenständlich ist die Begutachtung lediglich durch einen Facharzt für Radiologie sowie Arzt für Allgemeinmedizin erfolgt. Das Vorbringen und die vorgelegten Beweismittel enthalten jedoch – genauso wie die Ergebnisse des eingeholten Sachverständigengutachtens – konkrete Anhaltspunkte, dass zusätzlich die Einholung eines Gutachtens der Fachrichtung Orthopädie erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.

Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.

Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, auch ein Gutachten der Fachrichtung Orthopädie einzuholen.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat. (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015)

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde ein (fach-)ärztliches Sachverständigengutachten – vorzugsweise eines Facharztes/einer Fachärztin für Orthopädie – einzuholen und die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens und der dazu vorgelegten Unterlagen bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben. Von den vollständigen Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein. Anschließend wird sich die belangte Behörde unter Berücksichtigung der oben dargelegten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausführlich und vollständig mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen haben, ob die Beschwerdeführerin auf eine Begleitperson angewiesen ist.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist – angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes – nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.

Schlagworte

Begleitperson Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Neufestsetzung Sachverständigengutachten Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W216.2239269.1.00

Im RIS seit

11.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.08.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten