TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/20 W261 2244239-1

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Veröffentlicht am 20.07.2021
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Entscheidungsdatum

20.07.2021

Norm

Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1
BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W261 2244239-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER sowie die fachkundige Laienrichterin Dr.in Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 22.06.2021, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass, zu Recht erkannt:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird ersatzlos behoben.

Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" in den Behindertenpass liegen vor.

II.      Die Eintragung des Zusatzvermerkes ist befristet bis 31.12.2022 vorzunehmen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin ist seit 21.01.2008 bzw. seit 04.02.2020 Inhaberin eines bis 30.04.2021 befristeten Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 60 von Hundert (in der Folge v.H.) mit der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass und seit 27.01.2021 Inhaberin eines Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 50 von Hundert (in der Folge v.H.) ohne die genannte Zusatzeintragung.

2. Die Beschwerdeführerin stellte am 27.01.2021 einen Antrag auf Neuausstellung des Behindertenpasses und legte ein Konvolut an medizinischen Befunden vor.

3. Die belangte Behörde holte in weiterer Folge ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie ein. In dem auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 01.04.2021 erstatteten Gutachten vom 02.04.2021 stellte die medizinische Sachverständige fest, dass die Beschwerdeführerin an Aufbrauchserscheinungen der Wirbelsäule und der großen Gelenke, Zustand nach Endoprothesen beide Hüft- und linkes Kniegelenk und unter einem Restless Legs Syndrom mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 von Hundert (v.H.) leide, jedoch die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass aus medizinischer Sicht nicht mehr vorlägen. Es sei eine Besserung der Mobilität im Vergleich zum Vorgutachten 2020 und eine Besserung des Hüftleidens zum Vorgutachten 2009 eingetreten.

4. Die belangte Behörde übermittelte das genannte Gutachten der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 06.04.2021 im Rahmen des Parteiengehörs und teilte dieser mit, dass beabsichtigt sei, ihr einen Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung von 50 % auszustellen, und dass die Voraussetzungen für die Zusatzeintragungen „Der Inhaber/die Inhaberin des Passes ist TrägerIn einer Prothese“ und „Der Inhaber/die Inhaberin des Passes ist TrägerIn von Orteosynthesematerial“ vorlägen.

5. Mit Schreiben vom 08.04.2021 übermittelte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin den Behindertenpass.

6. Mit Eingabe vom 10.05.2021 (eingelangt bei der belangten Behörde am 17.05.2021) teilte die Beschwerdeführerin mit, dass diese vor 14 Tagen den Behindertenpass erhalten habe. Sie möchte dagegen Einspruch erheben. Bei der medizinischen Untersuchung am 01.04.2021 habe sie angegeben, dass es ihrem operierten linken Knie (Prothese OP 23.02.2020) besser gehe als vor der Operation.

Beim Stiegensteigen habe sie nach wie vor große Probleme. An manchen Tagen habe auch ihr rechtes Knie - welches noch nicht operiert sei - daran einen großen Anteil. Dazu würden Beeinträchtigungen der beiden Hüften kommen (Hüftprothesen beidseitig und Verplattung des rechten Beckens). Aus diesem Grund seien ihr Mann und sie vor einigen Jahren von deren Wiener Wohnung im 5. Stock mit Lift im Halbstock nach Niederösterreich in ein ebenerdiges Haus gezogen. In diesem Ort gebe es zwar eine Busverbindung, nur könne sie diese nicht nutzen, da es keine Niedrigflurbusse seien und sie nicht so hoch steigen können. Öffentliche Verkehrsmittel seien daher für sie nicht nutzbar und sie sei auf das Auto angewiesen. Sie ersuche um eine nochmalige Überprüfung ihres Ansuchens.

7. Die belangte Behörde fragte am 18.05.2021 bei der Beschwerdeführerin nach, ob diese tatsächlich eine Beschwerde gegen die Ausstellung des Behindertenpasses erheben wolle. Dabei teilte die Beschwerdeführerin mit, dass sie mit dem Grad der Behinderung von 50 v.H. einverstanden sei, sie begehre die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass. Die belangte Behörde vereinbarte mit der Beschwerdeführerin, dass die Eingabe vom 10.05.2021 (eingelangt am 17.05.2021) als Antrag auf Vornahme der genannten Zusatzeintragung in den Behindertenpass anzusehen sei.

8. Die belangte Behörde übermittelte der Beschwerdeführerin das oben genannte medizinische Sachverständigengutachten vom 02.04.2021 neuerlich mit Schreiben vom 18.05.2021 im Rahmen des Parteiengehörs und räumte dieser die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme ein.

9. In deren Stellungnahme vom 30.05.2021 (eingelangt am 01.06.2021) führte die Beschwerdeführerin im Rahmen des Parteiengehörs aus, dass sie mit diesem Gutachten nicht einverstanden sei. Ihre Beschwerden hätten sich seit der Untersuchung verschlechtert, sie habe Probleme an beiden Knien und auch die Hüft- und Beckenbeschwerden seien gegenüber der vorgehenden Untersuchung leider nicht weniger geworden. Da deren Orthopäde auf Urlaub sei, habe sie erst einen Untersuchungstermin für den 10.06.2021 erhalten, sie werde danach den Befund vorlegen.

10. Mit Eingabe vom 11.06.2021 (eingelangt am 14.06.2021) legte die Beschwerdeführerin einen Befundbericht eines Facharztes für Orthopädie vom 10.06.2021 vor, wonach die Beschwerdeführerin unter anderem an massiven Schmerzen am Knie rechts leide. Es sei eine Knie Totalendoprothese geplant, bis dahin seien Schmerz- und Physiotherapie zu absolvieren.

11. Die belangte Behörde ersuchte den befassten medizinischen Sachverständigen um die Abgabe einer Stellungnahme zu diesem neu vorgelegten Befund. In seiner Stellungnahme vom 22.06.2021, wonach sich die Verbesserungen zum Vorgutachten aus der Verbesserung des Hüftleidens ergeben habe, das Knieleiden bliebe unverändert berücksichtigt, das Kalkül könne daher nicht geändert werden.

12. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 22.06.2021 wies die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gemäß §§ 42 und 45 BBG ab.

Die belangte Behörde schloss dem genannten Bescheid das medizinische Gutachten vom 02.04.2021 und die ergänzende Stellungnahme des medizinischen Sachverständigen vom 22.06.2021 in Kopie an.

13. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht die gegenständliche Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Darin brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie mit Bedauern festgestellt habe, dass ihr die Zusatzeintragung nicht verlängert werde. Seit ihrer Untersuchung am 01.04.2021 hätten sich ihre Beschwerden verschlechtert. Derzeit könne sie nur kurze Wegstrecken bewältigen. Sie habe nicht nur im rechten Knie Schmerzen, es seien auch die rechte Hüfte und ihr linkes, bereits operiertes Knie stark betroffen. Ohne mehrere Schmerztabletten täglich gehe es derzeit nicht.

Sie habe jetzt einen Operationstermin erhalten – dieser werde in der Woche ab den 04.10.2021 sein. Sie lege dazu die Information zur operativen Vorbereitung vom 21.06.2021 vor. Nach dieser Operation wird sie dann auf beiden Knien ein künstliches Gelenk haben, beide Hüften seien künstlich und im rechten Becken habe sie eine 16 cm Platte mit 9 Schrauben. Sie ersuche um neuerliche Überprüfung ihres Anliegens.

14. Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 12.07.2021 vor, wo dieser am selben Tag einlangte.

15. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.07.2021 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach die Beschwerdeführerin österreichische Staatsbürgerin ist, und ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen

Die Beschwerdeführerin erfüllt die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die Beschwerdeführerin hat ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland und besitzt einen Behindertenpass.

Der Beschwerdeführerin ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar.

Art und Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin:

Anamnese:

Vorgutachten/Amtsgutachten 3/2020; 9/2009 60%.

Derzeitige Beschwerden:

"Die Hüfte und das rechte Knie schmerzen, links geht es ganz gut. Die linke Hüfte war kurz nach der OP verrenkt, die rechte nach Sturz auf Eisplatte."

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Liste Dr. Sadrija 26.3.2021: Madopar,Thyrex,Esomeprazol,Halcion.

Sozialanamnese:

verheiratet, 3 Kinder; in Pension.

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Vorgutachten 2009 und 2020;

Bericht XXXX : 1/2021:Diagnose: St. p. Acetabulumfraktur dext., St. p H-TEP bds., St. p. K-TEP sin., Valgusgonarthrose sin, Nickelallergie. Klinischer Befund: rechtes Knie: Valgus 8°.

Allgemeinzustand: gut.

Ernährungszustand: sehr gut.

Größe: 160,00 cm Gewicht: 85,00 kg

Klinischer Status - Fachstatus:

Caput unauffällig, Collum o.B., WS im Lot, HWS in R 50-0-50, F 15-0-15, KJA 1 cm, Reklination 16 cm. BWS-Drehung 30-0-20, normale Lendenlordose, FKBA 15 cm, Seitneigung bis 5 cm ober Patella. Kein Beckenschiefstand. Thorax symmetrisch, Abdomen unauffällig.

Schultern in S 40-0-170, F 170-0-50, R bei F90 70-0-70, Ellenbögen 0-0-130, Handgelenke 500-60, Faustschluss beidseits frei. Nacken-und Kreuzgriff möglich. Hüftgelenke in S rechts 0-0-90 zu links 0-0-100, F rechts 20-0-10 zu links 30-0-20, R rechts 15-0-10 zu links 25-0-10, Kniegelenke rechts 0-0-115 und Valgus zu links 0-0-125, Sprunggelenke 10-0-45.

Gesamtmobilität - Gangbild:

Gang in Straßenschuhen ohne Gehbehelfe mäßig kleinschrittig, aber frei möglich. Zehenspitzen- und Fersenstand mit Anhalten möglich.

Status Psychicus:

Normale Vigilanz, regulärer Ductus. Ausgeglichene Stimmungslage.

Die Beschwerdeführerin hat folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

-        Aufbruchserscheinungen der Wirbelsäule und der großen Gelenke, Zustand nach Endoprothese beide Hüft- und linkes Kniegelenk

-        Restless legs Syndrom

Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel:

Durch die starken Schmerzen im Bereich des rechten Knies ist die Beschwerdeführerin in ihrer Mobilität eingeschränkt.

Die Beschwerdeführerin kann eine kurze Wegstrecke (ca. 300 - 400 m) nicht ohne Schmerzen und ohne Unterbrechung zurücklegen.

Die festgestellten Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparates wirken sich in erheblichem Ausmaß negativ auf die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel aus, da die Beschwerdeführerin nicht in der Lage ist in öffentliche Verkehrsmittel einzusteigen.

Es ist nach Operation des rechten Knies Anfang Oktober 2021 eine Besserung des Gesundheitszustandes zu erwarten.

2.       Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zu den allgemeinen Voraussetzungen, dem Wohnsitz der Beschwerdeführerin im Inland und zum Behindertenpass ergeben sich aus dem diesbezüglich unbedenklichen, widerspruchsfreien und unbestrittenen Akteninhalt.

Die Feststellungen zu Art, Ausmaß und Auswirkungen der Funktionseinschränkungen auf die Zumutbarkeit zur Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gründen sich – in freier Beweiswürdigung – in nachstehend ausgeführtem Umfang auf die vorgelegten und eingeholten Beweismittel:

Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie vom 02.04.2021, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 01.04.2021, ist hinsichtlich der Diagnosen und deren Auswirkungen auf die Fortbewegungsmöglichkeit der Beschwerdeführerin vollständig, schlüssig, nachvollziehbar und frei von Widersprüchen. Es wurde auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen. Hinsichtlich der Beurteilung der Möglichkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel kann dem Sachverständigengutachten jedoch nicht gefolgt werden.

Der befasste medizinische Sachverständige erstellte erstmals am 30.03.2020 aufgrund des Antrages der Beschwerdeführerin vom 27.01.2020 auf Ausstellung eines Behindertenpasses mit der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass ein medizinisches Sachverständigengutachten auf Grund der Aktenlage. Zu diesem Zeitpunkt litt die Beschwerdeführerin an Hüfttotalendoprothese beidseits, Wirbelsäulenabnützungen, Gonarthrose beidseits und Restless legs Syndrom. Damals stellte der medizinische Sachverständige fest, dass bei einem Zustand nach Hüfttotalendoprothese beidseits mit Komplikationen und jetzt zusätzliche Gonarthrose beidseits mit Operationsindikation links, war vorübergehend, aber mehr als 6 Monate, mit einer deutlichen Mobilitätseinschränkung zu rechnen ist.

Aufgrund dieses medizinischen Sachverständigengutachtens, welches der medizinische Sachverständige erstellte, ohne die Mobilität der Beschwerdeführerin im Rahmen einer persönlichen medizinischen Untersuchung festzustellen, stellte die belangte Behörde einen bis 30.04.2021 befristeten Behindertenpass mit der beantragten Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" aus.

Nunmehr stellte die Beschwerdeführerin neuerlich einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, welcher dieser am 08.04.2021 mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H. übermittelt wurde.

Diesem Antrag schloss die Beschwerdeführerin unter anderem einen Befundbericht ihres behandelnden Arztes, eines Facharztes für Orthopädie, vom 21.01.2021 an, wonach beim rechten Knie ein Valgus 8°, S0/120 mit Restbeschwerden bei St. p. Knie Totalendoprothese links besteht.

Hinsichtlich des linken Knies legte die Beschwerdeführerin den Patientenbrief des Herz-Jesu Krankenhauses Wien vom 25.02.2020 vor, wonach sie am 24.02.2020 eine Knietotalendoprothese links erhalten habe.

Diese Befunde bildeten – neben der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 01.04.2021 – die Grundlage für das medizinische Sachverständigengutachten vom 02.04.2021. Darin führte der medizinische Sachverständige aus, dass es zu einer Verbesserung der Mobilität im Vergleich zum Vorgutachten gekommen sei, insbesondere sei eine Besserung des Hüftleidens im Vergleich zum Vorgutachten aus dem Jahr 2009 eingetreten.

Dazu ist anzumerken, dass im Vorgutachten vom 22.09.2009 - trotz der damals bereits diagnostizierten Hüfttotalendoprothesen beidseits - festgestellt wurde, dass es der Beschwerdeführerin damals (noch) zumutbar gewesen ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung stellte die belangte Behörde erstmals im Jahr 2000 aufgrund des orthopädischen Sachverständigengutachtens aufgrund der Aktenlage vom 30.03.2020 fest. Darin führt der medizinische Sachverständige aus, dass bei der Beschwerdeführerin eine wesentliche Mobilitätseinschränkung bestand. Die Gehstrecke ist nicht ausreichend, das sichere Ein- und Aussteigen und der sichere Transpart waren damals nicht gewährleistet. Damals war ein Zustand nach Hüfttotalendoprothese beidseits mit Komplikationen und zusätzlicher Gonarthrose beidseits mit Operationsindikation links ausschlaggebend dafür, dass mit einer vorübergehenden, aber mehr als sechs Monate langen Mobilitätseinschränkungen zu rechnen war.

Eine Verbesserung der Hüftleiden, welche schon in den Jahren 2009 und 2020 nicht hauptausschlaggebend für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel gewesen waren, kann daher nicht dazu führen, dass es der Beschwerdeführerin nunmehr zumutbar sein soll, diese zu benutzen.

Vielmehr bestehen die im Vorgutachten aufgrund der Aktenlage vom 30.03.2020 diagnostizierten Gonarthrosen beidseits nach wie vor, wobei es beim linken Knie, welches zu diesem Zeitpunkt mehr betroffen gewesen ist, bereits damals, genauer am 25.02.2020 mit einer Knieprothese operativ versorgt wurde.

Es ist daher richtig, dass sich der Zustand des linken Knies, wie dies die Beschwerdeführerin bei ihren Beschwerden bei der Untersuchung am 01.04.2021 selbst ausführte, seit dem Jahr 2020 verbesserte.

Was der medizinische Sachverständige jedoch insbesondere in seiner Stellungnahme vom 22.06.2021 nicht hinreichend berücksichtigte, ist der Umstand, dass sich der Zustand des rechten Knies der Beschwerdeführerin mittlerweile maßgeblich verschlechterte, was die Beschwerdeführerin durch die Vorlage eines neuen Befundberichtes ihres behandelnden Orthopäden vom 10.06.2021 belegte. Dort wird beschrieben, dass beim Knie rechts der Varus 7, S 0/5/110 und ein massiver Schmerz im medialen Compartement besteht. Aus diesem Grund steht auch eine Knietotoalendoporthese rechts in der Woche vom 04.10.2021 an.

Daraus folgt, dass sich der Zustand der Beschwerdeführerin im Vergleich zum Jahr 2020 nur insoweit geändert hat, dass beim linken Knie eine Totalendoprothese vorgenommen wurde, sich dieser Zustand im Vergleich zum Zeitraum davor verbessert hat. Jedoch hat sich der Zustand des rechten Knies der Beschwerdeführerin seit dem Jahr 2020 nachweislich maßgeblich verschlechtert. Diese Verschlechterung führt bedingt dadurch, dass die Beschwerdeführerin unter starken Schmerzen leidet und die Knie nicht entsprechend heben kann, dazu, dass vorübergehend, bis die Beweglichkeit der Beschwerdeführerin nach der Knieoperation im Oktober 2021 wiederhergestellt sein wird, eine wesentliche Mobilitätseinschränkung vorliegt, welche jedenfalls länger als sechs Monate andauern wird.

Es kann damit gerechnet werden, dass die Mobilität der Beschwerdeführerin bei Ausnutzung aller Therapieoptionen, wie Rehabilitation, Physio- und Schmerztherapie nach etwas mehr als einem Jahr wiederhergestellt sein wird. Es wäre sodann eine Nachuntersuchung vorzunehmen.

Die Angaben der Beschwerdeführerin sind somit, auch in Verbindung mit dem Sachverständigenbeweis, geeignet, die angefochtene Beurteilung zu entkräften.

Die Abweichung zur der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten gutachterlichen Schlussfolgerung, resultiert aus der geänderten rechtlichen Beurteilung. Ob der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist, stellt nämlich keine medizinische Frage, sondern eine Rechtsfrage dar und obliegt dem erkennenden Senat. Zu deren Erörterung, siehe dazu die weiteren Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung.

3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

1.       Zur Entscheidung in der Sache:

Der Vollständigkeit halber wird zunächst darauf hingewiesen, dass mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 22.06.2021 der Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gemäß §§ 42 und 45 Bundesbehindertengesetz idgF BGBl I Nr. 100/2018 (in der Folge kurz BBG) abgewiesen wurde. Verfahrensgegenstand ist somit nicht die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung, sondern ausschließlich die Prüfung der Voraussetzungen der Vornahme der beantragten Zusatzeintragung.

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:

§ 42 (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

§ 45 (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 47 Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpass und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“

§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, idg F BGBl II Nr. 263/2016 lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:

„§ 1 ….

(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:

1. …….

2. ……

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

-        erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder

-        erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder

-        erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder

-        eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder

-        eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d

vorliegen.
(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(6) …“

In den Erläuterungen zu § 1 Abs. 2 Z 3 zur Stammfassung der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II Nr. 495/2013 wird unter anderem - soweit im gegenständlichen Fall relevant - Folgendes ausgeführt:

"Zu § 1 Abs. 2 Z 3 (neu nunmehr § 1 Abs. 4 Z. 3, BGBl. II Nr. 263/2016):

Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.

Erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit betreffen vorrangig cardiopulmonale Funktionseinschränkungen. Bei den folgenden Einschränkungen liegt jedenfalls eine Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor:

-        arterielle Verschlusskrankheit ab II/B nach Fontaine bei fehlender therapeutischer Option

-        Herzinsuffizienz mit hochgradigen Dekompensationszeichen

-        hochgradige Rechtsherzinsuffizienz

-        Lungengerüsterkrankungen unter Langzeitsauerstofftherapie

-        COPD IV mit Langzeitsauerstofftherapie

-        Emphysem mit Langzeitsauerstofftherapie

-        mobiles Gerät mit Flüssigsauerstoff muss nachweislich benützt werden..."

Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).

Bei der Beurteilung der zumutbaren Wegstrecke geht der Verwaltungsgerichtshof von städtischen Verhältnissen und der durchschnittlichen Distanz von 300 bis 400 Metern bis zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels aus (vgl. das Erkenntnis vom 27. Mai 2014, Zl. Ro 2014/11/0013).

Mit dem Vorliegen der bei der Beschwerdeführerin objektivierten aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen vermag diese, wie in ihrer Beschwerde richtig angeführt und wie durch den vorgelegten medizinischen Befundbericht eines Facharztes für Orthopädie vom 10.06.2021 belegt, die Überschreitung der Schwelle der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im Sinne der Bestimmung des § 1 Abs. 4 Z 3 der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen darzutun.

Da festgestellt worden ist, dass die dauernden Gesundheitsschädigungen ein Ausmaß erreichen, welches die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass rechtfertigt, war spruchgemäß zu entscheiden und der angefochtene Bescheid ersatzlos zu beheben.

Die belangte Behörde wird der Beschwerdeführerin einen neuen Behindertenpass mit der beantragten Zusatzeintragung auszustellen haben.

Ein Behindertenpass ist nach § 42 Abs. 2 BBG nur dann unbefristet auszustellen, wenn keine Verbesserung des Leidenszustandes zu erwarten ist. Nachdem im Fall der Beschwerdeführerin nach der Durchführung der Operation für eine Knietotalendoprothese rechts im Oktober 2021 eine wesentliche Verbesserung des Zustandes und der Mobilität bei Ausnützung aller Therapieoptionen zu erwarten sein wird, wird dieser Behindertenpass befristet bis zum 31.12.2022 auszustellen sein.

2.       Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung

Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde, auf das über Veranlassung des Bundesverwaltungsgerichtes eingeholte medizinische Sachverständigengutachten, das auf einer persönlichen Untersuchung beruht und welches auf alle Einwände und vorgelegten Befunde der Beschwerdeführerin in fachlicher Hinsicht eingeht, und welchem die Parteien des Verfahrens im Rahmen des eingeräumten Parteiengehörs nicht substantiiert entgegengetreten sind. Die strittige Tatsachenfrage, genauer die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Beschwerdeführerin und damit verbunden die Frage der Zumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sind einem Bereich zuzuordnen, der von einem Sachverständigen zu beurteilen ist. Das Ergebnis dieser Begutachtung war, dass der Beschwerde Folge zu geben ist. All dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird. Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht entgegen.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Befristung Behindertenpass Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2244239.1.00

Im RIS seit

11.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.08.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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