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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan mangels Auseinandersetzung mit dem FluchtvorbringenSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, stammt aus der Provinz Kunduz, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er stellte am 16. Juli 2015 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Sowohl im Rahmen der polizeilichen Erstbefragung als auch bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab der Beschwerdeführer als Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass die Taliban sein Heimatdorf erobert und sodann die Jugendlichen im Dorf aufgefordert hätten, sich ihnen als Kämpfer anzuschließen. Daraufhin habe sich der Beschwerdeführer bei einem Onkel versteckt. Die Truppen der Taliban hätten in seinem Elternhaus nach ihm gesucht und seinen Vater entführt, da dieser nicht gewillt gewesen sei, den Aufenthaltsort des Beschwerdeführers bekannt zu geben. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, von den Taliban umgebracht zu werden.
3. Mit Bescheid vom 13. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise.
4. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit am 19. Oktober 2020 mündlich verkündetem Erkenntnis als unbegründet ab. Auf Antrag des Beschwerdeführers erging am 15. Februar 2021 die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses. In Bezug auf den Status des Asylberechtigten stellt das Gericht in seinem Erkenntnis fest, dass der Beschwerdeführer "im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht im gesamten Staatsgebiet aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung verfolgt werden" wird. In der Beweiswürdigung führt das Gericht dazu wie folgt aus:
"Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft vorbringen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan im gesamten Staatsgebiet aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung verfolgt werden würde.
Im Besonderen vermochte der Beschwerdeführer keine eine Blutfehde begründende Tat durch ihn selbst oder druch einen seiner Familienangehörigen vorzubringen, die eine landesweit drohende Gefahr von Vergeltungsschlägen aus Gründen der Blutrache gegen den Täter oder dessen Familienangehörigen hervorrufen würde.
Diese Beurteilung stützt sich im Besonderen aufgrund der in das Beschwerdeverfahren eingeführten nachvollziehbaren und mit Ermittlungsergebnissen belegten Gutachten eines beim Bundesverwaltungsgerichtes seit vielen Jahren eingesetzten anerkannten und seriösen Sachverständigen. Seine Einschätzungen stehen im Einklang mit den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Informationsunterlagen über die politischen, gesellschaftlichen und menschenrechtlichen Verhältnisse in Afghanistan.
Aufgrund dieser Informationen ergibt sich, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative vor der Gefahr eines Vergeltungsschlages aus Gründen der Blutrache gegen einen Täter oder (wenn dieser nicht habhaft gemacht werden kann, subsidiär) dessen Familienangehörigen, die aufgrund einer Tötung, schwerwiegenden Körperverletzung oder eine Ehrverletzung drohen würde, grundsätzlich nicht gegeben ist. Diese Gefahr kann letztlich über Generationen hinweg bestehen, wenn der Vergeltungsakt nicht - wie regelmäßig - zeitnah erfolgen konnte, aber nur aus dem Grund, weil sich die faktische Gelegenheit hierzu bislang nicht ergeben hat.
Diese Einschätzung korrespondiert auch mit der Beurteilung anderer in diesen Verfahren eingeführten seriösen und allgemein anerkannten Quellen bezüglich der Maßgeblichkeit einer Verfolgungsgefahr durch die Taliban, die sich als Paschtunen im Besonderen den Konventionen der Blutfehde verpflichtet sehen. In den von den staatlichen afghanischen Behörden kontrollierten Gebieten, insbesondere in Kabul und in auch anderen Großstädten in Afghanistan wie Herat oder Mazar-e Sharif sehen die Taliban, sofern kein Fall einer Blutfehde vorliegt, bei Abwägung des Risikos (so auch, wenn sich jemand der Zwangrekrutierung entzieht oder sich dieser verweigert) regelmäßig davon ab, ihre Gegner dort zu verfolgen, da sie die sie treffende Gefahr als zu hoch ansehen. Dagegen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten gehen diese regelmäßig zeitnah ohne weiteres Zuwarten gegen von ihnen als Gegner wahrgenommene Personen vor.
Ebenso ist das Phänomen der Zwangsrekrutierung durch die Taliban und der Flucht von Männern vor dieser in die von der afghanischen Regierung kontrollierten Gebiete in Afghanistan derart allgegenwärtig, dass auch keine Informationen über Verfolgungshandlungen von Seiten der afghanischen Regierung gegen diese Binnenflüchtlinge im Wissen der Zwangssituation, der diese meist Jugendlichen durch die Taliban ausgesetzt waren, vorliegen.
Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu einer Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan war daher vor dem Hintergrund der dargelegten Informationen zu Afghanistan, im Besonderen zur Blutrache, auch im Zusammenhang mit der Verweigerung der Zwangsrekrutierung oder der Entziehung von dieser, kein Grund ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan Vergeltungsschlägen aus Gründen der Blutfehde ausgesetzt sein sollte.
Sonstige asylwürdige Gründe sind auch nicht hervorgekommen. Allein aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer nun seit knapp über fünf Jahren in Europa gelebt hat, droht ihm keine Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan.
Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu einer Verfolgungsgefahr im Falle eine Rückkehr nach Afghanistan konnte daher vor dem Hintergrund der in das Verfahren eingeführten Informationen zu Afghanistan, im Besonderen zur Blutrache, im Ergebnis nicht gefolgt werden."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen und auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Das Gericht stellt zunächst lediglich pauschal fest, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht verfolgt werden würde. Sodann führt es in der Beweiswürdigung dazu aus, dass der Beschwerdeführer keine eine Blutfehde begründende Tat vorbringen habe können, und dass den im Verfahren herangezogenen Gutachten zufolge in Fällen der Verfolgung auf Grund einer Blutfehde eine innerstaatliche Fluchtalternative grundsätzlich nicht gegeben sei. Sofern kein Fall einer Blutfehde vorliege, würden die Taliban von einer Verfolgung ihrer Gegner in den von den staatlichen afghanischen Behörden kontrollierten Gebieten, insbesondere in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, regelmäßig absehen. Dies treffe auch im Falle einer Zwangsrekrutierung zu. Das Phänomen der Zwangsrekrutierung durch die Taliban und die Flucht der von dieser Betroffenen sei in Afghanistan derart allgegenwärtig, dass keine Informationen über Verfolgungshandlungen von Seiten der afghanischen Regierung gegen diese Binnenflüchtlinge vorliegen würden. Daher sei aus dem Vorbringen vor dem Hintergrund der Länderinformationen zur Blutrache und auch im Zusammenhang mit der Verweigerung der Zwangsrekrutierung kein Grund ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr Vergeltungsschlägen aus Gründen der Blutfehde ausgesetzt sein werde.
3.2. Soweit sich diese Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes auf die Verneinung einer asylrelevanten Verfolgung des Beschwerdeführers auf Grund einer Blutfehde bzw der Ausübung der Blutrache beziehen, ist diesen entgegenzuhalten, dass nach Durchsicht der vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakten kein Hinweis darauf besteht, dass ein diesbezügliches Vorbringen vom Beschwerdeführer je erstattet wurde. Sofern sich das Gericht allerdings mit dem tatsächlich vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgrund der (angedrohten) Zwangsrekrutierung durch die Taliban befasst, handelt es sich nicht um eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Vorbringen des Beschwerdeführers: Die diesbezügliche Beweiswürdigung der angefochtenen Entscheidung erschöpft sich in einer Aneinanderreihung von floskelhaften, aus Textbausteinen zusammengesetzten Passagen ohne für den vorliegenden Einzelfall nachvollziehbaren Begründungswert (vgl VfGH 9.6.2017, E3235/2016; 21.9.2017, E786/2017; 11.6.2018, E836/2018; 26.2.2019, E4675/2018 ua). Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ist daher bereits aus diesen Gründen aufzuheben.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, RückkehrentscheidungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E986.2021Zuletzt aktualisiert am
11.08.2021