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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Abweisung eines Antrages auf Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Asylverfahrens durch einen Richter männlichen Geschlechts im Hinblick auf den behaupteten Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung betreffend eine ZwangsverheiratungSpruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Beschluss in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Beschluss wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin, eine serbische Staatsangehörige, stellte am 11. Juli 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie damit begründete, dass ihr Vater sie 2018 mit einem österreichischen Staatsangehörigen zwangsverheiratet habe und sie sich nun scheiden lassen wolle, weshalb sie im Falle einer Rückkehr nach Serbien befürchte, von ihrem Vater umgebracht zu werden. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) brachte die Beschwerdeführerin zudem vor, dass sie befürchte, von ihrem Vater in Serbien abermals zwangsverheiratet zu werden.
2. Mit Schreiben vom 23. Dezember 2020 beantragte die Beschwerdeführerin die Wiederaufnahme des durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. Mai 2020, ZG 310 2223710-1/3E, abgeschlossenen Asylverfahrens. Diesen Antrag der Beschwerdeführerin wies das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 8. Jänner 2021 als unbegründet ab, wobei die Entscheidung durch einen Richter männlichen Geschlechts erfolgte.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
4. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.
II. Rechtslage
1. §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."
2. §6 der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2020 bis 31. Jänner 2021 lautet:
"§6. Unzuständigkeit
(1) Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn
1. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht zugewiesen hätte werden dürfen;
2. sie oder er als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender in der betreffenden Rechtssache nach §6 VwGVG iVm. §7 AVG befangen ist; in diesem Fall hat sich die Richterin oder der Richter unter Anzeige an den Präsidenten und bei Richterinnen und Richtern einer Außenstelle (§§16 bis 18) bei gleichzeitiger Mitteilung an die Leiterin oder den Leiter der Außenstelle in der betreffenden Rechtssache der weiteren Ausübung des Amtes zu enthalten (§27);
3. ihr/ihm zwei oder mehrere Rechtssachen zwar ursprünglich zu Recht zugewiesen worden sind, sich nachträglich aber durch die Zuweisung einer weiteren Rechtssache ergibt, dass sie im Sinne des §34 Abs4 AsylG 2005 mit dieser weiteren Rechtssache unter einem zu führen sind;
4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;
5. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache nach den Bestimmungen der jeweils bei der Zuweisung geltenden Geschäftsverteilung nicht zugewiesen hätte werden dürfen (zB wegen Annexität).
(2) Ist eine Richterin oder ein Richter als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 unzuständig und wird aus diesem Grund diese Rechtssache erneut zugewiesen, so verliert sie oder er damit gleichzeitig auch die Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex sind oder zu denen diese Rechtssache annex ist.
(3) Die Wahrnehmung der Unzuständigkeit der Richterinnen und Richter und das weitere Verfahren richten sich nach den diesbezüglichen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bundesverwaltungsgerichtes."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes unter anderem dann verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).
Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Verwaltungsbehörde die Einvernahme durch Organwalter des anderen Geschlechts und vor dem Bundesverwaltungsgericht die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts (vgl VfSlg 20.260/2018 und bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua).
2.2. Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Einvernahme vor dem BFA sowie in ihrem Antrag auf Wiederaufnahme des durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. Mai 2020, ZG 310 2223710-1/3E, abgeschlossenen Verfahrens als Fluchtgrund vorgebracht, dass ihr in ihrem Herkunftsstaat Serbien eine Zwangsverheiratung durch ihren Vater drohe. Sie hat damit der Sache nach einen drohenden Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des §20 AsylG 2005 behauptet (s dazu VfSlg 20.260/2018; vgl auch VfGH 12.6.2015, U1099/2013 ua; 18.9.2015, E1003/2014 mwN; 26.11.2018, E196/2018; 26.2.2019, E2425/2018 ua; 24.2.2020, E3107/2019).
2.3. Indem das Bundesverwaltungsgericht über den Wiederaufnahmeantrag der Beschwerdeführerin durch einen Richter männlichen Geschlechts entschieden hat, obgleich §20 Abs2 AsylG 2005 im vorliegenden Fall anzuwenden war, hat es die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (VfSlg 19.671/2012, 20.260/2018).
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch den angefochtenen Beschluss im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Beschluss ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a Abs1 iVm §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.
Schlagworte
Asylrecht, Wiederaufnahme, Gericht Zusammensetzung, BundesverwaltungsgerichtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E357.2021Zuletzt aktualisiert am
12.08.2021