TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/7 E4359/2020 ua

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Veröffentlicht am 07.06.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §34, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Setzung einer knapp einwöchigen Frist zur Stellungnahme zu Länderberichten und Privat- und Familienleben nach mehr als einjähriger Untätigkeit des Bundesverwaltungsgericht betreffend die Abweisung von Anträgen auf internationalen Schutz einer Familie von Staatsangehörigen von Afghanistan; mangelhaftes Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Nachfluchtgrundes der westlichen Orientierung zum Entscheidungszeitpunkt, mangelhafter Auseinandersetzung mit den Länderberichten insbesondere zu Familien mit (minderjährigen) Kindern und (Schul-)Bildung sowie Aktenwidrigkeit

Spruch

I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.531,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und bekennen sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Sie stammen aus der afghanischen Provinz Kabul, Distrikt Paghman, wo sie bis zu ihrer Ausreise in den Iran gelebt haben. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind miteinander verheiratet und Eltern der Dritt- und Sechstbeschwerdeführer sowie der Viert-, Fünft- und Siebtbeschwerdeführerinnen. Die beschwerdeführenden Parteien sind zirka im Jahr 2012 aus Afghanistan ausgereist und haben danach bis zur Einreise nach Österreich im Iran gelebt. Die Zweitbeschwerdeführerin stellte für sich und die fünf minderjährigen Kinder am 6. November 2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am 25. November 2015 stellte der Erstbeschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheiden vom 7. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) die Anträge auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten als auch von subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ jeweils eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2019 mit Erkenntnis vom 30. Oktober 2020 als unbegründet ab.

3.1. Die von den beschwerdeführenden Parteien, insbesondere dem Erstbeschwerdeführer, ins Treffen geführte Bedrohungssituation liege nicht vor. Bei den Zweit-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen handle es sich nicht um auf Eigenständigkeit bedachte Frauen, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert seien. Die Zweitbeschwerdeführerin könne sich zum Entscheidungszeitpunkt mit einzelnen deutschen Worten verständlich machen, ihr Leben unterscheide sich nicht maßgeblich von dem bisher geführten. Die Dritt- und Sechstbeschwerdeführer und die Viert-, Fünft- und Siebtbeschwerdeführerinnen hätten keinen eigenen Fluchtgrund und hätten Afghanistan bzw den Iran gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern verlassen. Dem Sechstbeschwerdeführer und der Siebtbeschwerdeführerin drohe alleine auf Grund ihres Alters bzw vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine physische oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität. Den beschwerdeführenden Parteien drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung auf Grund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Gesinnung. Den minderjährigen, schulpflichtigen beschwerdeführenden Parteien sei ein Schulbesuch in Afghanistan möglich. Den Beschwerdeführerinnen drohe in Afghanistan keine Zwangsverheiratung, die Viertbeschwerdeführerin sei bereits verheiratet. Die beschwerdeführenden Parteien seien wegen ihres Aufenthaltes in einem westlichen Land oder ihrer Wertehaltung bei einer Rückkehr nach Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität ausgesetzt. Die beschwerdeführenden Parteien seien bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder einer Blutfehde noch einer Blutrache ausgesetzt.

3.2. Dem Fluchtvorbringen, die beschwerdeführenden Parteien würden durch die Familie eines Mädchens, mit dem der jüngere Bruder des Erstbeschwerdeführers eine unerlaubte Beziehung geführt habe, bedroht und dass beide getötet worden wären, könne nicht gefolgt werden. Aber auch für den Fall, dass das vom Erstbeschwerdeführer nicht glaubhaft gemachte Vorbringen den Tatsachen entsprechen würde, wäre dieses nicht geeignet, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen, zumal es sich bei dieser Verfolgung durch Private bzw kriminelle Dorfbewohner nicht um eine Verfolgung aus Gründen handle, die Tatbestände der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen würden.

3.3. Hinsichtlich der zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich minderjährigen Kinder seien nie individuelle Verfolgungsgründe geäußert worden. Auch gebe es keinerlei Anhaltspunkte für ein Risiko einer individuellen Verfolgung aus in ihrer Person gelegenen Gründen. Es gebe keinen vernünftigen Zweifel, dass Minderjährigen die Integration in die Gesellschaft des Herkunftsstaates ihrer Eltern möglich und zumutbar sei. Eine Zwangsverheiratung, die vom eigenen Familienverband ausgehe, drohe den Fünft- und Siebtbeschwerdeführerinnen auf Grund der liberalen Einstellung der Eltern nicht. Es sei auch kein Problem gewesen, dass sich die Viertbeschwerdeführerin ihren Ehepartner selbst ausgesucht habe.

3.4. Die Feststellungen zu den Zweit-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen als nicht am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frauen würden sich aus deren Angaben bei der belangten Behörde, in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und dem persönlichen Eindruck, der in der Beschwerdeverhandlung gewonnen werden habe können, ergeben. Sie hätten im Rahmen der mündlichen Verhandlung weder überzeugend darlegen können, dass sie einen "westlichen Lebensstil" hätten, noch, dass sie eine diesbezügliche innere Einstellung hätten und sich diese nachhaltig verfestigt hätte.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

4.1. Die ausdrücklich beantragte Zeugeneinvernahme sei unterblieben, obwohl die Zeugin nicht nur zum Integrationsgrad – die beschwerdeführenden Parteien seien mehr als integriert und engagiert – sondern auch zur Lebensweise und -einstellung, insbesondere der weiblichen Familienmitglieder, Angaben hätte machen können. Das Bundesverwaltungsgericht habe somit den Zweit-, Viert-, Fünft- und Siebtbeschwerdeführerinnen eine asylrelevante westliche Orientierung abgesprochen, ohne seiner Ermittlungs- und Begründungspflicht nachgekommen zu sein.

4.2. Darüber hinaus hätte das Bundesverwaltungsgericht zum Entscheidungszeitpunkt aktuelle, konkrete Feststellungen zur Lebensweise der beschwerdeführenden Parteien, insbesondere der weiblichen, und zum Kindeswohl treffen und diese einer rechtlichen Würdigung unterziehen müssen. Auch die von den beschwerdeführenden Parteien nachgereichten Unterlagen seien in der Entscheidung nicht vollumfänglich berücksichtigt worden bzw würden die getroffenen Feststellungen zum Teil vom Akteninhalt abweichen.

4.3. Die an die beschwerdeführenden Parteien gerichtete Aufforderung zur Stellungnahme zu den aktuellen Länderinformationen und zur COVID-19-Situation stelle zudem keine vollumfängliche Einräumung von Parteiengehör dar. Hätte sich die Aufforderung auch auf die derzeitige Lebenssituation und Integration in Österreich bezogen, so hätten maßgebliche Entwicklungen vorgebacht und umfassende Beweismittel dazu vorgelegt werden können.

4.4. Ein Rückgriff auf über ein Jahr alte Beweisergebnisse (mündliche Verhandlung) erscheine willkürlich, zumal gerade die Lebensweise junger Frauen und die persönlichen Interessen im Leben von 13- und 15-jährigen Kindern sich innerhalb eines Jahres maßgeblich ändern könnten. Indem das Bundesverwaltungsgericht sich im Jahr 2019 einen persönlichen Eindruck von der Familie verschafft, seine Entscheidung aber über ein Jahr später getroffen habe, habe keine Berücksichtigung des aktuellen Integrationsgrades, der Lebensweise und des Kindeswohles stattgefunden. Der Verfassungsgerichtshof betone in seiner ständigen Judikatur die besondere Vulnerabilität von Familien und Minderjährigen. Das Bundesverwaltungsgericht treffe keinerlei Feststellungen, die sich mit der spezifischen Situation Minderjähriger in Afghanistan befassen würden, und habe sich mit der zu erwartenden Lage der Kinder in Afghanistan nicht auseinandergesetzt. Das Kindeswohl des Sechstbeschwerdeführers und der Siebtbeschwerdeführerin sei nicht berücksichtigt worden. Weder seien sie gehört worden, noch ihre Eltern zu ihren Interessen befragt worden. Die minderjährigen Kinder hätten neun Jahre – also mehr als ihr halbes Leben – nicht mehr in Afghanistan gelebt und ihre Schulbildung außerhalb Afghanistans erhalten, wo sie auch sozialisiert worden seien. Von einer Anpassungsfähigkeit könne nicht mehr ausgegangen werden. Hinsichtlich der Siebtbeschwerdeführerin seien frauenspezifische Fluchtgründe überhaupt nicht geprüft worden. Den Eltern sei in der mündlichen Verhandlung nicht einmal eine Frage zur Situation der Kinder gestellt worden. Für alle Beschwerdeführerinnen sei zu berücksichtigen, dass sie entsprechend der aktuellen Berichtslage von höherer Bildung und einem freien Zugang zum Arbeitsmarkt – verschärft durch die COVID-19-Pandemie – ausgeschlossen sein würden.

4.5. Zum Vorbringen der Blutrache hätte sich das Bundesverwaltungsgericht mit dem vorgelegten Bestätigungsschreiben auseinandersetzen müssen. Da die Täter einer einflussreichen Familie angehört hätten, hätten die beschwerdeführenden Parteien keinen wirksamen staatlichen Schutz erhalten und würden diesen auch in Zukunft nicht erhalten. Von einer Schutzfähigkeit oder -willigkeit der afghanischen Behörden könne daher im vorliegenden Falle nicht ausgegangen werden.

5. Das BFA hat eine Gegenschrift erstattet, in der den Beschwerdebehauptungen wie folgt entgegengetreten wird:

Das Bundesverwaltungsgericht habe ein mängelfreies Verfahren geführt und sämtliche, auch zwischen der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung übermittelte Beweismittel in seine Entscheidung einbezogen. Die Entscheidung sei in nachvollziehbarer Weise auf den persönlichen Eindruck bei der mündlichen Verhandlung gestützt worden. Die Abweisung des Antrags auf Zeugeneinvernahme sei daher auch rechtlich zulässig und die Zeugeneinvernahme entbehrlich gewesen. Zudem seien die beschwerdeführenden Parteien aufgefordert worden, zu den aktuellen Länderinformationen und zur COVID-19-Situation Stellung zu beziehen. Den Parteien wäre es daher über deren gewillkürte Rechtsvertretung offen gestanden, ihre Parteienrechte zu wahren, auf den vorgebrachten Sachverhalt hinzuweisen, dazu Beweismittel vorzulegen und eine neuerliche Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen. Dies sei nicht geschehen. Das Bundesverwaltungsgericht sei daher gezwungen gewesen, von der vorhandenen Beweislage auszugehen. Das allfällige mangelhafte bzw schuldhafte Handeln des konkret mit der Durchführung der Vertretung betrauten und bevollmächtigten Rechtsberaters sei wie bei jedem anderen Vertreter auch hier den Parteien zuzurechnen. Zudem hätten die Parteien schuldhaft versäumt, innerhalb gebotener Frist einen Antrag auf Wiedereinsetzung zu stellen. Die Unterlassung erwecke den Eindruck, dass das Vorbringen einem Kalkül unterliege, durch herbeigeführte Versäumung der Ausschöpfung eines anderen Rechtsweges die Abschiebung mittels mutwilliger Inanspruchnahme der Höchstgerichte zu verschleppen, um eine Verfestigung herzustellen.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der den Beschwerdebehauptungen zusammengefasst Folgendes entgegengehalten wird:

6.1. Im Rahmen des Beweisantrages seien keine Tatsachenbehauptungen aufgestellt worden, sondern erst in der Beschwerde nachgeholt worden. Das Gericht habe sich im Rahmen der Beschwerdeverhandlung und auf Grund der vorgelegten Unterlagen einen ausreichenden Überblick über die Integration der Familie machen können, weshalb es keinen Bedarf gegeben habe, die Zeugin anzuhören. Die Beurteilung "mehr als integriert" oder "westlich orientiert" obliege dem Gericht.

6.2. Die Aufforderung zur Stellungnahme sei dem damals ausgewiesenen Rechtsvertreter zugestellt worden. Sämtliche mit der Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof vorgelegten Unterlagen und Beweise hätten schon im Rahmen des Bescheidbeschwerdeverfahrens vorgelegt werden können. Die beschwerdeführenden Parteien seien im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht verpflichtet gewesen, das Gericht bzw die Behörde umgehend über alle entscheidungsrelevanten Umstände zu informieren. Dass das Gericht auf Verdacht von sich aus tätig werde und nachfrage, ob zB die Beschwerdeführerinnen noch immer ein Kopftuch tragen würden (die Beschwerdeführerinnen würden diesbezüglich eine Verhaltensänderung behaupten), überschreite die Grenze der Ermittlungspflicht. Dort, wo es der Behörde nicht möglich sei, von sich aus und ohne Mitwirkung der Partei tätig zu werden, oder sie keine konkreten Gründe für die Durchführung weiterer Beweise habe, sei die Partei selbst zu entsprechendem Vorbringen und Beweisanbot verpflichtet. Den beschwerdeführenden Parteien sei die Möglichkeit eingeräumt worden, sich zu äußern.

6.3. Trotz der verstrichenen Zeit zwischen Beschwerdeverhandlung und Ausfertigung des Erkenntnisses sei das Gericht von einem hinreichend geklärten und aktuellen Sachverhalt ausgegangen. Eine etwaige Nichtberücksichtigung relevanter Umstände liege an der mangelnden Mitwirkung.

6.4. Im angefochtenen Erkenntnis sei beweiswürdigend dargelegt worden, warum bei den Beschwerdeführerinnen allein auf Grund ihrer Gesinnung von keiner potentiellen Gefahr einer Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat ausgegangen worden sei. Die in der Beschwerde angesprochenen Frauenthemen (mangelnde Bildung, mangelnde Arbeit, sexuelle Belästigung, fehlende Frauenrechte) seien von grundsätzlicher, weltweiter Bedeutung.

6.5. Es seien keine Gründe ersichtlich, warum die beiden mündigen minderjährigen sechst- und siebtbeschwerdeführenden Parteien – im schützenden Familienverband lebend – gefährdet sein würden. Dass die mündigen Minderjährigen in Afghanistan unter wesentlich ungünstigeren Lebensumständen leben müssten und ihre persönliche Entwicklung maßgeblich behindert sein würde, sei allenfalls im Rahmen der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen. Sie seien nicht in Österreich geboren worden, hätten sich die überwiegende Zeit außerhalb Österreichs aufgehalten, würden im Familienverband mit ihren Eltern und Geschwistern leben, seien infolgedessen mit der Sprache und den Gebräuchen des Herkunftsstaates vertraut und hätten im Iran bereits die Schule besucht; der Schulbesuch werde im Fall der Rückkehr (weiterhin) möglich sein.

6.6. Die EASO-Country Guidance seien (wenn auch nicht aus diesen Berichten zitiert und Textstellen inkludiert) herangezogen worden. Die COVID-19-Pandemie stelle für sich kein Rückkehrhindernis dar.

7. Die beschwerdeführenden Parteien haben eine Replik erstattet, in der den Äußerungen des BFA und des Bundesverwaltungsgerichtes entgegen getreten wird.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

4. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes beruht – vor dem Hintergrund des Parteivorbringens – zunächst auf einem mangelhaften Ermittlungsverfahren:

4.1. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 25. Oktober 2019 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der es die Erst- und Drittbeschwerdeführer sowie die Zweit-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen einvernommen hat. Der Sechstbeschwerdeführer und die Siebtbeschwerdeführerin wurden zwar geladen, sind auch erschienen, wurden aber – ebenso wie die Vertrauensperson, deren Einvernahme beantragt war – nicht einvernommen. Während des anhängigen Beschwerdeverfahrens haben die beschwerdeführenden Parteien laufend aktuelle Dokumente und Integrationsunterlagen, wie zB Zeugnisse, Fotos, Schulbesuchs-, Praktika- und Teilnahmebestätigungen, vorgelegt und damit ihre Bereitschaft zur Mitwirkung am Verfahren bekundet. Knapp ein Jahr nach der mündlichen Verhandlung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 16. September 2020 die beschwerdeführenden Parteien aufgefordert, "in Ergänzung zur Beschwerdeverhandlung" binnen einer Woche ab Zustellung des Schreibens zu den aktuellen Länderberichten (Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 13. November 2019, aktualisiert am 29. Juni 2020 und Kurzinformation COVID-19 in Afghanistan, der Staatendokumentation, Stand 21. Juli 2020) Stellung zu nehmen. Die Länderberichte würden auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden. Etwa einen Monat später hat das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung erlassen.

4.2. Das Bundesverwaltungsgericht hat, nachdem es nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung über ein Jahr aus ausschließlich ihm selbst zuzurechnenden Gründen untätig geblieben ist, eine bloß einwöchige Frist für eine Stellungnahme eingeräumt. Die eingeräumte Frist erweist sich im Verhältnis zur Dauer des Beschwerdeverfahrens als dermaßen kurz, dass sie den Anforderungen widerspricht, denen ein Ermittlungsverfahren aus gleichheitsrechtlicher Sicht zu genügen hat (vgl VfGH 24.11.2020, E3765/2020).

4.3. Der Verfassungsgerichtshof hat die Rechtmäßigkeit eines Erkenntnisses grundsätzlich nach jener Sach- und Rechtslage zu beurteilen, die im Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung bestanden hat (vgl VfGH 26.6.2019, E4602/2018 ua mwN).

Maßgeblich für die Gewährung von Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention sind – wie auch in §3 Abs2 AsylG 2005 zum Ausdruck kommt – nicht nur jene Gründe, die die Beschwerdeführer zum Verlassen des Herkunftsstaates bewogen haben, sondern auch jene, die zum Entscheidungszeitpunkt eine asylrelevante Verfolgung begründen können (vgl zB VfGH 21.9.2020, E4288/2019 mwN).

In der angefochtenen Entscheidung stützt sich das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich des Nachfluchtgrundes der westlichen Orientierung insbesondere auf die in der Beschwerdeverhandlung gemachten Angaben und den dabei gewonnen persönlichen Eindruck. Vor dem Hintergrund, dass sich das Bundesverwaltungsgericht vornehmlich darauf stützt, dass die Zweit-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen im Rahmen der mündlichen Verhandlung weder überzeugend darlegen hätten können, einen "westlichen Lebensstil" zu führen, noch, dass sie eine diesbezügliche innere Einstellung (nachhaltig verfestigt) hätten und dass sie nicht den Eindruck vermitteln hätten können, dass es sich um in ihrer Grundeinstellung "westlich orientierte" Frauen handle, hätte das Bundesverwaltungsgericht zum einen hinsichtlich der Siebtbeschwerdeführerin, die im Entscheidungszeitpunkt dreizehneinhalb Jahre alt war und den Großteil ihres Lebens außerhalb Afghanistans verbracht hat, überhaupt eine Einvernahme durchführen müssen und zum anderen bezüglich der anderen Beschwerdeführerinnen zeitnah zur Erlassung seiner Entscheidung gegebenenfalls eine neuerliche mündliche Verhandlung anberaumen müssen, um sich einen aktuellen, persönlichen Eindruck zu verschaffen. Nur so hätte das Bundesverwaltungsgericht in einer aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstandenden Weise die Beweiswürdigung und Beurteilung, ob den Beschwerdeführerinnen zum Zeitpunkt der Entscheidungserlassung eine asylrelevante Verfolgung auf Grund ihrer aktuellen Lebensweise droht, vornehmlich auf den in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindruck stützen können (vgl zur asylrelevanten Verfolgung im Entscheidungszeitpunkt VfSlg 19.837/2013; VfGH 5.3.2012, U1776/11; 22.2.2013, U2756/12).

4.4. Zudem beruht die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes auf Aktenwidrigkeiten: Zum Beispiel geht das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Dokumentenvorlage vom 8. Juli 2020 und der vorgelegten Heiratsurkunde davon aus, dass das Verhalten des Sechstbeschwerdeführers in der Schule wenig zufriedenstellend sei und die Viertbeschwerdeführerin in Österreich noch minderjährig eine Ehe eingegangen sei.

5. Dem Bundesverwaltungsgericht sind auch bei der Prüfung der übrigen vorgebrachten Asylgründe Fehler unterlaufen, die insgesamt die Entscheidung mit Willkür belasten:

Das Bundesverwaltungsgericht hat zum Beispiel seinen Länderfeststellungen, soweit sie sich auf die (Schul-)Bildung in Afghanistan beziehen, ausschließlich selektiv Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA mit Stand vom 29. Juni 2020 zugrunde gelegt, die mangels Vollständigkeit eine abschließende Beurteilung einer asylrelevanten Verfolgung nicht zulassen. Dabei hat es unterlassen, die relevanten Passagen des von ihm herangezogenen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA (Stand vom 21. Juli 2020, diesbezüglich unverändert zum Stand vom 29. Juni 2020) zu seinen Feststellungen zu erheben und sich mit diesen – vor dem Hintergrund des Parteivorbringens – auseinanderzusetzen (vgl VfSlg 19.646/2012 und 20.215/2017 mwN).

Zudem kommt das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Blutrache entgegen den eigenen Feststellungen (dass "sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen" kann) zum Ergebnis, dass sich aus den Länderberichten und UNHCR-Richtlinien nicht ergebe, dass "die Blutrache über den Tod des Täters hinaus währt". Im Rahmen der Wahrunterstellung hat das Bundesverwaltungsgericht die erforderliche Prüfung unterlassen, ob der Staat schutzfähig und -willig ist.

6. Im Übrigen hat es das Bundesverwaltungsgericht auch unterlassen, die spezifische Situation der beschwerdeführenden Parteien als Familie mit (minderjährigen) Kindern ausreichend zu berücksichtigen (zu den strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen vgl zB VfGH 24.11.2020, E3039/2020 ua mwN). Die angefochtene Entscheidung ist somit auch aus diesem Grund mit Willkür belastet (vgl VfGH 24.11.2020, E3039/2020 ua; 10.3.2021, E2059/2020 ua jeweils mwN).

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin kein ordnungsgemäßes, den rechtsstaatlichen Anforderungen genügendes Ermittlungsverfahren geführt sowie eine nähere Auseinandersetzung mit den vor dem Hintergrund des Parteivorbringens einschlägigen Länderberichten unterlassen, weshalb die Entscheidung schon aus diesen Gründen mit Willkür behaftet ist. Dieser Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidungen betreffend die übrigen beschwerdeführenden Parteien durch (VfSlg 19.671/2012, 19.855/2014, 20.215/2017; VfGH 24.11.2016, E1085/2016 ua; 24.11.2020, E3039/2020 ua). Das Erkenntnis ist daher zur Gänze aufzuheben.

III. Ergebnis

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 763,– und Umsatzsteuer in Höhe von € 588,60 enthalten. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Verhandlung mündliche, Fristen, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E4359.2020

Zuletzt aktualisiert am

13.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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