RS Vfgh 2021/6/7 E4359/2020 ua

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Veröffentlicht am 07.06.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §34, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Setzung einer knapp einwöchigen Frist zur Stellungnahme zu Länderberichten und Privat- und Familienleben nach mehr als einjähriger Untätigkeit des Bundesverwaltungsgericht betreffend die Abweisung von Anträgen auf internationalen Schutz einer Familie von Staatsangehörigen von Afghanistan; mangelhaftes Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Nachfluchtgrundes der westlichen Orientierung zum Entscheidungszeitpunkt, mangelhafter Auseinandersetzung mit den Länderberichten insbesondere zu Familien mit (minderjährigen) Kindern und (Schul-)Bildung sowie Aktenwidrigkeit

Rechtssatz

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hat, nachdem es nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung über ein Jahr aus ausschließlich ihm selbst zuzurechnenden Gründen untätig geblieben ist, eine bloß einwöchige Frist für eine Stellungnahme eingeräumt. Die eingeräumte Frist erweist sich im Verhältnis zur Dauer des Beschwerdeverfahrens als dermaßen kurz, dass sie den Anforderungen widerspricht, denen ein Ermittlungsverfahren aus gleichheitsrechtlicher Sicht zu genügen hat.

Vor dem Hintergrund, dass sich das BVwG hinsichtlich des Nachfluchtgrundes der westlichen Orientierung vornehmlich darauf stützt, dass die Zweit-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen im Rahmen der mündlichen Verhandlung weder überzeugend darlegen hätten können, einen "westlichen Lebensstil" zu führen, noch, dass sie eine diesbezügliche innere Einstellung (nachhaltig verfestigt) hätten und dass sie nicht den Eindruck vermitteln hätten können, dass es sich um in ihrer Grundeinstellung "westlich orientierte" Frauen handle, hätte das BVwG zum einen hinsichtlich der Siebtbeschwerdeführerin, die im Entscheidungszeitpunkt dreizehneinhalb Jahre alt war und den Großteil ihres Lebens außerhalb Afghanistans verbracht hat, überhaupt eine Einvernahme durchführen müssen und zum anderen bezüglich der anderen Beschwerdeführerinnen zeitnah zur Erlassung seiner Entscheidung gegebenenfalls eine neuerliche mündliche Verhandlung anberaumen müssen, um sich einen aktuellen, persönlichen Eindruck zu verschaffen. Nur so hätte das Bundesverwaltungsgericht in einer aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstandenden Weise die Beweiswürdigung und Beurteilung, ob den Beschwerdeführerinnen zum Zeitpunkt der Entscheidungserlassung eine asylrelevante Verfolgung auf Grund ihrer aktuellen Lebensweise droht, vornehmlich auf den in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindruck stützen können.

Die Entscheidung des BVwG beruht auf Aktenwidrigkeiten was das Verhalten des Sechstbeschwerdeführers in der Schule und die Frage, ob die Viertbeschwerdeführerin in Österreich noch minderjährig eine Ehe eingegangen sei, angeht.

Das BVwG hat zum Beispiel seinen Länderfeststellungen, soweit sie sich auf die (Schul-)Bildung in Afghanistan beziehen, ausschließlich selektiv Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA mit Stand vom 29. Juni 2020 zugrunde gelegt, die mangels Vollständigkeit eine abschließende Beurteilung einer asylrelevanten Verfolgung nicht zulassen. Dabei hat es das BVwG es auch unterlassen, die relevanten Passagen des von ihm herangezogenen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA (Stand vom 21.07.2020, diesbezüglich unverändert zum Stand vom 29.06.2020) zu seinen Feststellungen zu erheben und sich mit diesen - vor dem Hintergrund des Parteivorbringens - auseinanderzusetzen. Zudem kommt das BVwG hinsichtlich der Blutrache entgegen den eigenen Feststellungen (dass "sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen" kann) zum Ergebnis, dass sich aus den Länderberichten und UNHCR-Richtlinien nicht ergebe, dass "die Blutrache über den Tod des Täters hinaus währt". Im Rahmen der Wahrunterstellung hat das BVwG die erforderliche Prüfung unterlassen, ob der Staat schutzfähig und -willig ist.

Im Übrigen hat es das BVwG auch unterlassen, die spezifische Situation der beschwerdeführenden Parteien als Familie mit (minderjährigen) Kindern ausreichend zu berücksichtigen.

Entscheidungstexte

  • E4359/2020 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 07.06.2021 E4359/2020 ua

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Verhandlung mündliche, Fristen, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E4359.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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