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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Juli 2020, Zl. W105 2172924-1/38E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A S, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein nach den Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 13. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Amtsrevisionswerber) mit Bescheid vom 21. September 2017 vollinhaltlich abwies und mit dem es ferner keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte, eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten erließ, feststellte, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festlegte.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit Erkenntnis vom 11. September 2018 als unbegründet ab.
3 Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2018, Ra 2018/19/0581-7, wurde der dagegen erhobenen Revision die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
4 Mit Erkenntnis vom 13. März 2019, E 4259/2018-15, hob der Verfassungsgerichtshof das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes vom 11. September 2018 hinsichtlich der Abweisung der Beschwerde betreffend die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der rechtlich darauf aufbauenden Spruchpunkte infolge Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf und lehnte hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten die an ihn erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten ab.
5 In weiterer Folge wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 13. Juni 2019, Ra 2018/19/0581, die Revision hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zurück.
6 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 13. Juli 2020 erkannte das Verwaltungsgericht dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) I.), erteilte ihm eine für ein Jahr befristete Aufenthaltsberichtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunk A) II.), behob die übrigen Spruchpunkte des Bescheides des Amtsrevisionswerbers vom 21. September 2017 ersatzlos und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
7 Begründend führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, dem Mitbeteiligten sei eine Rückkehr in seine afghanische Heimatprovinz wegen der dort herrschenden volatilen Sicherheitslage und der ihm deshalb drohenden realen Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht möglich. Ebenso wenig komme für den an Asthma erkrankten und auf Medikamente angewiesenen Mitbeteiligten, der in den afghanischen Großstädten Herat und Mazar-e Sharif über keine sozialen und familiären Anknüpfungspunkte verfüge und mit keiner finanziellen Unterstützung seiner in Pakistan lebenden Angehörigen (Eltern, Geschwister, Onkel) rechnen könne, wegen der aktuellen Covid-19-Situation in Afghanistan und der erhöhten Wahrscheinlichkeit eines komplikationsbehafteten Verlaufs einer allfälligen Covid-19-Erkrankung eine innerstaatliche Fluchtalternative in Frage.
Zu dem vom Amtsrevisionswerber vorgelegten Schreiben der österreichischen Botschaft in Islamabad vom 18. Juli 2019 über die Rückreise des Mitbeteiligten nach Afghanistan über Frankreich und dem Vorbringen des Amtsrevisionswerbers, der Mitbeteiligte habe mit der nachweislichen Ausreise und Verlegung seines Lebensmittelpunktes nach Frankreich den Aberkennungstatbestand gemäß § 9 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 gesetzt bzw. seine nachfolgende Ausreise in seinen Herkunftsstaat zeige, dass seine Rückkehr dorthin zumutbar sei, wies das Verwaltungsgericht lediglich darauf hin, dass Ausschlussgründe nach § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 nicht hervorgekommen seien bzw. nicht vorlägen.
8 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Der Mitbeteiligte beantragte in seiner nach Einleitung des Vorverfahrens eingebrachten Revisionsbeantwortung die kostenpflichtige Zurück- in eventu Abweisung der Amtsrevision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 gebildeten Senat erwogen:
9 Die Amtsrevision ist im Hinblick auf das zu ihrer Zulässigkeit erstattete Vorbringen, wonach das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der individuellen Umstände des Mitbeteiligten in Bezug auf die allgemeine Covid-19 bedingte Lage im Herkunftsstaat und das daraus abgeleitete Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz die näheren Gründe für die Rückreise des Mitbeteiligten nach Afghanistan hätte klären müssen, weil nicht nachvollziehbar sei, warum der Mitbeteiligte in seinen Herkunftsstaat hätte abreisen sollen, wenn er dort - wie vom Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis angenommen - tatsächlich keine Aussicht auf Unterstützung bzw. Sicherung seiner Existenzgrundlage aus eigenem habe, wobei zu dem sich aus dem Schreiben der österreichischen Botschaft in Islamabad vom 18. Juli 2019 ergebenden Zeitpunkt der Rückreise des Mitbeteiligten wegen der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Revision mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2018 im Verfahren zu Ra 2018/19/0581 keine durchsetzbare Rückkehrentscheidung bestanden habe, zulässig; sie ist auch berechtigt.
10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Ebenso hat die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bereits klargestellt, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an Covid-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Zudem reicht nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zu alldem zuletzt etwa VwGH 26.5.2021, Ra 2021/01/0081, Rn. 10 - 12, mwN).
11 Wesentlich für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind demnach die individuellen Umstände des Asylwerbers. Kehrt ein Asylwerber während des Asylverfahrens in seinen Herkunftsstaat zurück, sind - sofern das Asylverfahren nicht nach § 24 Abs. 2a AsylG 2005 einzustellen ist - die Gründe und näheren Umstände der Rückkehr für die Beurteilung seiner individuellen Umstände wesentlich.
12 Das Verwaltungsgericht wäre daher aus Anlass des Schreibens der österreichischen Botschaft in Islamabad vom 18. Juli 2019, wonach der Mitbeteiligte zunächst nach Frankreich ausgereist und von dort nach Afghanistan zurückgekehrt sei, vor Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gehalten gewesen, die Gründe und näheren Umstände der Rückkehr des Mitbeteiligten in seinen Herkunftsstaat zur Feststellung dessen dortiger individueller Situation zu klären.
13 Da das Verwaltungsgericht dies unterlassen hat, ist das angefochtene Erkenntnis mit einem erheblichen Ermittlungsmangel behaftet.
14 Gemäß § 24 Abs. 2a AsylG 2005 ist bei freiwilliger Abreise des Fremden in den Herkunftsstaat das Asylverfahren mit seiner Ausreise einzustellen, es sei denn, der Sachverhalt ist entscheidungsreif. Ein eingestelltes Verfahren ist von Amts wegen fortzusetzen, wenn sich der Fremde nach Einstellung nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder einen Antrag auf internationalen Schutz stellt. Mit Fortsetzung des Verfahrens beginnt die Entscheidungsfrist nach § 73 Abs. 1 AVG oder § 34 Abs. 1 VwGVG zu laufen. Nach Ablauf von zwei Jahren nach Einstellung des Verfahrens ist eine Fortsetzung des Verfahrens nicht mehr zulässig.
15 Die Bestimmung des § 24 Abs. 2a AsylG 2005 gilt unter anderem für bereits vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängige Verfahren (vgl. VwGH 3.5.2018, Ra 2018/19/0020 bis 0022, Rn. 28, sowie ErläutRV 582 BlgNR 25. GP 13, wonach die Bestimmung in gleicher Weise für Verfahren gilt, die bereits vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängig sind).
16 Aus dem vom Amtsrevisionswerber dem Verwaltungsgerichtshof übermittelten Antrag des Amtsrevisionswerbers auf Wiederaufnahme des mit dem angefochtenen Erkenntnis abgeschlossenen Beschwerdeverfahrens (dem die Angaben des Mitbeteiligten gegenüber der Polizei, wonach er in Wahrheit pakistanischer Staatsangehöriger sei, zugrunde liegen) und dem in der Revisionsbeantwortung erstatteten Vorbringen des Mitbeteiligten ergibt sich, dass der Mitbeteiligte zwischenzeitig wieder in Österreich aufhältig ist. Die Voraussetzungen für eine Einstellung des Asylverfahrens gemäß § 24a Abs. 2a AsylG 2005 liegen daher nicht mehr vor.
17 Davon ausgehend erübrigt es sich, auf das Vorbringen des Amtsrevisionswerbers, das Verwaltungsgericht hätte auf Grund der im Beschwerdeverfahren übermittelten Anfrage der österreichischen Botschaft in Islamabad vom 18. Juli 2019 das Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 2a AsylG 2005 wegen freiwilliger Abreise in den Herkunftsstaat einstellen müssen, näher einzugehen.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19 Kosten waren dem Mitbeteiligten schon deshalb nicht zuzusprechen, weil er gemäß § 47 Abs. 3 VwGG nur im Fall der Abweisung der Revision Anspruch auf Aufwandersatz hätte (vgl. etwa VwGH 8.3.2021, Ra 2020/01/0278, Rn. 14, mwN).
Wien, am 16. Juli 2021
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010299.L00Im RIS seit
12.08.2021Zuletzt aktualisiert am
31.08.2021