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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der N G in W, vertreten durch Mag. Armin Windhager, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 5/9, gegen das am 25. September 2018 mündlich verkündete und mit 17. Oktober 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, G306 2190716-1/6E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung und Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1.1. Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina, stellte am 28. Juli 2017 den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
1.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Behörde) wies mit Bescheid vom 30. Jänner 2018 den Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 ab, erließ gegen die Revisionswerberin gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina gemäß § 46 FPG zulässig sei, gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab.
Die Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens komme ein höheres Gewicht zu als den privaten Interessen der Revisionswerberin an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet; eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK liege nicht vor.
2.1. Die Revisionswerberin erhob gegen den Bescheid Beschwerde, die vom Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis (mit einer hier nicht relevanten Maßgabe) abgewiesen wurde.
2.2. Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung im Wesentlichen folgenden Sachverhalt zugrunde:
Die Revisionswerberin sei seit dem 4. September 2003 - mit Unterbrechung zwischen dem 21. April und dem 29. September 2015 - durchgehend im Bundesgebiet gemeldet (gewesen). Sie halte sich immer wieder auch in Bosnien und Herzegowina auf.
Die Revisionswerberin habe (von ihrer Einreise) bis zum 2. August 2012 über einen Aufenthaltstitel für Studierende verfügt, seitdem halte sie sich ohne einen gültigen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet auf. Sie habe zwar fristgerecht (am 20. Juli 2012) einen weiteren Verlängerungsantrag gestellt, das diesbezügliche Verfahren sei jedoch „mangels Greifbarkeit“ der Revisionswerberin am 15. Juni 2015 „eingestellt“ worden.
Die Revisionswerberin sei ledig und habe keine Kinder. Sie gehe derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach, verfüge jedoch über eine Einstellungszusage. Sie lebe von den finanziellen Zuwendungen ihres Vaters. Sie habe zwischen Dezember 2006 und Jänner 2013 gelegentlich (näher erörterte) Beschäftigungen ausgeübt.
In Österreich hielten sich mehrere Verwandte der Revisionswerberin (Cousin, Cousinen und eine Tante) auf, mit denen jedoch kein gemeinsamer Wohnsitz bzw. kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Die engsten Familienangehörigen (Eltern, Bruder) lebten im Herkunftsstaat. Die Revisionswerberin habe in Österreich einen größeren Freundeskreis und sei der deutschen Sprache mächtig. Anhaltspunkte für eine tiefgreifende Integration im Bundesgebiet könnten freilich nicht festgestellt werden.
2.3. In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus:
Die Revisionswerberin halte sich kontinuierlich seit 15 Jahren in Österreich auf. Ihr Aufenthalt sei aber großteils nicht rechtmäßig gewesen, insbesondere sei sie nach Ablauf der Gültigkeit des Aufenthaltstitels im Juli 2012 unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieben.
Die familiären Bindungen der Revisionswerberin in Österreich würden dadurch relativiert, dass sie mit ihren Verwandten kein Familienleben führe. Weiters habe sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Zu ihren Gunsten seien Freundschaften mit Personen in Österreich zu berücksichtigen, allerdings könne sie die Kontakte auch vom Heimatstaat aus aufrechterhalten.
Eine gewisse Integration zeige sich an Hand der Deutschkenntnisse der Revisionswerberin, ihrer zum Teil im Inland absolvierten Ausbildung (Schule bzw. Studium) und ihrer vorgelegten Einstellungszusage. Die Zusage sei aber kein Nachweis für ihre Selbsterhaltungsfähigkeit, zumal sie seit dem Jahr 2003 fast ausschließlich von finanziellen Zuwendungen ihres Vaters lebe.
Zum Herkunftsstaat habe die Revisionswerberin weiterhin enge Bindungen, wobei sie mit ihren Eltern häufig telefoniere und diese auch regelmäßig besuche. Die in Österreich erfolgten Integrationsschritte gingen nicht über das übliche Maß hinaus. Zudem sei bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung dem öffentlichen Interesse an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ein sehr großes Gewicht beizumessen.
Im Ergebnis wögen daher die persönlichen Interessen der Revisionswerberin weniger schwer als das gegenläufige öffentliche Interesse. Die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels sei zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens trotz gewisser Integrationsmomente nicht geboten.
2.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, zu deren Zulässigkeit die Revisionswerberin - unter anderem - geltend macht, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab. Demnach sei eine Aufenthaltsbeendigung bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt nur dann verhältnismäßig, wenn die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht für die soziale und berufliche Integration genutzt worden sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Zudem sei das Verwaltungsgericht unzutreffend von einem überwiegend unrechtmäßigen Aufenthalt ausgegangen.
3.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde im Vorverfahren nicht erstattet.
4. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
Die Revision ist - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts (§ 34 Abs. 1a VwGG) - aus dem oben wiedergegebenen Grund zulässig und aus den nachfolgenden Erwägungen auch begründet.
5.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.
Die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich nehmen grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren.
Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen VwGH 8.11.2018, Ra 2016/22/0120; mwN).
5.2. Die Maßgeblichkeit der soeben aufgezeigten Judikatur (zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt) wird vom Verwaltungsgerichtshof der Sache nach auch für jene Fälle anerkannt, in denen ein Inlandsaufenthalt von insgesamt mehr als zehnjähriger Dauer einmalig für wenige Monate unterbrochen wurde (vgl. VwGH 15.1.2020, Ra 2017/22/0047).
6.1. Vorliegend hielt sich die Revisionswerberin im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung nach den unstrittigen Feststellungen des Verwaltungsgerichts - unterbrochen lediglich durch einen einmaligen längeren (ungefähr fünfmonatigen) Auslandsaufenthalt - nahezu 15 Jahre lang im Bundesgebiet auf. Dieser Aufenthalt war - auf Grund des Verlängerungsantrags vom 20. Juli 2012 (jedenfalls) bis zur „Einstellung“ des Verfahrens am 15. Juni 2015 (vgl. § 24 Abs. 1 dritter Satz NAG) und daher - entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts - für den weit überwiegenden Teil der Aufenthaltsdauer rechtmäßig.
Bei einem derart langen - noch dazu weit überwiegend rechtmäßigen - inländischen Aufenthalt ist nach der oben aufgezeigten Rechtsprechung regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen.
6.2. Vorliegend kann auch keine Rede davon sein, dass die Revisionswerberin die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, ging doch auch das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass die Revisionswerberin insbesondere die deutsche Sprache beherrsche, über eine Einstellungszusage verfüge und einen größeren Freundeskreis habe.
Zutreffend gesteht auch das Verwaltungsgericht der Revisionswerberin eine „gewisse Integration“ zu. Soweit es freilich eine „über das übliche Maß hinausgehende“ - also besonders ausgeprägte - Integration bzw. auch eine „Selbsterhaltungsfähigkeit“ als Maßstab anlegen will, übersieht es, dass nach der Rechtsprechung bei einem so langen Aufenthalt ein derart hoher Maßstab nicht anzuwenden ist (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325; 22.8.2019, Ra 2019/21/0132).
6.3. Zwar ist auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt bei Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren würden (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).
Derartige Umstände hat das Verwaltungsgericht aber - abgesehen vom teilweise unrechtmäßigen Aufenthalt, dem kein entscheidendes Gewicht zukommt (vgl. auch VwGH 25.4.2014, Ro 2014/21/0054) - nicht in Ansatz gebracht.
Auch der Vorwurf, die Revisionswerberin habe von Anfang an beabsichtigt, die Regelungen über eine geordnete Zuwanderung zu umgehen, ist bei dem festgestellten Sachverhalt (wonach die Revisionswerberin während des überwiegenden Teils ihres Aufenthalts eine Schulausbildung bzw. ein Studium betrieben und zu dem Zweck über Aufenthaltstitel verfügt hat) nicht nachvollziehbar.
7. Insgesamt steht daher das angefochtene Erkenntnis aus den dargelegten Gründen im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs. Es war deshalb zur Gänze - die weiteren Aussprüche können allein keinen Bestand haben - wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
8. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Juli 2021
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2018220282.L00Im RIS seit
13.08.2021Zuletzt aktualisiert am
13.09.2021