Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj *****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft *****, als Kinder- und Jugendhilfeträger (Vater: *****, vertreten durch die Scheer Rechtsanwalt GmbH in Wien), wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 3. Februar 2021, GZ 23 R 1/21a-77, mit dem der Teil-Beschluss des Bezirksgerichts Melk vom 16. November 2020, GZ 1 Pu 72/15s-71, teilweise abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Der 1964 geborene Unterhaltsschuldner ist seit dem Jahr 2010 arbeitslos und bezieht Notstandshilfe. Das Erstgericht spannte ihn auf die Erzielung eines Einkommens von monatlich 1.761 EUR ab 1. 7. 2017 an. Es folgte dabei den Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen, wonach es dem Unterhaltsschuldner mit 80%iger Wahrscheinlichkeit möglich gewesen sein müsste, ab 1. 7. 2017 eine Vollzeitbeschäftigung mit einem solchen Gehalt zu erhalten, „sofern er die entsprechenden Bewerbungen bei den für ihn geeigneten Dienstgebern vorgenommen hätte“. Der Sachverständige hatte die Bewerbungsunterlagen und -bemühungen des Unterhaltsschuldners analysiert. Er qualifizierte den vorgelegten Lebenslauf als „prinzipiell optisch attraktiv, prägnant und inhaltlich aufschlussreich gestaltet“ und konstatierte, dass die Bewerbungsschreiben „generell einen positiven Eindruck“ hinterließen, sah aber in „einigen Details“ Verbesserungsbedarf. So erscheine es ungünstig, im Jahr 2020 einen Lebenslauf bei 2017 enden zu lassen. Die „Fachausbildung Buchhaltung und Lohnverrechnung“ verwirre, weil kein Ausbildungsträger genannt werde. Das 30 Jahre zurückliegende Führungskräfteseminar wirke in Anbetracht des übrigen Berufs- und Ausbildungsverlaufs deplatziert. Die Bewerbungsschreiben seien unpersönlich formuliert und könnten den Eindruck eines Musterschreibens hervorrufen. Es bestehe auch der Eindruck, dass sich der Unterhaltsschuldner etwas „quer durch den Gemüsegarten“ bewerbe und dabei teils auf Ausschreibungen reagiere, die wenig bis überhaupt nichts mit seinem Bewerberprofil zu korrelieren schienen. Es liege der Verdacht nahe, dass er seine Bewerbungsbemühungen zu sehr auf „höherstehende“ Tätigkeiten fokussiere bzw seine Bewerbungsbemühungen nicht optimal auf die jeweiligen Gegebenheiten anpasse „und dann zweifellos oft als 'über- oder unterqualifiziert' zurückgewiesen wird“.
[2] Das Erstgericht sah in diesen Mängeln der Suche nach einem Arbeitsplatz eine zur Anspannung führende Fahrlässigkeit des Unterhaltsschuldners.
[3] Das Rekursgericht vermochte keine Fahrlässigkeit zu erblicken, zumal dem Unterhaltsschuldner die handwerklichen Mängel seiner Bewerbungsbemühungen erst durch das Gutachten bekannt geworden seien, und spannte den Unterhaltsschuldner aus diesem Grund nicht auf ein fiktives Einkommen von monatlich 1.761 EUR an. Es erklärte den Revisionsrekurs nachträglich für zulässig, weil klärungsbedürftig sei, ob einem arbeitssuchenden Unterhaltsschuldner das Verfassen von Bewerbungen ohne Hilfe eines professionellen Personalberaters als fahrlässiges Verhalten vorwerfbar sei, und die Bedeutung dieser Frage über den Einzelfall hinausgehe.
Rechtliche Beurteilung
[4] Der Revisionsrekurs des Minderjährigen ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.
[5] Nach dem sogenannten Anspannungsgrundsatz hat der Unterhaltsschuldner alle Kräfte anzuspannen, um seiner Verpflichtung nachkommen zu können; er muss alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einsetzen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS-Justiz RS0047686). Eine Anspannung des Unterhaltsschuldners auf ein Einkommen, das er tatsächlich nicht erzielt, aber bei zumutbarem Einsatz aller seiner Kräfte erzielen könnte, kommt nur in Betracht, wenn er pflichtwidrig zumutbare Einkunftsbemühungen unterlässt, ihn also ein Verschulden daran trifft, dass er kein oder kein höheres Erwerbseinkommen hat. Dabei genügt bereits die leicht fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer zumutbarer Einkommensbemühungen (RS0047495 [T2, T24, T29, T31]; zu Bemühungen um die Erlangung eines Arbeitsplatzes vgl auch 1 Ob 65/16i).
[6] Ob die Voraussetzungen für eine Anspannung im konkreten Fall gegeben sind oder nicht, richtet sich nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Die in diesem Zusammenhang zu beantwortenden Rechtsfragen – darunter auch jene, ob die Bemühungen des Unterhaltsschuldners, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, ausreichend sind – sind regelmäßig nicht von der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität (RS0113751 [T5, T9]; RS0007096 [T5, T7]).
[7] Die vom Rekursgericht als erheblich betrachtete Rechtsfrage lässt sich nicht allgemein, sondern nur nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls beantworten und stellt damit keine erhebliche Rechtsfrage dar. Die Verneinung einer Fahrlässigkeit des Vaters durch das Rekursgericht ist im vorliegenden Fall jedenfalls vertretbar.
Textnummer
E132404European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00059.21S.0625.000Im RIS seit
17.08.2021Zuletzt aktualisiert am
17.08.2021