TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/7 E850/2021

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Veröffentlicht am 07.06.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen des Iraks mangels Auseinandersetzung mit der Tätigkeit als Polizist vor dem Hintergrund der Länderinformationen

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, Angehöriger der arabischen Volksgruppe und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er stellte nach Einreise ins Bundesgebiet am 10. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz wegen einer Verfolgung im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Polizist. Seine Einheit habe eine Terrorgruppe verhaftet, daraufhin sei ein Angehöriger eines Inhaftierten zu ihm gekommen und habe ihn um Unterstützung beim Freikommen des Festgenommenen gebeten. Nachdem er dem nicht nachgekommen sei, sei er verfolgt und bedroht, sein Sohn entführt und ermordet worden.

2. Mit Bescheid vom 6. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten und eines subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 10. Februar 2021 als unbegründet ab. Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers sei nicht glaubhaft, im Übrigen sei ihm als gesunder und arbeitsfähiger Mann, der bis zur Ausreise in Bagdad gelebt habe und wo sich auch nach wie vor Familienangehörige aufhalten würden, eine Rückkehr in den Irak zuzumuten.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

4. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer als Polizist gearbeitet hat (angefochtenes Erkenntnis, S 13). Aus der Beweiswürdigung ergibt sich in Verbindung mit den vom Beschwerdeführer vorgelegten Dienstausweisen, einer Waffenberechtigung und einem Polizeiausweis für eine Faustfeuerwaffe sowie seinen Aussagen in der mündlichen Verhandlung, dass der Beschwerdeführer als Polizist in Bagdad tätig war.

5. Zur Beurteilung der Sicherheitslage vor Ort und der Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Irak zieht das Bundesverwaltungsgericht zwar auszugsweise folgende (Länder-)Berichte heran:

"Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Irak, 17.04.2020

EASO, Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren, September 2020

EASO, Country of Origin Information Report / Iraq: Security situation, Bagdad

ACLED, Iraq, Second Quarter 2020

ACCORD-Themendossier: Schiitische Milizen, 02.10.2020

Musings on Iraq, Security in Iraq Nov. 2020"

Das Bundesverwaltungsgericht hat es jedoch unterlassen, entsprechende Feststellungen zur Berufsgruppe der Polizisten zu treffen. Nach dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 14. Mai 2020 (S 102) sind "Übergriffe auf Regierungsziele durch den Islamischen Staat (IS) […] trotz eines generellen Rückgangs an Vorfallzahlen gestiegen (CSIS 30.11.2018). Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte sowie Mitglieder des Sicherheitsapparats sind besonders gefährdet." Auch in der EASO-Country Guidance von Jänner 2021 (S 76 f.) wird ausgeführt, dass "[m]embers of the ISF, PMU, Peshmerga and local police continue to be primary targets for ISIL. […] Accordingly, not all individuals under this profile would face the level of risk required to establish a well-founded fear of persecution. The individual assessment of whether or not there is a reasonable degree of likelihood for the applicant to face persecution should take into account risk-impacting circumstances, such as: area of work and origin (proximity to areas where ISIL continues to operate), visibility of the applicant, position within the organisation, period since leaving the forces, personal enmities, etc."

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht beachtet, dass das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 14. Mai 2020 und der EASO-Country Guidance von Jänner 2021, ua für Polizisten, Soldaten und Mitglieder des Sicherheitsapparates von einem erhöhten Risikoprofil ausgehen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, S 102 f.; EASO-Country Guidance, S 76 f.). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Polizist in Bagdad festgestellt. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Beschwerdeführer angesichts seines Vorbringens, als Polizist gearbeitet zu haben, unter das Risikoprofil fällt und ihm auf Grund dessen bei einer Rückkehr eine Verfolgung droht, fand aber mit keinem Wort statt. Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin das Parteivorbringen ignoriert und die Ermittlung des Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt unterlassen (vgl VfGH 9.6.2020, E460/2020).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E850.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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