TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/7 E3574/2020

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Veröffentlicht am 07.06.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art8
AsylG 2005 §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen seit 19 Jahre im Bundesgebiet lebenden Staatsangehörigen von China; keine ausreichende Berücksichtigung der dem Beschwerdeführer nicht anzulastenden Verfahrensdauer

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Volksrepublik China; er stellte erstmals am 11. März 2002 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er am 22. Mai 2002 zurückzog. Am 30. September 2002 stellte er einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz und zog auch diesen am 14. Mai 2003 wieder zurück. Der dennoch vom Bundesasylamt erlassene Bescheid wurde vom Unabhängigen Bundesasylsenat ersatzlos behoben.

2. Am 3. Juli 2007 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz, der vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 30. April 2008 abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen wurde. Dieses Verfahren wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. November 2015 rechtskräftig abgeschlossen; der Antrag wurde im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung wurde das Verfahren an das nunmehr zuständige Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

3. Mit Bescheid vom 18. September 2017 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in die Volksrepublik China zulässig ist, und setzte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.

4. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 22. September 2020 als unbegründet ab.

4.1. Dies begründete das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer keine Anhaltspunkte für ein im Bundesgebiet etabliertes Familienleben habe dartun können. Er halte sich nachweislich seit 2002 im Bundesgebiet auf, sein Aufenthalt sei nicht geduldet und die illegale Einreise sei zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt erfolgt. Eine Aufenthaltsbeendigung erweise sich ausnahmsweise auch nach einem über zehnjährigen Aufenthalt noch als verhältnismäßig, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Dies sei beim Beschwerdeführer festzustellen.

Der Beschwerdeführer habe sich trotz der besonders langen Aufenthaltsdauer in Österreich weder Deutschkenntnisse aneignen können, noch sei er hier jemals legal erwerbstätig gewesen, sondern beziehe seit 2007 Leistungen aus der Grundversorgung. Er habe keine gemeinnützigen Tätigkeiten verrichtet und habe zu seiner Mitgliedschaft bei einem buddhistischen Verein angegeben, diesen Verein ausschließlich zur Ausübung seiner Religion zu besuchen. Zudem habe er kaum ausgeprägte soziale Kontakte dartun können, da er sich lediglich im chinesischsprachigen Umfeld bewege. Somit sei auch sein Bezug zum Herkunftsstaat nach wie vor dominant. Den überwiegenden und prägenden Teil seiner Lebenszeit habe der Beschwerdeführer im Herkunftsland verbracht, wo auch seine Familienangehörigen leben würden. Es könne nicht festgestellt werden, dass der vierundvierzigjährige Beschwerdeführer im Herkunftsland in eine ausweglose Lage geraten würde, zumal er arbeitsfähig sei und über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet habe sich ausschließlich auf drei unbegründete Asylanträge gestützt.

4.2. Es hätten sohin letztlich keine Anhaltspunkte für eine berufliche oder soziale Integration des Beschwerdeführers in Österreich erkannt werden können, wobei auch keine familiäre oder sonst ausgeprägte private Bindung bestehe. Daran ändere auch die vorgelegte Einstellungszusage eines Geschäftslokalbetreibers nichts. Der allfällige Umstand, dass der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers die Erlernung der deutschen Sprache besonders erschwere oder verunmögliche, ändere daran nichts, zumal er auch sonst keinerlei integrative Erfolge habe dartun können.

4.3. Eine die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation habe sohin selbst unter Würdigung einer Aufenthaltsdauer von über 18 Jahren, die sich zum überwiegenden Teil auf eine überlange Verfahrensdauer zurückführen lasse, letztlich nicht erkannt werden können.

4.4. Im Ergebnis habe daher nicht festgestellt werden können, dass dem subjektiven Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Inland Vorzug gegenüber dem maßgeblichen öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art8 Abs2 EMRK) ein hoher Stellenwert zukomme, zu geben sei.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art8 EMRK, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer bereits seit mehr als 19 Jahren in Österreich aufhalte, unbescholten und mit einer überlangen Verfahrensdauer konfrontiert sei. Die Auswirkungen auf die konkrete Lebenssituation des Beschwerdeführers würden ungleich schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, die die Allgemeinheit im Falle einer Abstandnahme von der Ausweisung zu befürchten hätte.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3. Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass sich der Beschwerdeführer seit Anfang 2002 in Österreich aufhalte und zwei Asylanträge gestellt habe, die er wieder zurückgezogen habe. Am 3. Juli 2007 habe der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, den das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 18. November 2015 rechtskräftig abgewiesen habe. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung habe es das Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

3.2. Im Rahmen der rechtlichen Begründung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass sich unter Zugrundelegung der zitierten Judikatur eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise auch nach einem über zehnjährigen Aufenthalt noch als verhältnismäßig erweise, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Dies sei beim Beschwerdeführer festzustellen. Er habe sich trotz der besonders langen Aufenthaltsdauer weder Deutschkenntnisse aneignen können, noch sei er jemals legal erwerbstätig gewesen. Im Ergebnis habe eine "die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation […] selbst unter Würdigung einer Aufenthaltsdauer von über 18 Jahren, die sich zum überwiegenden Teil auf eine überlange Verfahrensdauer zurückführen lässt, letztlich nicht erkannt werden" können. Es habe daher "auch nicht festgestellt werden [können], dass dem subjektiven Interesse [des Beschwerdeführers] am Verbleib im Inland Vorzug gegenüber dem maßgeblichen öffentliche[n] Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art8 Abs2 EMRK) ein hoher Stellenwert zukommt, zu geben" sei.

3.3. Dabei verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass im Fall eines seit 19 Jahren bestehenden Aufenthaltes im Bundesgebiet eine Aufenthaltsbeendigung nur ausnahmsweise, bei Vorliegen besonderer Gründe im Lichte des Art8 EMRK gerechtfertigt ist.

3.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat – entgegen seiner eigenen Ausführungen, dass "bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen [ist]" – keine solchen besonderen Gründe dargelegt, die trotz der fast neunzehnjährigen Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers ausnahmsweise eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen. Solche, das persönliche Interesse des – strafrechtlich unbescholtenen – Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegende, Umstände sind für den Verfassungsgerichtshof nicht ersichtlich (vgl VfGH 25.2.2020, E4087/2019; 24.11.2020, E473/2020; vgl auch VfGH 27.2.2018, E3775/2017 mwN).

3.5. Soweit das Bundesverwaltungsgericht darauf hinweist, dass der Beschwerdeführer illegal eingereist sei, sich spätestens seit Jänner 2002 im Bundesgebiet aufhalte und zwei Asylanträge gestellt habe, die er beide wieder zurückgezogen habe, ändert dies nichts an dem Umstand, dass das Verfahren über den weiteren, am 3. Juli 2007 gestellten Antrag auf internationalen Schutz bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. November 2015, mehr als acht Jahre gedauert hat. Sodann sind hinsichtlich der Rückkehrentscheidung ab der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, mit dem das Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen wurde, erneut – von 18. November 2015 bis zur vorliegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. September 2020 – beinahe fünf Jahre verstrichen. Das Verfahren über diesen Antrag auf internationalen Schutz hat daher in Summe mehr als 13 Jahre gedauert (vgl zu einer zehn- bzw dreizehnjährigen Verfahrensdauer VfGH 25.2.2020, E4087/2019 und 24.11.2020, E473/2020; vgl auch VfGH 27.2.2018, E3775/2017 mwN; vgl weiters VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0117; 24.10.2019, Ra 2019/21/0177; 28.5.2020, Ra 2020/21/0056; 30.4.2020, Ra 2019/21/0134, wonach selbst fremdenrechtliches Fehlverhalten, das viele Jahre zurückliegt, an Bedeutung verliert).

3.6. Weder aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes noch aus den Akten geht hervor, dass die Verfahrensverzögerung in diesem Verfahren durch ein etwaiges Verschulden des Beschwerdeführers verursacht worden wäre. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes liegt es in der Verantwortung des Staates, die Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren so effizient führen zu können, dass nicht bis zur rechtskräftigen Entscheidung – ohne Vorliegen außergewöhnlich komplexer Rechtsfragen und ohne, dass dem Beschwerdeführer die lange Dauer des Asylverfahrens anzulasten wäre – wie hier zunächst acht und sodann hinsichtlich der Rückkehrentscheidung nochmals fünf Jahre, also insgesamt 13 Jahre, vergehen (vgl VfSlg 19.203/2010; VfGH 19.9.2014, U2377/2012; 25.2.2020, E4087/2019; 21.9.2020, E4656/2019). Es musste daher der Umstand, dass nach der behördlichen Entscheidung über den am 3. Juli 2007 gestellten Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über die Rückkehrentscheidung beinahe 13 Jahre vergangen sind, den Beschwerdeführer nicht dazu veranlassen, von einem unsicheren Aufenthaltsstatus auszugehen; vielmehr durfte die lange Verfahrensdauer die Erwartung wecken, dass nicht zwangsläufig mit einer abweisenden Entscheidung zu rechnen sei (vgl VfGH 19.9.2014, U2377/2012; 25.2.2020, E4087/2019; 21.9.2020, E4656/2019).

3.7. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht – vor dem Hintergrund der Aufenthaltsdauer von knapp 19 Jahren – die Dauer des Verfahrens und die Tatsache, dass den Beschwerdeführer an der langen Verfahrensdauer offensichtlich kein Verschulden trifft, bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung außer Betracht gelassen. Zudem hat es keine besonderen Gründe dargelegt, die trotz der fast neunzehnjährigen Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers die Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen, obwohl es auch selbst darlegt, dass es in solch einem Fall besonderer Gründe bedarf (vgl VfGH 24.11.2020, E473/2020). Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Aspekte bei der Abwägung außer Acht gelassen hat, hat es die nach Art8 EMRK gebotene Abwägung in qualifiziert rechtswidriger Weise vorgenommen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Privat- und Familienleben, Rückkehrentscheidung, Verfahrensdauer überlange

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3574.2020

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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