TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/8 E139/2021

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Veröffentlicht am 08.06.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch über vierjährige Untätigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach Durchführung einer Verhandlung und Setzung einer knapp einwöchigen Frist zur Stellungnahme zu Länderberichten und zwischenzeitlichen Änderungen des Privat- und Familienlebens betreffend die Abweisung eines Antrags eines Staatsangehörigen von Armenien auf internationalen Schutz

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger von Armenien. Er gehört der armenischen Volksgruppe an und bekennt sich zum christlich-armenischen Glauben. Die Identität steht nicht fest.

2. Am 24. Oktober 2012 stellte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 6. August 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Armenien zulässig ist, und setzte eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22. Oktober 2015 sowie nach Einholung einer Sprach- und Herkunftsanalyse – mit Erkenntnis vom 1. Dezember 2020 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten seien nicht gegeben. Dem Beschwerdeführer drohe im Herkunftsstaat keine individuelle Gefährdung, auch sei er nicht der Gefahr von Übergriffen durch extremistische Gruppierungen ausgesetzt. Es sei nicht bekannt, dass gegen den Beschwerdeführer ein Haftbefehl bestehe oder dieser von zivilen oder militärischen Behörden gesucht werde. Auch drohe ihm im Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Darin bringt der Beschwerdeführer vor, dass die Behörden willkürlich gehandelt hätten und fälschlicherweise von seiner armenischen Staatsangehörigkeit ausgingen. Er stamme aus Aserbaidschan, die Geburt sei in Aserbaidschan registriert worden. Die Behörden hätten Ermittlungen diesbezüglich unterlassen, zudem seien die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingeholten Sprachgutachten nicht geeignet, die Staatsbürgerschaft des Beschwerdeführers festzustellen.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unter-scheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungs-sphäre eingreift, liegt unter anderem im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 22. Oktober 2015 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Mit Schreiben vom 5. November 2015 wurde über Amtshilfeersuchen eine ergänzende Sprach- und Textanalyse zur Feststellung der Herkunft des Beschwerdeführers durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Deutschland, veranlasst. Der Beschwerdeführer wurde vom Ergebnis der Beweisaufnahme am 15. Juli 2016 verständigt, ihm wurde eine Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt und der Beschwerdeführer wurde gleichzeitig ersucht, allfällige, sein Privat- und Familienleben betreffende Änderungen seit Erlassung des angefochtenen Bescheides mitzuteilen und entsprechende Bescheinigungsmittel vorzulegen. Dem ist der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 27. Juli 2016 nachgekommen. Anschließend hat das Bundesverwaltungsgericht, wie aus dem Gerichtsakt ersichtlich, über vier Jahre keine weiteren Ermittlungsschritte gesetzt. Mit Schreiben vom 22. Oktober 2020, zugestellt gemäß §21 Abs8 BVwGG am 27. Oktober 2020, hat das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer ein aktuelles Länderinformationsblatt der Staatendokumentation übermittelt, eine Frist zur Stellungnahme bis zum 3. November 2020 (Einlangen beim Bundesverwaltungsgericht) eingeräumt und den Beschwerdeführer gleichzeitig ersucht, allfällige, sein Privat- und Familienleben betreffende Änderungen seit Erlassung des angefochtenen Bescheides mitzuteilen und entsprechende Bescheinigungsmittel vorzulegen. Dem ist der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 2. November 2020 samt Beilagen nachgekommen. Am 1. Dezember 2020 wurde das angefochtene Erkenntnis erlassen.

2.2. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfGH 24.11.2020, E3765/2020 mit näherer Begründung festhält, entspricht diese Vorgangsweise – die lange, ausschließlich ihm selbst zuzurechnende Untätigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und in der Folge die Einräumung einer unangemessen kurzen, nämlich knapp einwöchigen Frist für eine, umfangreiche Auseinandersetzungen mit einer fünfjährigen Entwicklung erfordernden Stellungnahme unmittelbar vor Erlassung des Erkenntnisses – nicht den Anforderungen, denen ein Ermittlungsverfahren aus gleichheitsrechtlicher Sicht zu genügen hat, sondern kommt dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und einem Ignorieren des Parteivorbringens überhaupt gleich, weshalb das Bundesverwaltungsgericht sein Erkenntnis mit Willkür belastet hat.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Verhandlung mündliche, Ermittlungsverfahren, Fristen, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E139.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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