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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 2021, Zl. L512 2168692-1/32E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: J J in T, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, stellte am 30. Jänner 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 1. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei (Spruchpunkt III.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV).
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 19. März 2021 - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet ab, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung, behob die Spruchpunkte III. bis IV. des Bescheides ersatzlos und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dem Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten zum behaupteten Ausreisegrund sei nach näherer Beweiswürdigung die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Dem Mitbeteiligten sei jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 zu erteilen. Er leide an Diabetes und es sei „als notorisch anzusehen, dass Menschen mit Diabetes ein erhöhtes Risiko haben, an einer Covid-19 Infektion zu erkranken“. Überdies leide der Mitbeteiligte „an einer verschlechterten coronaren Herzkrankheit“. Daher bestehe im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Gefahr, dass sich der Mitbeteiligte mit Covid-19 infizieren würde. Zudem sei aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen des Wirtschaftslebens und des Gesundheitssystems die Versorgungslage unzureichend. Laut den Länderberichten fehle es in Bangladesch an Ressourcen zur Versorgung von diabeteskranken Menschen. Es könne daher - und wegen der Herzerkrankung des Mitbeteiligten - „nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs bei Erkrankungen für die Personengruppe“, welcher der Mitbeteiligte angehöre, gegeben sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
6 Der Mitbeteiligte beantragte in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurück-, in eventu abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von - näher bezeichneter - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Einholung eines (medizinischen) Sachverständigengutachtens abgewichen. Aus diesem Grund ist die Revision zulässig; sie ist auch begründet.
8 In der vorliegenden Rechtssache geht es alleine um die Rechtsfrage, ob dem Drittrevisionswerber aufgrund seiner schweren Krankheit gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen ist.
9 Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 18. Dezember 2014, C-542/13, M'Bodj, Rn. 43 bis 46, einem Mitgliedstaat verwehrt ist, „Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, mit denen die in dieser Richtlinie vorgesehene Rechtsstellung einer Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen wegen der Gefahr der Verschlechterung seines Gesundheitszustands, die auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, zuerkannt wird, da solche Bestimmungen mit dieser Richtlinie nicht vereinbar sind“. Daher ist es dem nationalen Gesetzgeber - auch unter Berufung auf Art. 3 der Statusrichtlinie - verboten, Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, die einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten unabhängig von einer Verursachung durch Akteure oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat zuerkennen (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, mwH auf die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere EuGH 4.10.2018, C-652/16, Ahmedbekova).
Jedoch hat der Verwaltungsgerichtshof auch dargelegt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der Statusrichtlinie in Übereinstimmung gebracht würde, die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer - unionsrechtlich nicht geforderten - Auslegung contra legem führen würde. Damit würde der Statusrichtlinie zu Unrecht eine ihr im gegebenen Zusammenhang nicht zukommende unmittelbare Wirkung zugeschrieben. Infolge dessen sei an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten (vgl. VwGH 25.9.2019, Ra 2019/19/0399-0400, mit Verweis auf VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006).
Daher ist vorliegend - bis zur Schaffung einer unionsrechtskonformen Rechtslage durch den Gesetzgeber des AsylG 2005 - weiterhin davon auszugehen, dass eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine schwere Krankheit nach nationalem Recht des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründet (vgl. zu allem VwGH 23.4.2020, Ra 2019/01/0368-0371, mwN).
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder suizidgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 22.2.2021, Ra 2020/01/0280-0281, mwN und Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili gegen Belgien, 41738/10).
11 Ob derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen, ist eine von der Behörde bzw. vorliegend dem BVwG zu beurteilende Rechtsfrage. Diese Beurteilung setzt aber nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Falle einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraus (vgl. auch dazu VwGH, Ra 2019/01/0368-0371, mwN).
12 Die Revision rügt in diesem Zusammenhang zu Recht, dass das BVwG keinen medizinischen Sachverständigen beigezogen hat:
13 Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann „notwendig“ iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das entscheidende Organ selbst nicht verfügt (vgl. etwa VwGH 25.2.2021, Ra 2020/18/0018-0021, mwN).
14 Allein auf Basis der vom Mitbeteiligten vorgelegten ärztlichen Befunde und ohne Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen ist - worauf die Amtsrevision zutreffend hinweist - weder erkennbar noch überprüfbar, ob derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen, dass der Mitbeteiligte mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt.
15 Dasselbe gilt für die Frage, ob im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die eine Verletzung der nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers bewirken würden (vgl. zur Covid-19-Pandemie etwa VwGH 10.9.2020, Ra 2020/01/0181, mwN).
16 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 12. Juli 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 62013CJ0542 M'Bodj VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010114.L00Im RIS seit
09.08.2021Zuletzt aktualisiert am
14.09.2021