TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/26 W123 2152930-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.01.2021
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Entscheidungsdatum

26.01.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W123 2152929-1/17E
W123 2152930-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerden

1.       des XXXX (im Folgenden: Erstbeschwerdeführer), geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.03.2017, Zl. 1092506000-151641104 (W123 2152929-1), und

2.       des XXXX (im Folgenden: Zweitbeschwerdeführer), geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.03.2017, Zl. 1092507705-151641210,

beide vertreten durch RA Mag. Julia KOLDA,

nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer stellte am 28.10.2015, der Zweitbeschwerdeführer am 02.11.2015, jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der jeweils am selben Tag durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachten die Beschwerdeführer zum Fluchtgrund vor, dass ihr Vater von den Taliban entführt worden sei und ihr Onkel sie (aus Angst) aus Afghanistan weggeschickt habe.

3. Am 15.12.2017 erfolgten die jeweiligen Einvernahmen der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde.

3.1. Das Niederschrift zur Befragung des Erstbeschwerdeführers lautet auszugsweise:

„[…]

Wenn ich nun aufgefordert werde meine Flucht- und Asylgründe zu schildern, gebe ich an:

VP: Mein Vater war ein Angestellter bei der Gemeinde/Distrikt XXXX . Er hatte ein Kleinbus gehabt, in welchem 15 Fahrgäste Platz hatten und ist selbst nach Kabul gefahren. Er transportierte aber keine Personen, sondern transportierte Solaraggregate und Getreide von Kabul nach Daikundi. Beim letzten Mal ist er mit seinen Kollegen, es waren ca. 8 Personen, nach Kabul gefahren und wurden auf der Strecke von den Taliban entführt. Ich war damals ca. 14 Jahre alt. Ich und meinen Mutter machten ca. 2 Monate später eine Vermisstenanzeige bei der Polizei im Dorf XXXX , da wir da noch nicht wussten, dass die Taliban verantwortlich waren. Wir fragten auch später öfter bei der Polizei nach, ob es schon etwas Neues über meinen Vater gäbe. Ca. 4 Monate nach der Anzeige, wurden ein paar der Kollegen meines Vaters gegen Lösegeld freigelassen. Mein Onkel hat mir das erzählt. Ich und meine Mutter gingen dann wieder zur Polizei und machten eine erneute Anzeige. Die Polizei sagte, wir sollen uns keine Sorgen machen und sagten auch, dass wir es schon vorher hätten sagen sollen, dass mein Vater von den Taliban entführt wurde. Die Polizei traute sich auch nicht in unser Dorf, weil dort die Taliban waren.

LA: Seit wann waren in Ihrem Dorf die Taliban?

VP: Die Taliban waren Nachbarn unseres Dorfes. Sie lebten in einem Dorf Ich glaube namens XXXX , welches an der Grenze zu Helmand lag. Unser Dorf war durch einen Berg von diesem Dorf getrennt. Mein Vater wusste schon damals, dass wenn die Taliban erfahren würden, welche Arbeit er tätigte, er deswegen Probleme mit denen bekommen würde. Er hat aber trotzdem weitergearbeitet.

LA: Erzählen Sie weiter.

VP: Ca. 1 Woche vor meiner Ausreise, sagte mein Onkel zu mir und meinen Bruder, dass wir nach XXXX (Hauptstadt von Daikundi) gehen sollen um dort Reisepässe zu beantragen. Wir stellten dort auch einen Antrag und uns wurde gesagt, dass es ca. 3 Tage dauern würde. Ich rief darauf meinen Onkel an und er sagte, dass 3 Tage zu lange wären und die Taliban uns finden würden. Mein Onkel war zu diesem Zeitpunkt in Kabul, weil er als Coiffeur arbeitete und sagte, dass wir zu ihm nach Kabul kommen sollen. Ich und mein Bruder sind dann mit dem Bus nach Kabul gefahren. Mein Onkel organisierte einen Schlepper in Kabul. Als wir in Kabul ankamen, sind wir dann sofort mit dem Schlepper nach Pakistan gereist.

LA: Sind Sie oder Ihr Bruder je persönlich von einem Taliban bedroht worden?

VP: Nein, weil wir geflohen sind.

[…]

3.2. Das Niederschrift zur Befragung des Zweitbeschwerdeführers lautet auszugsweise:

„[…]

Wenn ich nun aufgefordert werde meine Flucht- und Asylgründe zu schildern, gebe ich an:

VP:

Die Taliban haben meinen Vater entführt. Wir hatten auch immer Angst vor denen, wir konnten nicht zur Schule gehen. Die Taliban haben uns immer wieder bedroht.

LA: Wie sah diese Drohung eigentlich aus?

VP: Wir sollen nicht in die Schule gehen. Laut den Taliban sollten wir die Koranschule besuchen. Die Dorfbewohner und auch mein Vater haben es erzählt.

LA: Schildern Sie mir alles, was Sie von der Entführung Ihres Vaters wissen?

VP: Mein Vater hat für die Gemeinde gearbeitet. Er wurde von den Taliban ausspioniert und diese haben Ihn dann entführt. Er fuhr öfters nach Kabul und rief uns immer an, wenn er unterwegs war. Doch das letzte Mal rief er nicht an und wir konnten ihn auch nicht erreichen. Mein Bruder fuhr alleine mit dem Motorrad zur Polizei nach XXXX / XXXX und hat mit den Polizisten gesprochen.

Anm. Die VP redet sehr schnell und emotionslos.

LA: Wie oft fuhr Ihr Bruder dorthin?

VP. Er fuhr mehrmals dorthin. Ich weiß nicht genau wie oft?

LA: Was genau wollte er dort?

VP: Er suchte Hilfe bei der Polizei. Die Polizei konnte uns aber nicht helfen. Sie sagten wir sollen einfach warten.

LA: Wann erfuhren Sie oder Ihr Bruder, dass Ihr Vater von den Taliban entführt wurde.

VP: Mein Onkel hat das erfahren.

LA: Wie lange war Ihr Vater bereits verschwunden, als es Ihr Onkel erfuhr.

VP. Ca. 5-6 Monate

LA: Erzählen Sie weiter.

VP: Wir bekamen danach Angst, gingen auch zur Polizei und machten eine Anzeige, jedoch sagte die Polizei, dass Sie nicht helfen können. Ca. 3 Tage nachdem wir von unserem Onkel, die schlechte Nachricht erfuhren haben wir unser Heimatdorf verlassen. Wir sind dann nach XXXX gefahren und haben dort Reisepässe beantragt. Dieses hätte aber 3 Tage gedauert. Mein Onkel sagte zu uns am Telefon, dass es zulange dauert und wir deshalb nach Kabul kommen sollen. Nach XXXX fuhren wir mit dem öffentlichen Bus und von dort mit einem Kleinbus, welcher durch einen Bekannten meines Onkels gelenkt wurde, weiter nach Kabul. Auf dem Weg in XXXX , eine Hochburg der Taliban, wurden wir von den Taliban angehalten, jedoch konnten wir gleich wieder weiterfahren.

LA: Sind Sie oder Ihr Bruder je persönlich von den Taliban bedroht worden?

VP: Nein

LA: Woher haben Sie erfahren, dass Sie und Ihr Bruder von den Taliban gesucht werden würden?

VP: Mein Onkel hat es uns erzählt. Er erfuhr es von den Kollegen meines Vaters, welche freigekauft wurden.

LA: Warum hat man eigentlich für Ihren Vater kein Lösegeld verlangt?

VP: Ich habe keine Ahnung. Ich glaube weil er für die Regierung gearbeitet hat.

LA: Wissen Sie ob Ihr Vater oder ein anderes Familienmitglied einmal Probleme in Ihrem Heimatort mit den Taliban hatte?

VP: Nein, ich weiß es nicht.

[…]“

4. Die belangte Behörde wies mit den im Spruch angeführten Bescheiden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.03.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

5. Mit Schriftsätzen vom 03.04.2017 erhoben die Beschwerdeführer jeweils fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der Bescheide der belangten Behörde. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Beschwerdeführer in das Blickfeld der Taliban geraten seien, nachdem Mitglieder der Taliban den Vater der Beschwerdeführer aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit für die Gemeinde und somit für die Regierung entführt hätten und dieser seither verschollen sei. Die belangte Behörde habe sich an keiner Stelle der angefochtenen Bescheide mit der Tätigkeit des Vaters für die Regierung und in weiterer Folge mit der Frage auseinandergesetzt, ob und in welchem Umfang die Taliban Verfolgungshandlungen gegen Familienangehörige ihrer (vermeintlichen) politischen und religiösen Gegner setzen würden. Der Grund für die Entführung sei darin gelegen, dass der Vater der Beschwerdeführer für die Regierung Transportarbeiten ausgeführt habe und daher von den Taliban als Feind angesehen worden sei. Auch seien die Beschwerdeführer aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit bei einer Rückkehr in ihr Heimatland einer asylrelevanten Gefahr ausgesetzt.

6. Am 08.01.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Verhandlung statt.

7. Mit Schriftsatz vom 25.01.2021 erstatteten die Beschwerdeführer eine Stellungnahme und wiesen insbesondere auf eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom Juni 2020 hin. Die Beschwerdeführer wären im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer verinnerlichten westlichen Lebensweise und konfessionslosen Einstellung und Überzeugung einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen/Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan und gehören der Volksgruppe der Hazara an. Die Beschwerdeführer sind in der Provinz Daikundi, Distrikt XXXX , geboren und aufgewachsen. Der Erstbeschwerdeführer besuchte acht Jahre, der Zweitbeschwerdeführer sechs Jahre die Grundschule im Distrikt XXXX .

Im Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführer aus Afghanistan lebten die Mutter des Erstbeschwerdeführers, die Mutter des Zweitbeschwerdeführers, zwei Schwestern und vier Brüder der Beschwerdeführer in Afghanistan. Ferner ein Onkel väterlicherseits, der die Ausreise der Beschwerdeführer organisierte.

Die Beschwerdeführer waren nie politisch tätig und gehörten nie einer politischen Partei an. Sie waren in Afghanistan weder vorbestraft noch inhaftiert.

Die Beschwerdeführer konnten nicht glaubhaft machen, dass sie bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wären bzw. ein besonderes Interesse an der Person der Beschwerdeführer besteht bzw. bestehen könnte. Insbesondere konnten die Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen, dass ihr Vater tatsächlich aus politischen Gründen von den Taliban entführt worden ist.

Die Beschwerdeführer konnten ferner nicht glaubhaft machen, dass sie tatsächlich vom Islam abgefallen wären, insbesondere haben die Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt in Österreich etwas Kritisches zum Islam publiziert.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

1.2.1. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020

17 Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 16.12.2020

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 06.10.2020; vgl. AA 16.07.2020).

Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.07.2020; vgl. CIA 06.10.2020, USDOS 10.06.2020).

Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.06.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.08.2019; vgl. BBC 11.04.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.06.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.06.2020; vgl. FH 04.03.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.06.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.07.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.06.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.06.2020; vgl. AA 16.07.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.06.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 08.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.06.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.06.2020; vgl. AA 16.07.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.06.2020).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.06.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.06.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.06.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.06.2020).

Anmerkung: Zu Konversion, Apostasie und Blasphemie siehe die jeweiligen Unterkapitel des Kapitels Religionsfreiheit

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 10.06.2020).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.03.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 10.06.2020; vgl. FH 04.03.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 10.06.2020).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 10.06.2020). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 10.06.2020).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 10.06.2020).

17.1 Schiiten

Letzte Änderung: 16.12.2020

DerAnteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 06.10.2020; vgl. AA 16.07.2020). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 10.06.2020).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 16.07.2020).

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 10 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35% gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte). Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu sieben der zehn Vorfälle und gab an, dass diese auf die religiöse Minderheit der schiitischen Muslime ausgerichtet waren (USDOS 10.06.2020). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristische Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 04.02.2019; vgl. USDOS 21.06.2019, CRS 01.05.2019).

Die schiitische Hazara-Gemeinschaft bezeichnet die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten als unzureichend. Die afghanische Regierung bemüht sich erneut um die Lösung von Sicherheitsproblemen im schiitischen Gebiet Shia Hazara Dasht-e Barchi im Westen Kabuls, das im Laufe des Jahres Ziel größerer Angriffe war, und kündigte Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) an. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; es wurde jedoch angemerkt, dass die Regierung Waffen direkt an die Wachen der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilt habe, die als mögliche Angriffsziel angesehen werden (USDOS 10.06.2020).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 04.03.2020). Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (USDOS 10.06.2020).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 08.09.2020; vgl. USIP 14.06.2018, AA 02.09.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 10.06.2020).

Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten, Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 10.06.2020).

Anmerkung der Staatendokumentation: Weiterführende Informationen zu Angriffen auf schiitische Glaubensstätten, Veranstaltungen und Moscheen können dem Kapitel Sicherheitslage samt Unterkapiteln entnommen werden. Weiterführende Informationen zur mehrheitlich schiitischen Volksgruppe der Hazara finden sich im Kapitel Relevante ethnische Minderheiten im Unterkapitel Hazara.

[…]

17.4 Apostasie, Blasphemie, Konversion

Letzte Änderung: 16.12.2020

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (FH 04.03.2020; vgl AA 16.07.2020, USDOS 10.06.2020).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 16.07.2020). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 10.06.2020) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (MoJ 15.05.2017: Artikel 323).

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 10.06.2020; AA 16.07.2020); jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.06.2020) Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen (LIFOS 21.12.2017; vgl. RA KBL 10.06.2020) - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen, und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird (AA 16.07.2020). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 04.03.2020). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.03.2020).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 10.06.2020). [...]

[…]

18.3 Hazara

Letzte Änderung: 16.12.2020

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.03.2019).

Wichtiges Merkmal der ethnischen Identität der Hazara ist ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 10.07.2020). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.08.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 10.07.2020).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.07.2020; vgl. FH 04.03.2020), und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.07.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 11.03.2020). Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 04.03.2020; vgl. WP 21.03.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Clan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.03.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 10.07.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische (vorwiegend Hazara) Gemeinschaften fort. Beispielsweise griff der ISKP einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt (USDOS 11.03.2020; vgl. STDOK 10.2020). Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren aber Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Der ISKP nannte ein religiöses Motiv für den Angriff (USDOS 11.03.2020). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 10.07.2020). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.03.2018).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.09.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 11.03.2020).

Anmerkung: Ausführliche Informationen zu Angriffen auf schiitische Glaubensstätten sind dem Kapitel Sicherheitslage zu entnehmen; ausführlichere Informationen zu den Hazara können dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden. Informationen zur religiösen Gruppe der Schiiten, die auch andere Volksgruppen umfasst, können dem Unterkapitel „Schiiten“ entnommen werden.

1.2.2. ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 01.06.2017: „4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten)

XXXX vom Afghanistan Analysts Network (AAN) erläuterte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016)

„Obwohl es sicher einzelne Personen gibt, die zum Atheismus tendieren, besucht selbst der stärkste Säkularist trotz allem hin und wieder die Moschee und nimmt an bestimmten Handlungen nach altem islamischen Brauch teil. So sind Dinge, von denen man gemeinhin annimmt, dass man sie nur tun könne, wenn man vom Islam abfällt (wie z.B. Bier trinken) weiter verbreitet, als man denkt: Man kann Bier trinken und dennoch Moslem sein. Aber Atheismus als Bewegung gibt es in Afghanistan eher nicht. […]

Einfach schon zur Tarnung nimmt man weiter an traditionellen religiösen Handlungen teil. Ein Glaubensübertritt lässt sich recht gut verheimlichen, da es ohnehin viele Muslime gibt, die nicht regelmäßig die Moschee besuchen. D.h. wenn jemand nicht in die Moschee geht, kommt er nicht automatisch dadurch in den Verdacht, etwa zum Christentum übergetreten zu sein. Und zu besonderen Anlässen wie Begräbnissen und Hochzeiten geht ohnehin jeder in die Moschee. Derlei Dinge haben dann nicht mehr unbedingt religiösen Charakter. Dies macht es leichter, einen Übertritt geheim zu halten. Doch wenn ein Glaubensübertritt bekannt wird, habe ich keinen Fall gesehen, bei dem dieser toleriert wurde. Die größten Probleme, die auftreten, sind dann häufig solche mit der Familie bzw. Personen in der Nachbarschaft.“ (ACCORD, Juni 2016, S. 9)

Der Sozialwissenschaftler Michael Daxner erklärte im Expertengespräch vom Mai 2016:

„Es gab schon immer auch eine säkulare Tradition, wenn auch stets in beschränktem Umfang. Sie wird in der Regel toleriert, solange man bestimmte islamische religiöse Handlungen mitmacht und nicht agitiert. Aber es gibt auch Gegenbeispiele. So ist ein Bekannter von mir, mit dem ich 2003-2005 an hoher staatlicher Position zusammengearbeitet habe, schlichtweg wegen Säkularismus enthoben worden […].“ (ACCORD, Juni 2016, S. 9)

Wie Landinfo in einer Anfragebeantwortung vom August 2014 bemerkt, werde eine Person nicht notwendigerweise als nichtgläubig angesehen, wenn sie nicht an religiösen Handlungen im öffentlichen Raum teilnehme. Auch für strenggläubige Muslime könne es legitime Gründe geben, religiösen Zeremonien fernzubleiben. Ein Vertreter einer örtlichen Menschenrechtsorganisation habe erklärt, dass es Personen im städtischen Raum möglich sei, auf Moscheebesuche oder das Fasten während des Ramadan zu verzichten. Es gebe geografisch bedingte Unterschiede, und solche abweichenden Verhaltensweisen würden im städtischen Raum und in gebildeten Milieus eher toleriert als im ländlichen Raum.

Derselben Quelle zufolge könne es auch Unterschiede je nach ethnischer und religiöser Gruppe geben. So hätten Schiiten mehr Freiheit zu entscheiden, zu welchem Mullah sie gehen möchten und damit auch in Bezug auf die Frage, ob sie in die Moschee gehen wollen und gegebenenfalls in welche Moschee. Bei Sunniten werde in stärkerem Ausmaß erwartet, dass sie zumindest eines der fünf Gebete am Tag in einer Moschee verrichten. Nach Angaben der Quelle sei es zudem in der paschtunischen Kultur üblich, seiner religiösen Zugehörigkeit durch kulturelle Praktiken (Handlungen im Alltag) Ausdruck zu verleihen. Folglich sei es schwieriger, abweichende Haltungen zu verschleiern, und es bestehe eine geringere Toleranz für divergierende Handlungen. Andere Quellen hätten bestätigt, dass es Raum dafür gebe, auf Befolgung religiöser Rituale und Vorschriften zu verzichten, ohne dass dies notwendigerweise Aufmerksamkeit errege. In Gemeinden, wo Abweichungen von religiösen Ritualen und Vorschriften keine Akzeptanz fänden, würden Personen mit abweichenden religiösen Ansichten die Rituale befolgen, um keinen Verdacht zu erregen:

„En person oppfattes ikke nødvendigvis som ikke-troende selv om han unnlater å følge religiøse ritualer i det offentlige rom. Også for en rettroende muslim kan det være legitime grunner for å fravike ritualer. En representant for en lokal menneskerettighetsorganisasjonen mente at det i urbane områder vil være mulig å unnlate å gå i moskeen eller overholde fasten under ramadan. Det er geografiske variasjoner, og det er generelt større toleranse for avvik i urbane og utdannede miljøer, enn i rurale områder.

Ifølge kilden kan det også være variasjoner mellom ulike etniske og religiøse grupper. Kilden hevdet at shia-muslimer generelt har større valgfrihet når det gjelder hvilken mullah de ønsker å be sammen med, og dermed i større grad kan velge om de ønsker å gå til moskeen og i tilfelle hvilken. Blant sunni-muslimer er det en større forventning om at minst en av dagens fem bønner, skal gjennomføres i en moske. Kilden hevdet også at man i den pashtunske kulturen i større grad viser sin religiøse tilhørighet gjennom kulturelle praksiser, i sin daglige gjøren og laden. Det betyr at det her er vanskeligere å kamuflere og en lavere toleranse for divergerende handlinger (samtale i Kabul, oktober 2013). Andre kilder bekreftet at det er rom for å unnlate å følge religiøse ritualer og normer, uten at dette nødvendigvis vekker oppmerksomhet (samtale i Kabul, oktober 2013). I lokalsamfunn der avvik fra religiøse ritual og normer ikke aksepteres, vil personer med avvikende personlige verdier følge ritualene for å unngå at mistenksomhet oppstår (seminar Landinfo, mai 2013; samtale i Kabul, oktober 2013).“ (Landinfo, 26. August 2014, S. 4

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführer vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der bekämpften Bescheide und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die von den Beschwerdeführern vorgelegten Urkunden.

2.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zu Identität, Familienverhältnissen und Herkunft der Beschwerdeführer gründen sich auf die diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben der Beschwerdeführer vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, den Beschwerdeschriftsätzen und in der öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer aufkommen lässt.

2.2. Zu den Fluchtgründen/Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführer:

2.2.1. Zum ursprünglichen Fluchtvorbringen

2.2.1.1. Die Beschwerdeführer konnten ihren Fluchtgrund schon deshalb nicht glaubhaft machen, da der eigentliche Anlassfall, nämlich die Entführung ihres Vaters durch die Taliban, lediglich auf Vermutungen beruht bzw. die Beschwerdeführer von der Entführung auch nur über ihren Onkel erfahren hätten. Woher der Onkel der Beschwerdeführer von der Entführung Erkenntnis erlangt haben soll, konnte vom Erstbeschwerdeführer wiederum nicht näher dargelegt werden (vgl. Seite 6f Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Wieso wusste Ihr Onkel das Ihr Vater entführt wurde? BF1: Soweit ich mich erinnern kann, hat mein Onkel gesagt, dass in dem Bus welcher von den Taliban angehalten wurde viele Leute waren und sie mussten den Taliban ihre Sachen abgeben. […]“). Im Gegenteil scheinen vielmehr auch die Aussagen des Onkels der Beschwerdeführer auf Vermutungen zu beruhen (vgl. Seite 7 Verhandlungsprotokoll, arg. „BF1: […] Mein Onkel hat sich gedacht, dass unser Vater bei den Taliban ist und dass sie ihn fragen, wo er lebt und welche Familienmitglieder er hat.“).

2.2.1.2. Ferner konnten die Beschwerdeführer nicht glaubhaft darlegen, warum die Taliban ausgerechnet ihren Vater entführt haben sollen bzw. welches Ziel die Taliban mit der Entführung erreichen wollten (vgl. Seite 7 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Eine Entführung muss einen Sinn haben, ansonsten hätten die Taliban Ihren Vater ja sofort ermordet. Was hatten die Taliban mit Ihrem Vater vor? Was wollten sie durch die Entführung erreichen? BF1: Wenn jemand für die Regierung arbeitet und den Taliban nicht hilft, haben sie ihn festgenommen. Die Taliban nehmen an, dass er ein Teil der Regierung ist.“ bzw. Seite 15, arg. „R: Was bezweckten die Taliban mit der Entführung Ihres Vaters? Was wollten die Taliban damit erreichen? BF2: Das weiß keiner, was sie damit erreichen wollten. Sie machen die ganze Zeit solche Dinge. Keiner weiß, welches Ziel sie haben.“).

Der Versuch des Erstbeschwerdeführers die Entführung seines Vaters einzig damit zu begründen, dass dieser für die Regierung gearbeitet hätte (vgl. Seite 6 Verhandlungsprotokoll), vermag nicht zu überzeugen, da dieser Umstand auf eine viel größere Anzahl an potenziell gefährdeten Personen zuträfe. Der Erstbeschwerdeführer wies selbst darauf hin, dass es in der Gemeinde auch andere Mitarbeiter gegeben haben soll, die „in der gleichen Position“ wie sein Vater gewesen seien (vgl. Seite 5 Verhandlungsprotokoll). Abgesehen vom Umstand, dass beide Beschwerdeführer davon ausgingen, dass ihr Vater selbst einen Vorgesetzten in der Gemeinde gehabt habe (vgl. Seite 5 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Hatte Ihr Vater selbst einen Vorgesetzten? BF1: Bei uns nicht, ich habe es nicht gesehen. Ich denke aber, er hatte sicher einen Chef, dieser war wahrscheinlich in Kabul.“ bzw. Seite 14, arg. „R: Wissen Sie, ob Ihr Vater noch einen Vorgesetzen/Chef hatte bei der Gemeinde? BF2: Ich weiß es nicht, ich glaube schon.“). Dass aber dieser bzw. sonstige Mitarbeiter der Gemeinde ebenfalls entführt worden wären, ist im Verfahren nicht hervorgekommen (vgl. Seite 14 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Ist dem Chef auch etwas passiert? BF2: Das weiß ich nicht. R an beide BF: War Ihr Vater der einzige Gemeindeangestellte, der damals entführt wurde oder wurden noch weitere Kollegen von den Taliban mitgenommen? […] BF1: Genau weiß ich es nicht. Was ich weiß hat mein Vater einen Mitarbeiter im Dorf gehabt, ob dieser festgenommen wurde, dass weiß ich nicht. BF2: Ich weiß es leider auch nicht.“).

2.2.1.3. Für das Bundesverwaltungsgericht ist zudem nicht nachvollziehbar, wie es dem Vater der Beschwerdeführer möglich gewesen war, jahrelang (offenbar ungehindert) seinen Beruf nachgehen zu können, ohne dass es zu irgendwelchen Zwischenfällen gekommen wäre bzw. ohne dass er – vor der Entführung – jemals von den Taliban bedroht worden wäre (vgl. Seite 15 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Hatte Ihr Vater vor dieser Entführung schon einmal Probleme mit den Taliban? BF2: Nein, ich glaube nicht. Ich meine Probleme schon, weil er bei der Regierung war. Er hat immer aufgepasst, dass wir nirgendwo sagen, dass er eine wichtige Person bei der Regierung ist. Von richtigen Problemen weiß ich aber leider nichts.“). Auch seien die Taliban zu keinem Zeitpunkt zum Haus des Vaters der Beschwerdeführer gekommen, um diesen persönlich zu bedrohen (vgl. Seite 15 Verhandlungsprotokoll).

Folgte man somit dem Vorbringen der Beschwerdeführer, geschah die Entführung ihres Vaters ohne konkreten Anlassfall. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes wäre aber, insbesondere aufgrund des Umstandes, dass der Vater der Beschwerdeführer schon sehr lange für die Gemeinde gearbeitet habe (vgl. Seite 4 und 13 Verhandlungsprotokoll), viel eher davon auszugehen gewesen, dass die Taliban, für den Fall, dass der Vater der Beschwerdeführer tatsächlich eine derart wichtige Zielperson für sie gewesen wäre, diesen – vor einer Entführung bzw. Verschleppung – zumindest bedroht (etwa durch Hausbesuche) und ihm ihre Forderungen vermittelt hätten.

2.2.1.4. Der Erstbeschwerdeführer gab zudem an, dass sein Onkel letztlich aus „Angst“ die Beschwerdeführer aus Afghanistan weggeschickt hätte (vgl. Seite 7 Verhandlungsprotokoll, arg. „BF: […] Mein Onkel hat sich gedacht, dass unser Vater bei den Taliban ist und dass sie ihn fragen, wo er lebt und welche Familienmitglieder er hat. Darum hat er Angst um uns gehabt, dass wir auch festgenommen werden.“). Warum dann aber sämtliche andere Familienangehörige der Beschwerdeführer nach deren Ausreise weiterhin in ihrem Heimatdorf leben konnten, ohne dass es offenbar zu ernsthaften Bedrohungen bzw. Zwischenfällen gekommen wäre, die die restliche Familie veranlasst hätte, die Flucht zu ergreifen (vgl. Seite 8 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Nachdem Sie und Ihr Bruder geflohen sind, sind die Taliban dann jemals zu Ihnen nach Hause gekommen, um Ihre restliche Familie zu bedrohen? BF1: Das wissen wir nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie gekommen sind, weil sie meinen Vater hatten. Sie konnten Druck auf ihn ausüben, wo unsere Familie lebt.“ bzw. Seite 16, arg. „R: Wissen Sie, ob nach Ihrer Flucht mit Ihrem Bruder, Ihre restliche Familie nochmals von den Taliban bedroht wurde? BF2: Nein, das weiß ich leider nicht.“), erschließt sich für das Bundesverwaltungsgericht nicht, zumal der Erstbeschwerdeführer selbst zugestand, dass sie ebenfalls in Gefahr gewesen seien (vgl. Seite 8 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Waren Ihre Mutter und Schwester nicht in Gefahr? BF1: Ja, sie waren auch in Gefahr, aber wir konnten sie leider nicht retten.“).

2.2.1.5. Selbst unter der Annahme, dass der Vater der Beschwerdeführer tatsächlich von den Taliban entführt worden wäre, bestünde im Falle einer theoretischen Rückkehr nach Afghanistan keine aktuelle Gefahr mehr für die Beschwerdeführer. Diese Erwägung ergibt sich zum einem bereits daraus, dass für die Taliban gar kein Grund mehr bestünde, die Beschwerdeführer zu verfolgen, da sie mit der Entführung ihres Vaters ja ihr (offenkundiges) Ziel erreicht haben. Zudem liegt der behauptete Vorfall mehr als 5 ½ Jahre zurück. Der Zweitbeschwerdeführer war zum damaligen Zeitpunkt noch ein „Kind“ mit 13 Jahren. Allein schon aufgrund der (zwangsläufigen) äußerlichen Veränderung beider Beschwerdeführer in den letzten 5 ½ Jahren, erscheint eine Wiedererkennung ausgerechnet durch jene Taliban, die den Vater der Beschwerdeführer entführt haben sollen, mehr als unwahrscheinlich.

2.2.1.6. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass die Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt in Afghanistan einer persönlichen Bedrohung ausgesetzt waren (vgl. dazu bereits AS 157, arg. „LA: Sind Sie oder Ihr Bruder jemals persönlich von einem Taliban bedroht worden? VP: Nein, weil wir geflohen sind.“ sowie Seite 9 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Wurden Sie jemals persönlich von den Taliban bedroht? BF1: Nicht direkt, aber wo unsere Schule war, waren die Taliban. Unsere Adresse war fast eine Geheimadresse. Unser Vater wollte nicht, dass wir jemanden sagen wo unser Haus liegt.“) bzw. Seite 16, arg. „R: Wurden Sie jemals persönlich von den Taliban bedroht? BF2: Persönlich nicht.“).

2.2.2. Zu allfälligen Nachfluchtgründen

2.2.2.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellte dem Erstbeschwerdeführer (nach Beendigung der Befragung zu seinem ursprünglichen Fluchtgrund) ausdrücklich die Frage, ob er sonst noch etwas vorzubringen habe bzw. noch andere Fluchtgründe geltend mache (vgl. Seite 9 Verhandlungsprotokoll). Unmittelbar darauf wies der Erstbeschwerdeführer aber lediglich darauf hin, dass er „Existenzangst“ habe und als „ganz normaler Mensch“ in Afghanistan nicht „normal“ leben könne (vgl. Seite 9 Verhandlungsprotokoll). Erst über explizite Nachfrage der Rechtsvertreterin gab der Erstbeschwerdeführer (unter anderem) an, dass im Falle, dass die Leute in Afghanistan herausfänden, dass die Beschwerdeführer nicht mehr gebetet hätten, „sicher getötet“ würden (vgl. Seite 11 Verhandlungsprotokoll). In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Erstbeschwerdeführer seit über fünf Jahren in Österreich aufhält, nahezu perfekt Deutsch spricht und in der Stellungnahme vom 14.12.2020 sogar darauf hinwies, dass er und sein Bruder bereits als Kinder keine überzeugten Moslems gewesen zu sein (vgl. OZ 12), wäre jedenfalls zu erwarten gewesen, dass der Erstbeschwerdeführer für den Fall, dass er sich tatsächlich so weit vom Islam entfernt hätte, um nunmehr als de facto „Abgefallener“ oder „Abtrünniger“ qualifiziert zu werden – von sich aus (aktiv) auf einen so wichtigen Umstand, der allenfalls asylrelevante Auswirkungen haben könnte, hingewiesen hätte.

Dass der Erstbeschwerdeführer aber tatsächlich als ein vom Islam Abgefallener zu qualifizieren wäre, ist im Verfahren nicht hervorgekommen. Allein das Vorbringen, in Österreich nunmehr mit Freunden Alkohol zu trinken und die Aussage des Islams, keinen Alkohol zu trinken, als nicht richtig zu finden (vgl. Seite 11 Verhandlungsprotokoll), führt noch nicht automatisch dazu, dass der Erstbeschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in urbanen Zentren, einer akuten Bedrohung ausgesetzt wäre. Diesbezüglich ist zum einen auf die Erläuterungen von XXXX in einem Expertengespräch vom Mai 2016 zu verweisen, wonach man beispielsweise Bier trinken und dennoch Moslem sein kann. Zum anderen bemerkte Landinfo in einer Anfragebeantwortung vom August 2014, dass eine Person nicht notwendigerweise als nichtgläubig angesehen werde, wenn sie nicht an religiösen Handlungen im öffentlichen Raum teilnehme. Auch gebe es Unterschiede je nach ethnischer und religiöser Gruppe. So hätten Schiiten – im Vergleich zu Sunniten – mehr Freiheit zu entscheiden, zu welchem Mullah sie gehen möchten und damit auch in Bezug auf die Frage, ob sie in die Moschee gehen wollen und gegebenenfalls in welche Moschee (vgl. oben Länderfeststellungen, 1.2.2.).

2.2.2.2. Im Gegensatz zum Erstbeschwerdeführer wies der Zweitbeschwerdeführer auf die Frage des Bundesverwaltungsgerichtes, ob er noch andere Fluchtgründe geltend mache, zwar (von sich aus) darauf hin, jetzt „keine Religion mehr“ zu haben und an keinen Gott mehr zu glauben (vgl. Seite 16f Verhandlungsprotokoll), konnte jedoch offenbar mit den Begriffen „Atheist“ bzw. „Agnostiker“ nichts anfangen (vgl. Seite 17 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Sind Sie Atheist oder Agnostiker? Diese Frage wird dem BF2 übersetzt, diese wird in Deutsch beantwortet. BF2: Ich glaube selbst nicht an Gott, aber ich habe nicht gegen den Glauben.“). Das Bundesveraltungsgericht konnte im Rahmen der Befragung des Zweitbeschwerdeführers jedenfalls nicht den Eindruck gewinnen, dass sich der Zweitbeschwerdeführer besonders intensiv mit religionskritischen Weltanschauungen auseinandergesetzt hätte, um letztlich zum Ergebnis zu gelangen, dass er ein überzeugter Atheist oder Agnostiker wäre, zumal der Zweitbeschwerdeführer offensichtlich auch (nach wie vor) keine Probleme mit dem Islam zu haben scheint (vgl. Seite 17 Verhandlungsprotokoll, arg. „R: Haben Sie grundsätzlich etwas gegen den Islam? BF2: Nein.“). In Bezug auf das Vorbringen des Zweitbeschwerdeführers, wie sein Bruder auch Alkohol zu trinken, ist ebenfalls auf die Länderinformationen hinzuweisen (vgl. die obigen Zitate, 2.2.2.1.). Im Falle des Zweitbeschwerdeführers kommt speziell hinzu, dass dieser derzeit in einer „Brauerei“ arbeitet (vgl. Seite 18 Verhandlungsprotokoll), sodass es naheliegt, dass der Zweitbeschwerdeführer in Österreich Alkohol konsumiert. Im Falle einer theoretischen Rückkehr nach Afghanistan würde der Zweitbeschwerdeführer jedoch (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) einer anderen Beschäftigung nachgehen und könnte sich wiederum den örtlichen Verhältnissen anpassen.

2.2.2.3. Überdies haben beide Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt ihres Aufenthaltes in Österreich jemals etwas Kritisches dem Islam gegenüber publiziert (vgl. Seite 17f Verhandlungsprotokoll). Es ist daher nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan als exponierte Gegner des Islams (etwa als überzeugte Atheisten oder Agnostiker) auftreten würden. Im Übrigen geht aus der Antwort des Zweitbeschwerdeführers auf die explizite Frage der Rechtsvertreterin, ob er sich im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan wieder so anpassen könnte, dass er dort auch leben könnte (vgl. Seite 19 Verhandlungsprotokoll, arg. „BF: Nicht ganz.)“, selbst hervor, dass eine Wiedereingliederung in die Strukturen der afghanischen Gesellschaft nicht völlig ausgeschlossen wäre, andernfalls die Antwort des Zweitbeschwerdeführers klarer ausgefallen wäre (vgl. dazu auch Verfahren W123 2152930-1, AS 89, arg. „LA: Könnten Sie im Falle der Rückkehr in Ihr Herkunftsland wieder an Ihrer Wohnadresse wohnen? VP: Ja, wir können dort schon leben, jedoch gibt es keine Sicherheit. Es gibt keinen Frieden dort.“).

2.2.2.4. Generell ist zu beiden Beschwerdeführern festzuhalten, dass sich diese bereits seit Ende Oktober/Anfang November 2015 durchgehend in Österreich befinden, jedoch während des gesamten Beschwerdeverfahrens – bis zum Schriftsatz vom 14.12.2020 (vgl. W123 2152929-1/12 und W123 2152930-1/8: „Vollmachtbekanntgabe“ bzw. „Urkundenvorlage“) – keinerlei Anzeichen für allfällige Nachfluchtgründe hervorgekommen sind. Hätten die Beschwerdeführer im Zuge ihres Aufenthaltes in Österreich tatsächlich eine innere Abkehr vom Islam durchgemacht, die dazu geführt hätte, die Beschwerdeführer als „Abgefallene“ zu bezeichnen, dann wäre anzunehmen gewesen, dass die Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht in einem wesentlich früheren Stadium des Verfahrens (als ein paar Wochen vor einer anberaumten Verhandlung) entsprechende Hinweise (etwa öffentlich einsehbare kritische Standpunkte zum Islam, Austrittserklärung aus der islamischen Glaubensgemeinschaft etc.) dafür geliefert hätten. Auch erstatteten die Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens (weder in der Erstbefragung, noch im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde) ein dem Schriftsatz vom 14.12.2020 vergleichbares Vorbringen, wonach sie bereits als Kinder keine überzeugten Moslems gewesen wären.

Allein die Tatsache, dass die Beschwerdeführer eine durchaus fortschrittliche Integration in Österreich, insbesondere in sprachlicher Hinsicht, vorweisen können und überdies vermeinen, sich eine „westliche Lebensweise“ angeeignet zu haben (vgl. Vorbringen im Schriftsatz vom 14.12.2020), führt noch nicht (de facto automatisch) zum Schluss, dass sie aufgrund dieser Umstände einer individuellen Gefahr im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt wären (vgl. zur sog. „westlichen Orientierung“ überdies die rechtlichen Ausführungen, 3.4.).

2.2.2.5. Abschließend ist festzuhalten, dass auch der Hinweis auf die ACCORD-Anfragebeantwortung vom Juni 2020 am obigen Ergebnis schon deshalb nichts zu ändern vermag, da das Bundesverwaltungsgericht – im Unterschied zu der Behauptung in der Stellungnahme vom 25.01.2021 – nicht davon ausgeht, dass die Beschwerdeführer tatsächlich aus innerer Überzeugung vom Islam abgefallen wären bzw. Apostaten seien. Soweit in der Stellungnahme auf die „atheistische Grundhaltung“ der Beschwerdeführer hingewiesen wird, ist zum einen auszuführen, dass die Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein solches Vorbringen nicht erhoben. Dem Zweitbeschwerdeführer wurde sogar explizit gefragt, ob er Atheist oder Agnostiker sei. Ein diesbezügliches konkretes Vorbringen blieb der Zweitbeschwerdeführer jedoch schuldig (vgl. dazu bereits oben, 2.2.2.2.).

2.3. Zum Herkunftsstaat:

Es wurde vor allem Einsicht genommen in folgende Erkenntnisquellen des Herkunftsstaates des Beschwerdeführers:

1.       Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020

2.       ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 01.06.2017

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.2. Zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, ist auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen. Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627).

„Glaubhaftmachung“ im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK ist die Beurteilung des Vorgetragenen daraufhin, inwieweit einer vernunftbegabten Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen wohlbegründete Furcht vor Verfolgung zuzugestehen ist oder nicht. Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Zudem ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen (vgl. VwGH 09.05.1996, 95/20/0380). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, 2001/20/0006, betreffend Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 28.05.2009, 2007/19/1248; 23.01.1997, 95/20/0303) reichen für sich alleine nicht aus, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).

Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0132; 13.09.2016, Ra 2016/01/0054). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss im Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233; VwSlg. 16.084 A/2003; VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0220). Es ist für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass in der Vergangenheit eine Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn daher der Antragsteller im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212).

3.3. Die Verfolgung kann gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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