TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/29 W140 2131314-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.01.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.01.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W140 2131314-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2016, Zl. 1079758602-150940987, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 27.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 29.06.2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 27.07.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II). Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde dem BF gemäß § 8 Absatz 4 AsylG bis zum 30.06.2017 erteilt (Spruchpunkt III). Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 21.04.2017 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ein Dolmetscher für die Sprache Dari und der Vertreter des BF teilnahmen. Die Verhandlung gestaltete sich u. a. wie folgt:
„R beginnt mit Befragung von BF.

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:

R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

BF: Afghanistan.

R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?

BF: Ich bin aus Herat.

R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.

BF: Mein Name ist XXXX in der Stadt Herat geboren.

R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Ich bin Tadschike.

R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Ich bin sunnitischer Moslem.

R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Nein.

R: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich habe keine staatliche Schule besucht. Ich bin ungefähr eineinhalb bis zwei Jahre zum Koranunterricht in die Moschee, in der Stadt Herat, in der Nähe meines Wohnhauses gegangen.

R: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen? Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?

BF: Meine älteren Brüder haben neben ihrem Studium bzw. der Schule, zeitweise gearbeitet. Abgesehen davon wurden wir von meinem Onkel mütterlicherseits in der Stadt Herat unterstützt. Mein Bruder XXXX ist im Iran berufstätig und versorgt meine Familie.

R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo? Wovon lebt ihre Familie?

Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: In Herat leben meine vier Onkel sowie meine Tante mütterlicherseits. Ich habe aber zu meinen Verwandten keinen Kontakt.

R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?

BF: Nein.

R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.

Ermittlungsermächtigung:

R: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja.

R: Sie haben subsidiären Schutz erhalten wie ich aus dem Akt sehe (gilt bis zu dem 30.06.2017). Warum haben Sie Beschwerde erhoben?

BF: Ich bin nach Österreich gekommen und habe hier um Schutz angesucht. Ich hoffe, dass ich die Chance bekomme, für immer in Österreich bleiben zu dürfen. Ich bin dankbar dafür, dass ich einen befristeten Aufenthalt bekommen habe. Ich habe Beschwerde erhoben, um einen dauerhaften Titel zu erlangen.(…)

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

R: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: Als ich vor ungefähr 10 Jahren noch mit meiner Familie in Afghanistan, in der Stadt Herat gelebt habe, hat mein älterer Bruder namens XXXX Rechtswissenschaften auf der Univeristät in Herat studiert. Er war sehr gut und hat eine bestimmte Prüfung mit „Sehr Gut“ bestanden. Daraufhin entwickelte sich Neid seitens einiger Studienkollegen. Es kam zu einem Streit, bei dem mein Bruder getötet wurde. Ca. vier Monate nach diesem Vorfall, sind die Studienkollegen von XXXX meinem zweiten Bruder namens XXXX begegnet, der zwei von ihnen erschossen hat. Nach diesem Vorfall ist XXXX sofort nach Hause gekommen. Wir haben noch am selben Tag unser Haus verlassen und uns ca. zwei bis drei Nächte bei Freunden versteckt. Daraufhin sind wir als gesamte Familie in den Iran geflüchtet, wo ich acht Jahre aufhältig war. Vor Ungefähr zwei Jahren, hat mich mein Bruder XXXX nach Europa geschickt, weil er Angst davor hatte, dass wir vom Iran nach Afghanistan abgeschoben werde und mir dort die Verfolgung, seitens unserer Feinde, drohten. XXXX ist verheiratet und hat mittlerweile drei Kinder. Er konnte sich eine Flucht nach Europa nicht leisten. Abgesehen davon, könnte es sein, dass er vom Iran, nicht nach Afghanistan abgeschoben würde, weil er dort Frau und Kinder hat. Ich habe auch einen weiteren Bruder im Iran namens XXXX der ebenfalls verheiratet ist und er sich eine Reise nach Europa genauso nicht leisten konnte.

R: Wieso sollen Sie dafür verfolgt werden?

BF: Sollte ich nach Afghanistan zurückkehren und die Angehörigen der zwei getöteten Studenten mich finden und fassen, könnten sie entweder an mir Rache üben, oder durch mich die Rückkehr von meinem Bruder XXXX erpressen.

R: Wer sind diese Angehörigen der Studenten?

BF: Ich kenne keine Namen, ich weiß nur, dass sie Studienkollegen von meinem älteren Bruder XXXX waren.

R: Wie hieß die Universität?

BF: Ich weiß leider nicht wie die Universität heißt.

R: Hat es sich um eine staatliche oder private Universität gehandelt?

BF: Er hat eine staatliche Universität besucht.

R: In welchem Jahr fand die Ermordung der zwei Studenten statt?

BF: Mein Bruder und die beiden anderen Studenten sind alle im selben Jahr, vor ungefähr neun oder zehn Jahren, gestorben.

R: Haben Sie sonst noch Details zu der Universität oder zu den Verstorbenen?

BF: Ich weis leider nur, dass die zwei getöteten Studenten Studienkollegen von meinem ermordeten Bruder waren, dass sie aus der Stadt Herat waren und zugehörig zur Volksgruppe der Tadschiken waren.

R: Ich werde im Zusammenhang mit dem von Ihnen vorgebrachten Sachverhalt ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben, um die von Ihnen angegeben Details zu überprüfen.

BF: Meine Angaben entsprechen der Wahrheit, ich werde meinen Bruder im Iran kontaktieren und ihn noch einmal zu diesem Fall befragen. Falls ich weitere wichtige Informationen bekomme, werde ich diese über meinen Rechtsvertreter dem Gericht zukommen lassen.(…)“

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.04.2017 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.

Mit Bescheid des BFA vom 23.06.2017 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung - als subsidiär Schutzberechtigter - bis zum 30.06.2019 verlängert.

Mit Parteiengehör vom 24.04.2019 wurde dem BF die Möglichkeit gegeben, allfällige neue Unterlagen binnen einer Frist von zwei Wochen vorzulegen.

Mit Eingabe vom 06.05.2019 legte der BF eine Lohn-Gehaltsabrechnung von Jänner bis April 2019, eine Kursbestätigung „Kompetenzcheck berufliche Integration - junge Männer“ vom 13.12.2018, eine Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs vom 03.10.2018, ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 16.07.2018 sowie eine Kursbestätigung des bfi vom 25.10.2018, 06.07.2018 und vom 16.03.2018 vor.

Mit Eingabe vom 21.01.2021 erstattete die Sachverständige nachstehendes Gutachten:

„1.      Einleitung:

Laut Rechercheauftrag sind die in der Niederschrift vom 21.04.2017 gemachten Aussagen des Herrn XXXX , zu seinen Fluchtgründen zu überprüfen. Hiermit wird dem BVwG das Ergebnis der Recherche übermittelt.

2.       Zusammenfassung der Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Herkunft und Identität

Der Beschwerdeführer, Herr XXXX gab in seinem Asylverfahren zu seiner Identität und Herkunft an, dass er XXXX in Afghanistan, in der Provinz Herat, in der Stadt Herat geboren sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadjiken an und sei Moslem der sunnitischen Glaubensgemeinschaft. Er sei weder verheiratet, noch habe er Kinder. Auch lebe er, wie er in seiner Einvernahme 21.04.2017 angab, in keiner dauernden Lebensgemeinschaft. Zu seiner Schulbildung habe Herr XXXX an, dass er keine staatliche Schule besucht habe, jedoch eineinhalb bis zwei Jahre am Koranunterricht in einer Moschee, in der Nähe seines Wohnhauses teilgenommen habe. Den Lebensunterhalt für die Familie haben in Afghanistan seine Brüder, welche neben ihrem Studium bzw. dem Schulbesuch durch zeitweise Arbeit bestritten. Zudem sei die Familie durch den Onkel mütterlicherseits unterstützt worden. Bei seiner Einvernahme am 21.04.2017 erklärte Herr XXXX , dass sein Bruder namens XXXX im Iran berufstätig sei und die Familie versorge. Ergänzend gab der Beschwerdeführer an, dass in Afghanistan seine vier Onkel sowie seine Tante mütterlicherseits leben würden, er jedoch zu seinen Verwandten keinen Kontakt habe.

3.       Zusammenfassung der Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen

In der Einvernahme vom 21.04.2017 vor dem BvWG gab der Beschwerdeführer an, dass er vor etwa 10 Jahren mit seiner Familie in der Stadt Herat gelebt habe und sein Bruder XXXX an der Universität in Herat studiert habe und als guter Student eine der Prüfungen mit „Sehr gut“ bestanden habe, woraus sich Neid unter den Studienkollegen entwickelt habe und dies zu einem Streit geführt habe, bei dem der Bruder des Beschwerdeführers getötet worden sei. Nach etwa vier Monaten habe der zweite Bruder des Herrn XXXX , namens XXXX bei einer Begegnung mit den Studienkollegen des ermordeten Bruders XXXX , zwei von diesen erschossen. XXXX sei nach diesem Vorfall sofort nach Hause gegangen und der Beschwerdeführer habe noch am gleichen Tag gemeinsam mit XXXX das Haus verlassen und sich zunächst zwei bis drei Tage bei Freunden versteckt. Daraufhin sei die gesamte Familie gemeinsam in den Iran geflüchtet, wo der Beschwerdeführer etwa acht Jahre gelebt habe. Von dort habe der Bruder XXXX den Beschwerdeführer nach Europa geschickt, da er eine Abschiebung des BF nach Afghanistan, wo diesem eine Feindschaft gedroht haben soll, befürchtete.

4.       Ergebnis der Recherchen

Für die Durchführung der Recherchen zum Auftrag „Die in der Niederschrift vom 21.04.2017 gemachten Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen sind zu überprüfen“ sprach ich mit meiner in Afghanistan lebenden Kontaktperson, Herrn (…) und bat diesen, Informationen im Zusammenhang mit den Aussagen des Herrn XXXX zu beschaffen. Ich ersuchte meine Kontaktperson, in der Stadt Herat Befragungen von Personen an der rechtswissenschaftlichen Fakultät durchzuführen. Zunächst wurde in der Verwaltung der Universität um Informationen über einen Studenten der Rechtswissenschaften namens XXXX aus dem Jahr 2007 gebeten. Aus der Verwaltungsabteilung wurde meiner Kontaktperson mitgeteilt, dass im Jahr 2007 eine Vielzahl an Studierenden mit dem Namen XXXX an der rechtswissenschaftlichen Fakultät studiert hätten. Einige hätten diesen Namen als Beinamen zu einem anderen Vornamen getragen, bei einigen anderen wiederum sei XXXX der einzige Vorname gewesen. Mangels Detailangaben zu Kommilitonen des Bruders des Beschwerdeführers, sowie zu den zwei seitens des Bruders des Beschwerdeführers namens XXXX ermordeten Studenten, konnte das Verwaltungsbüro der Universität keine konkreten Informationen im Archiv ausfindig machen. Überdies erklärte der Mitarbeiter dieses Büros, dass die Datenarchivierung an den Universitäten nicht elektronisch erfasst wurde und demnach das Haus über keine Identitätsdaten von Studenten aus diesem Jahr verfügt. Es wurde meiner Kontaktperson mitgeteilt, dass grundsätzlich die Daten der Studenten archiviert werden, da aber ein Großteil der Universitäten in ganz Afghanistan von Plünderungen betroffen war, ist es nicht mehr möglich, an Informationen über ehemalige Studenten heranzukommen. Ergänzend wurde angegeben, dass ein Student ausschließlich persönlich und mit einem Personaldokument an der Universität erscheinen muss, um Informationen zu seinem Studium erhalten zu können, vorausgesetzt diese sind im Archiv zu finden. Da dieser Verwaltungsmitarbeiter zum Zeitpunkt der durch den BF geschilderten Geschehnisse nicht im Amt war, erbat er eine einwöchige Frist, um sich intern Informationen zu diesem Vorfall zu beschaffen. Er gab jedoch an, dass ihm persönlich eine solche Gewalttat zwischen Studenten nicht bekannt sei. Beim nächsten Besuch von Herrn(…) an der Universität teilte ihm dieser Verwaltungsmitarbeiter mit, dass Bedienstete der Universität, die jedenfalls im Jahr 2007 an dieser Bildungsstätte tätig waren, nichts über einen Vorfall, bei dem ein Student der Rechtswissenschaften aus Neid von seinen Mitstudierenden getötet worden sei, berichten konnten. Auch sei den Lehrenden der Universität nichts über die Racheaktion vom Bruder des vermeintlich ermordeten Studenten an den vermeintlichen Mördern bekannt.

Bei dieser Gelegenheit fügte der Verwaltungsmitarbeiter hinzu, dass über Gewalttaten an der Universität oder durch Studierende des Hauses gesondert eine Archivierung geführt werde. Auch würden solche Fälle der Polizei bekanntgegeben. Da die Universität selbst über keine Dokumente zu so einem Fall aus dem Jahr 2007 verfügen würde, riet er meiner Kontaktperson, in der Polizeistation weitere Erhebungen durchzuführen.

Somit wandte sich meine Kontaktperson an die Hauptkommandatur der Stadt Herat. Er fragte, ohne Angaben von Namen, über etwaige Dokumentationen von Tötungen von mindestens drei Studenten im Jahr 2007. Auch diese Recherche führte zu dem Ergebnis, dass ein solcher Vorfall keine Bestätigung gefunden hat.“

Mit Parteiengehör vom 21.01.2021 wurde dem BF und der belangten Behörde das Gutachten mit der Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.

Mit Bescheid des BFA vom 25.06.2019 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung - als subsidiär Schutzberechtigter - bis zum 30.06.2021 verlängert.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF, ein afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken sowie dem sunnitischen Islam an. Der BF wurde in der Stadt Herat geboren. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Der BF besuchte keine staatliche Schule. Der BF ging ca. zwei Jahre zum Koranunterricht in die Moschee in der Nähe seines Wohnhauses in der Stadt Herat. Der Lebensunterhalt der Familie wurde durch den älteren Bruder des BF, der zeitweise arbeitete, den Onkel des BF mütterlicherseits in der Stadt Herat sowie durch den Bruder des BF, der im Iran arbeitete, bestritten. Als der BF ungefähr zehn Jahre alt war, zog die gesamte Familie in den Iran. Die Familie des BF lebt nach wie vor im Iran in Teheran. Der BF ist unbescholten.

Dem BF wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Mit Bescheid des BFA vom 25.06.2019 wurde dem BF zuletzt die befristete Aufenthaltsberechtigung - als subsidiär Schutzberechtigter - bis zum 30.06.2021 verlängert.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Gründe, die eine Verfolgung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht und sind nicht hervorgekommen. Das vom BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

Der vom BF vorgebrachten Bedrohung durch die Angehörigen der zwei getöteten Studenten konnte aufgrund des Sachverständigengutachtens keine Glaubwürdigkeit geschenkt werden.

Dem BF ist es nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgung maßgeblicher Intensität - die ihre Ursache in einem der GFK genannten Gründe hätte - glaubhaft zu machen.


1.3. Zur Lage in der Islamischen Republik Afghanistan:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004; USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist Personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Rgierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).

(Auszug Länderinformation 16.12.2020, Kapitel 4).


Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar Bewegungsfreiheit2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes HalbJahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.07.2020).


High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kbul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020 vgl.; BBC 25.03.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020, USDOD 6.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):


Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020, AnA 28.07.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020, RFE/RL 02.06.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 09.06.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 02.06.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 01.06.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.09.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020), UNSC 27.05.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

(Auszug Länderinformation 16.12.2020, Kapitel 5).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an.

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo 1, Kapitel 4).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020) und verfügt über Kontakte zu IS (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.05.2020).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk (RA KBL 12.10.2020).

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019). Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt (RA KBL 12.10.2020).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. (RA KBL 12.10.2020). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.05.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020, UNGASC 17.03.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des VorJahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.02.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (RA KBL 12.10.2020; vgl. AnA 30.04.2020, HRW 06.04.2020), und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (RA KBL 12.10.2020).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen.

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführersind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019). Einer Quelle zufolge hat Al-Qaida weniger Macht als in den letzten Jahren (RA KBL 12.10.2020b). Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in zwölf Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).

Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).

(Auszug Länderinformation 16.12.2020, Kapitel 5).

Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Rechtsschutz / Justizwesen

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anmerkung), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004). In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten (USDOS 10.06.2020). Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht (REU 24.11.2018).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anmerkung: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (APE 3.2017). Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen – einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen un

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten