TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/11 W251 2238243-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.02.2021
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Entscheidungsdatum

11.02.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W251 2171369-1/32E

W251 2171370-1/34E

W251 2171366-1/30E
W251 2171364-1/38E

W251 2238243-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1) Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , StA Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.12.2020 zu Zl. 1268769401-200882430:

A)

Das Verfahren wird wegen Zurückziehung der Beschwerde betreffend Spruchpunkt I. gemäß § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX geb. XXXX und 5) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen die Spruchpunkt II. bis VI. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.09.2017 zu 1.) Zl. 1089354403 - 151463375, 2.) Zl. 1089354305 - 151463338, 3.) Zl. 1089353406 - 151463451, und 4.) Zl. 1157540010 – 170737973 sowie 5.) vom 17.12.2020 zu Zl. 1268769401-200882430 zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

III. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. und VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten – abgesehen vom Viertbeschwerdeführer und der Fünftbeschwerdeführerin – gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 30.09.2015 bzw. am 21.06.2017 (Viertbeschwerdeführer) die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Diese haben zwei leibliche Söhne, den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer und eine leibliche Tochter, die Fünftbeschwerdeführerin.

2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 30.09.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass sie in Afghanistan ohne Einverständnis ihrer Eltern heimlich geheiratet hätten und deshalb nicht mehr in Afghanistan haben leben können. Sie hätten die Ehre ihrer Familie verletzt und seien von ihren Familien beschimpft, bespuckt und sehr schlecht behandelt worden, weshalb sie schließlich Afghanistan verlassen haben.

3. Am 30.05.2017 wurden der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin gaben zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass die Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan von ihrem Onkel geschlagen worden sei und dieser ihr den Schulbesuch verboten habe. Zudem hätte sie einen seiner Söhne heiraten sollen. Da der Erstbeschwerdeführer gemerkt habe, wie die Zweitbeschwerdeführerin unter ihrem Onkel gelitten habe, habe er sie entführt bzw. sei sie mit ihm zu seiner Familie geflohen. Sie hätten dann heimlich ohne Einverständnis ihrer Familien geheiratet und bei der Familie des Erstbeschwerdeführers gewohnt. Nach ca. einem bzw. eineinhalb Monaten habe die Zweitbeschwerdeführerin ihrer Mutter von den Ereignissen erzählt und sie habe ihre Familie immer wieder besucht. Eines Tages habe ihr Onkel herausgefunden, wo die Zweitbeschwerde-führerin lebe. Er habe sie dann untertags – als der Erstbeschwerdeführer arbeiten gewesen sei – öfters aufgesucht und geschlagen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe ihrem Mann zunächst nichts davon erzählt. Aus Angst ihr Onkel werde ihrem Kind etwas antun, habe sie schließlich Afghanistan mit ihrem Mann verlassen.

Hinsichtlich des Drittbeschwerdeführers wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

4. Am XXXX wurde der Viertbeschwerdeführer in Österreich geboren. Er ist der Sohn des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin. Für ihn wurde mit Schriftsatz vom 21.06.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Zugleich wurde in der Stellungnahme ausgeführt, dass sich die Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet Afghanistans äußerst prekär darstelle. Der Familie sei aufgrund der asylrelevanten Verfolgung als Mitglieder der sozialen Gruppe derjenigen, die sich häuslicher Gewalt, Diskriminierung von Frauen und Mädchen und unfreiwilliger Eheschließungen widersetzt hätten und deswegen bedroht worden seien, Asyl zu gewähren. In eventu sei ihnen zumindest jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren.

5. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführer keine asylrelevanten Fluchtgründe geltend bzw. glaubhaft gemacht hätten. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die Beschwerdeführer verfügen über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und sei es dem Erstbeschwerdeführer als junger gesunder Mann durchaus zumutbar durch Aufnahme von Tätigkeiten auch außerhalb seiner Heimatprovinz den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Beschwerdeführer würden in Österreich – abgesehen voneinander – zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass es unzulässig sei ihnen eine Steigerung ihres Vorbringens vorzuwerfen, weil ihre Aussagen zu ihren Fluchtgründen in der Einvernahme beim Bundesamt zwangsläufig detaillierter und umfassender gewesen seien als ihre diesbezüglich knappen Angaben in der Erstbefragung. Zudem habe das Bundesamt die Stellungnahme der Beschwerdeführer vom 21.06.2017 ignoriert, wodurch das Recht der Beschwerdeführer auf Wahrung des rechtlichen Gehörs verletzt worden sei. Das Bundesamt habe sich nicht damit beschäftigt, dass die Verfolgung der Zweitbeschwerdeführerin als politisch motiviert zu betrachten sei, denn ihr Handeln sei zweifelsohne Ausdruck einer Haltung, die entschieden der in Afghanistan üblichen Tradition, dass Familien bestimmen, wen ein Mädchen zu heiraten habe, widersprechen. Zudem sei sie als Angehörige einer eigenen sozialen Gruppe der Genfer Flüchtlingskonvention zu subsumieren. Eine Rückkehr nach Afghanistan würde für die gesamte Familie eine Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK darstellen, weswegen den Beschwerdeführern jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren sei.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.03.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

8. Mit Stellungnahme vom 11.03.2019 wurde vorgebracht, dass die Zweitbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung gestresst und überfordert gewesen sei, weshalb es zu Irrtümern bezüglich der medizinischen, notwendigen Untersuchungen des Viertbeschwerdeführers gekommen sei. Der Drittbeschwerdeführer mache wegen einer Entwicklungsverzögerung eine Physiotherapie. Die Beschwerdeführer würden in Afghanistan über keine relevanten Netzwerke verfügen, die sie tatsächlich und realistisch unterstützen könnten. Mit einer Rückschiebung wären die Kinder in ihren verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten verletzt. Zudem sei zu bezweifeln, dass der Erstbeschwerdeführer als Alleinverdiener in der Lage sei, sowohl sich als auch seine Familie zu ernähren. Den Beschwerdeführern sei aufgrund ihrer westlichen Wertehaltung Asyl zu gewähren, jedenfalls sei ihnen subsidiärer Schutz zu gewähren oder eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären. Unter einem wurden medizinische Unterlagen betreffend den Dritt- und Viertbeschwerdeführer vorgelegt.

9. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.03.2019 wurde ein Sachverständiger aus dem Fachgebiet Kinder- und Jugendheilkunde, Kinderkardiologie, zur schriftlichen Gutachtenserstellung betreffend den Viertbeschwerdeführer, der ein persistierendes Foramen ovale (PFO) und eine geringfügige Insuffizienz der Trikuspidalklappe aufweist, die als nicht relevant eingestuft wurde, bestellt. Gemäß dem erstatteten medizinischen Gutachten vom 02.05.2019 sind in aller Regel keine spezifischen Behandlungen, sondern lediglich regelmäßige kinderkardiologische Kontrollen inklusive Herzultraschall erforderlich. Es besteht beim Viertbeschwerdeführer keinerlei körperliche oder geistige Einschränkung, lediglich Tiefseetauchen ist nicht erlaubt. Es ist weder mit nachteiligen Folgen zu rechnen noch ist eine spezifische medizinische Behandlung, Operation oder Therapie erforderlich.

Mit Parteiengehör vom 09.05.2019 wurde den Parteien das medizinische Gutachten zur Stellungnahme übermittelt. Mit Schriftsatz vom 20.05.2019 brachten die Beschwerdeführer vor, dass eine Abschiebung nach Afghanistan in Anbetracht der Erkrankung des Viertbeschwerdeführers und der mangelnden Behandlungsmöglichkeiten jedenfalls zu einer gravierenden Reduzierung seiner Lebenserwartung, möglicherweise auch zu einer akut lebensbedrohlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes führen würde.

10. Mit Parteiengehör vom 20.05.2019 wurde den Parteien die Möglichkeit gegeben zur Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 Stellung zu nehmen sowie aufgetragen bekannt zu geben, ob sich seit der letzten Verhandlung etwas an ihren Angaben, an ihrer Situation in Österreich bzw. im Herkunftsland oder an der Situation in Afghanistan geändert hat.

Mit Stellungnahme der Beschwerdeführer vom 29.05.2019 wurde vorgebracht, dass viele Menschenrechtsverletzungen betreffend Kinder in Afghanistan aus den Länderberichten hervorgehen würden. Den Kindern wäre keine Bildungsmöglichkeit oder eine entsprechende medizinische oder psychosoziale Leistung gewährleistet. Die Verwandten der Beschwerdeführer – zu denen kein bzw. ein nur sehr begrenzter Kontakt bestehe – seien nicht willig die Beschwerdeführer zu unterstützen. Es sei fraglich, ob die Beschwerdeführer Zugang zu ihrem Eigentumshaus aufgrund der hohen Korruptionsrate in Afghanistan erlangen könnten.

11. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.09.2019 wurden die Beschwerden der Beschwerdeführer als unbegründet abgewiesen.

12. Die Beschwerdeführer erhoben gegen dieses Erkenntnis Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 09.12.2020 wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.09.2019 insofern aufgehoben, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurden.

13. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Sie ist die Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin. Für sie wurde am 17.09.2020 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mit Bescheid vom 17.12.2020 wurde der Antrag der Fünftbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen (Spruchpunkt I. und II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist und eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise gewährt.

14. Der Beschwerdeführervertreter zog die Beschwerde der Fünftbeschwerdeführerin betreffend Spruchpunkt I. (Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten) mit Schriftsatz vom 02.02.2021 zurück.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Diese haben zwei leibliche Söhne, den Drittbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt, und den Viertbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben eine leibliche Tochter, die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 AS 1, 139 ff; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 AS 1, 141 ff; Verhandlungsprotokoll vom 04.03.2019 = VP, S. 10 f, 34).

Der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul geboren und ist dort im Bezirk XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern (ein Bruder und zwei Schwestern) in einem Eigentumshaus aufgewachsen (BF 1 AS 5, 139; VP, S. 12 f). Er ist mit seiner Familie nicht umgezogen. Der Erstbeschwerdeführer hat fünf Jahre lang eine Schule in Kabul besucht. Danach hat er den Beruf des Schweißers gelernt und hat zwölf Jahre diesen Beruf als Selbständiger ausgeübt. Er hatte einige Verträge mit Organisationen für die er Arbeiten durchgeführt hat (BF 1 AS 1, 143, 151; VP, S. 11). Der Beschwerdeführer ist in seiner Freizeit viel gereist (nach Pakistan, in den Iran, nach Syrien, in den Irak und nach Dubai) (VP, S. 13). Seine finanzielle Situation war durchschnittlich. Der Erstbeschwerdeführer hat sich in Kabul ein Grundstück gekauft und darauf ein Haus gebaut (VP, S. 11).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Stadt Kabul geboren und ist dort im Stadtteil XXXX gemeinsam mit ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern (ein Bruder und eine Schwester) im Eigentumshaus ihres Vaters aufgewachsen (VP, S. 37). Sie ist mit ihrer Familie nicht umgezogen. Der angebliche Onkel väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführer hat nie im Haus ihrer Familie gewohnt. Die Zweitbeschwerdeführerin hat keine Schule besucht, sie ist Analphabetin. Ihr Vater und ihr Bruder sind für den Lebensunterhalt ihrer Familie aufgekommen. Sie selbst hat nicht gearbeitet (BF 2 AS 1, 145 f; VP, S. 34, 36).

1.1.4. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben ca. Ende 2012/Anfang 2013 traditionell geheiratet (BF 1 AS 155; BF 2 AS 157). Es hat sich dabei nicht um eine heimliche, gegen den Willen der Familien erfolgte Eheschließung gehandelt. Die Familien des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin waren mit der Heirat einverstanden. Die Zweitbeschwerdeführerin ist nach der Heirat zum Erstbeschwerdeführer ins Haus seiner Familie für ca. ein bis zwei Monate gezogen. Danach sind der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin in das Eigentumshaus des Erstbeschwerdeführers gezogen. Der Sohn des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin – der Drittbeschwerdeführer - wurde am XXXX in Afghanistan geboren. Der Erstbeschwerdeführer hat den Unterhalt für seine Ehefrau und seinen Sohn bestritten. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer haben Afghanistan ca. im August 2015 verlassen (BF 1 AS 7; BF 2 AS 7; VP, S. 14, 37).

Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 30.09.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am XXXX wurde der Viertbeschwerdeführer in Österreich geboren.

1.1.5. Der Erstbeschwerdeführer verfügt in Kabul im XXXX im Ort XXXX noch über sein Grundstück und sein darauf befindliches Eigentumshaus. Das gesamte Grundstück ist ca. 300 m2 groß. Das darauf gelegene Eigentumshaus des Erstbeschwerdeführers verfügt über zwei Zimmer und Wasserleitungen und fließendem Wasser im Haus. Im Garten gibt es Bäume. Derzeit wohnt die Schwester des Beschwerdeführers samt ihrer Familie darin. Die Schwester des Erstbeschwerdeführers baut Gemüse für den Eigengebrauch im Garten an (VP, S. 11, 18, 40).

1.1.6. Die Eltern des Erstbeschwerdeführers leben nach wie vor in Kabul in ihrem Eigentumshaus (VP, S. 17). Der Vater des Erstbeschwerdeführers hatte ein Geschäftslokal in dem er gebrauchte Kleidung neu einfärbte. Die Mutter des Erstbeschwerdeführers hat gearbeitet, sie hat Falten (Plisee) in Burkas gelegt (VP, S. 17).

Die ältere Schwester des Erstbeschwerdeführers ist verheiratet und wohnt samt ihrem Ehemann und ihrem Sohn im Eigentumshaus des Erstbeschwerdeführers. Sie ist Hausfrau und kümmert sich um ihren Sohn (VP, S. 14 f), ihr Ehemann arbeitet als Autolackierer (VP, S. 18).

Die jüngere Schwester des Erstbeschwerdeführers ist nicht verheiratet und lebt bei ihren Eltern. Sie besucht die Schule sowie Englischkurse (VP, S. 14 f).

Weder der Bruder des Erstbeschwerdeführers noch dessen Ehefrau sind bereits verstorben. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern im Haus seiner Eltern (VP, S. 15 f). Die Schwägerin des Erstbeschwerdeführers ist die älteste Tochter seines noch lebenden Onkels väterlicherseits. Sie ist Hausfrau und kümmert sich um ihre Kinder (VP, S. 15). Der Bruder des Erstbeschwerdeführers ist berufstätig. Die finanzielle Situation seines Bruders ist durchschnittlich (VP, S. 16). Der älteste Sohn des Bruders des Erstbeschwerdeführers ist gelernter Autolackierer und hat sich ein eigenes Geschäftslokal organisiert (VP, S. 16).

Der Onkel väterlicherseits des Erstbeschwerdeführers lebt in der Stadt Kabul im Bezirk XXXX Er hat drei Töchter und drei Söhne im Alter von (jungen) Erwachsenen (VP, S. 15).

Der andere Onkel väterlicherseits des Erstbeschwerdeführers ist bereits verstorben. Er hat ebenfalls in der Stadt Kabul im Bezirk XXXX gelebt. Dieser hatte drei Söhne und sehr viele Töchter (VP, S. 16).

Die zwei Onkeln mütterlicherseits des Erstbeschwerdeführers sind bereits verstorben. Ein Onkel mütterlicherseits hatte drei Söhne und mindestens drei Töchter. Der andere Onkel mütterlicherseits hatte einen Sohn und drei Töchter. Alle Cousinen und Cousins mütterlicherseits des Erstbeschwerdeführers haben zum Zeitpunkt der Ausreise des Erstbeschwerdeführers in Kabul im Stadtteil XXXX gelebt. Bis auf einen Cousin mütterlicherseits sind alle verheiratet (VP, S. 17).

Der Erstbeschwerdeführer hat ein gutes Verhältnis und regelmäßig Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern sowie insbesondere zum ältesten Sohn seines Bruders (VP, S. 16).

1.1.7. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin sowie ihr Bruder leben nach wie vor in Kabul in ihrem Eigentumshaus (BF 2 AS 153 ff; VP, S. 37). Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin besitzt ein landwirtschaftliches Grundstück (BF 2 AS 153; VP, S. 39). Er hatte ein Bekleidungsgeschäft, die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin ist Hausfrau (VP, S. 38 f). Die Zweitbeschwerdeführerin hat regelmäßig Kontakt zu ihren Eltern.

Die Schwester der Zweitbeschwerdeführerin ist weder zwangsverheiratet worden noch befindet sie sich gegen ihren Willen im Iran. Es können keine weiteren Feststellungen zu den persönlichen Umständen der Schwester der Zweitbeschwerdeführerin getroffen werden.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat keinen Onkel väterlicherseits (in Kabul).

1.1.8. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Sie sind gesund und arbeitsfähig (VP, S. 7, 21). Der Erstbeschwerdeführer weist eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) auf und nimmt deshalb seit 27.03.2018 psychotherapeutische Behandlung in Anspruch (Beilage ./B). Die Zweitbeschwerdeführerin weist eine Anpassungsstörung (F43.2) auf und nimmt seit 20.11.2018 psychotherapeutische Behandlung in Anspruch (Beilage ./A)

Der Drittbeschwerdeführer weist eine Sprachentwicklungsverzögerung aufgrund Bilingualismus auf. Es ist eine intensive Sprachförderung (im Kindergarten) empfohlen (Beilage ./E; BF 1 Beilage zu OZ 8). Motorisch ist der Drittbeschwerdeführer im Normbereich. Es besteht kein physiotherapeutischer Förderbedarf (BF 1 Beilage zu OZ 8). Der Drittbeschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

Der Viertbeschwerdeführer weist ein persistierendes Foramen ovale (PFO) und eine geringfügige Insuffizienz der Trikuspidalklappe auf, die als nicht relevant eingestuft wurde. Bis zu 25% aller Menschen leben mit einem offenen Foramen ovale in der Vorhofscheidewand des Herzens (Das Foramen ovale stellt eine Verbindung zwischen den Herzvorhöfen dar, dass vor der Geburt immer offen ist, sich nach der Geburt üblicherweise schließt; erfolgt dieser Verschluss nicht spricht man von einem persistierenden Foramen ovale, dieses Phänomen ist nicht selten und liegt bei 25% aller Menschen vor). Kinder sind dadurch nicht beeinträchtigt und auch im Erwachsenenalter ist eine Behandlung üblicherweise nicht erforderlich. Eine geringfügige Insuffizienz der Trikuspidalklappe wird sehr häufig beobachtet und ist unbedenklich. Es sind keine spezifischen Behandlungen, sondern lediglich regelmäßige kinderkardiologische Kontrollen inklusive Herzultraschall erforderlich. Es besteht keinerlei körperliche oder geistige Einschränkung des Viertbeschwerdeführers, lediglich Tiefseetauchen ist aus medizinischer Sicht nicht erlaubt. Es ist weder mit nachteiligen Folgen zu rechnen noch ist eine spezifische Therapie, Behandlung oder Operation zu erwarten. Die nächste Kontrolluntersuchung des Viertbeschwerdeführers ist im Jahr 2021 – im Abstand von zwei Jahren zur letzten Kontrolle im Jahr 2019 – erforderlich (medizinisches Sachverständigengutachten vom 02.05.2019; Beilage ./D; OZ 7 bei BF4). Der Viertbeschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

Die Fünftbeschwerdeführerin ist in Österreich geboren. Diese ist gesund.

1.1.9. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind in Österreich nicht vorbestraft. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind strafunmündig.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in Afghanistan von ihrem angeblichen Onkel väterlicherseits weder geschlagen, noch wurde ihr von diesem der Schulbesuch verboten. Die Zweitbeschwerdeführerin war in Afghanistan keinen Misshandlungen ausgesetzt. Die Zweitbeschwerdeführerin hat keinen Onkel väterlicherseits.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden aufgrund ihrer Heirat weder von ihren Eltern noch vom angeblichen Onkel väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin verfolgt.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

1.2.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in Afghanistan niemals konkret bedroht und war keiner Verfolgung durch die Taliban, staatliche Organe oder durch andere Gruppierungen ausgesetzt. Der Bombenanschlag in Kabul, bei dem der Erstbeschwerdeführer Splitter abbekommen hat, war weder gezielt auf diesen gerichtet noch war er davor oder danach einer individuellen und konkreten Bedrohung ausgesetzt.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Taliban, staatliche Organe oder durch andere Gruppierungen.

1.2.3. Die Beschwerdeführer hatten in Afghanistan keine konkret und individuell gegen sie gerichteten Probleme aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.

1.2.4. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie spricht zwar ausreichend Deutsch und absolviert Basisbildungskurse, diese wurden ihr jedoch von ihrem Unterkunftgeber empfohlen und sie hat diesbezüglich keine Eigeninitiative gezeigt. Zudem kümmert sie sich in ihrer Freizeit primär um den Haushalt und ihre Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich und hat lediglich Kontakte zu einer Deutschlehrerin sowie zu einem Mitarbeiter der Caritas und einer Frau aus der Volkshochschule. Die Zweitbeschwerdeführerin ist – insbesondere betreffend der Vereinbarung von Kontroll- und Arztterminen für ihren Sohn – nicht selbständig, sondern auf (die Unterstützung durch) ihren Unterkunftgeber angewiesen.

1.2.5. Dem Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer sowie der Fünftbeschwerdeführerin ist es möglich, sich (wieder) in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihnen droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sind sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in Kabul faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn dem Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden den Dritt- und Viertbeschwerdeführer und in einigen Jahren die Fünftbeschwerdeführerin in Kabul in die Schule schicken und diesen eine Schulbildung ermöglichen. Dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer sowie der Fünftbeschwerdeführerin drohen in Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können in der Stadt Kabul ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer können in Kabul im Eigentumshaus des Vaters des Erstbeschwerdeführers mit diesem und seiner Stiefmutter, wie bereits vor ihrer Ausreise, oder im Eigentumshaus der Eltern der Zweitbeschwerdeführerin wohnen.

Den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern ist es möglich in der Stadt Kabul eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan anzupassen, nämlich neue Kontakte knüpfen, die Schule besuchen, einen Beruf lernen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache vertiefen.

Den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern droht in der Stadt Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat. Es droht diesen dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe Entführungen oder Ausbeutungen oder Gefahren durch explosive Kriegsrückstände.

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind noch unmündige Minderjährige. Diese können ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Kabul angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage (trotz familiärer Unterstützung in Kabul) derzeit nicht möglich den notwendigen Lebensunterhalt für die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer in der Stadt Kabul ausreichend sicher zu stellen.

Es ist den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern somit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Den Feststellungen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat wurden folgende Länderinformationen zu Grunde gelegt:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB)

-        UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        Bericht EASO, Afghanistan Netzwerke, Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020 (ECOI Oktober 2020)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Frauen in urbanen Zentren)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Anzahl der Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Bildungsmöglichkeiten für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Erpresserischer Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Erpresserische Entführungen von Kindern)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Kinderarbeit und Ausbeutung)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Kinderehen und Zwangsehen)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Kinderschutzprogramme)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Rückkehrleistungen für Familien bzw. Kinder vom 14.05.2019 (Rückkehrleistungen für Familien bzw. Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sexuellen Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Sexueller Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Sicherheitslage für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Zugang zu Lebensmitteln)

Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf., einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Aktuelle Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 22).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 22).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der durchschnittliche Verdienst eines ungelernten Tageslöhners in Afghanistan variiert zwischen 100 AFN und 400 AFN pro Tag (LIB, Kapitel 22).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).


Medizinische Versorgung:

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an. Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken, unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital. In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (LIB, Kapitel 23).

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e -Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital) die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazare-e Sharif existiert z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 23.1.).

Religion:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlic

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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