Entscheidungsdatum
24.02.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W155 2203718-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit islamische Republik Afghanistan, vertreten durch die Perspektiven-Asyl-Rechtsberatung der Caritas, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, reiste schlepperunterstützt unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 14.10.2015 gab der Beschwerdeführer an, dass er aus Provinz XXXX stamme und verheiratet sei, 8 Jahre die Grundschule besucht habe und zuletzt in Pakistan aufhältig gewesen sei. Er habe Afghanistan verlassen, weil sein Bruder Q ( XXXX , geb. XXXX ) die Regierung unterstützt habe und die Familie von den Taliban bedroht worden sei. Sein Bruder Q lebe seit 2 Jahren in Österreich und hätten die Taliban - wie in einem Drohbrief angekündigt - einen anderen Bruder mitnehmen wollen. Er fürchte den Tod durch die Taliban.
Mit Bescheid vom XXXX , Zahl XXXX , erkannte das Bundeverwaltungsgericht dem in Österreich lebenden Bruder Q den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 27.11.2015, die in der Folge verlängert wurde.
Am 15.03.2017 gab der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) an, dass er aus der Provinz XXXX , Bezirk XXXX , Dorf XXXX stamme und traditionell verheiratet sei, aber keinen körperlichen Kontakt zu seiner Frau gehabt habe. Er habe bis zu seinem 16 bis 18 Lebensjahr in Afghanistan, anschließend in Pakistan gelebt. In Afghanistan habe er die Grundschule besucht und als Hirte gearbeitet, in Pakistan habe er seinem Vater beim Obstverkauf geholfen. Seine Eltern und Geschwister (3 Brüder und eine Schwester) hielten sich in Pakistan auf, er habe Kontakt zu seiner Familie. Sein ältester Bruder N ( XXXX ) sei von den Taliban getötet worden, sein Bruder Q lebe in Österreich gemeinsam mit ihm in einer Wohnung. Zum Fluchtgrund führte er im Wesentlichen aus, dass sein Bruder Q eine Schneiderei in Kabul geführt habe und von einem Kunden aufgefordert worden sei, im Heimatdorf Informationen über Taliban zu sammeln. Die Taliban hätten über die Tätigkeit des Bruders Q erfahren und ihn mitnehmen wollen. Da sich sein Bruder Q aber in Kabul aufgehalten habe und sein ältester Bruder N die Tür geöffnet habe, sei dieser von den Taliban entführt und seine Leiche mit abgetrenntem Kopf 4 Tage später vor die Tür gelegt worden. Der Beschwerdeführer sei bei diesem Anblick ohnmächtig geworden. Seit diesem Ereignis habe er psychische Probleme, nehme Medikamente und befinde sich in Österreich regelmäßig in psychotherapeutischer Therapie. Er brachte ein Konvolut an fachärztlichen Befunden (ua Befund vom 07.03.2017) und Laborbefunden sowie Integrationsunterlagen (Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen, Integrationsveranstaltungen und ehrenamtlicher Tätigkeit) in Vorlage.
Am 30.11.2017 gab der Beschwerdeführer seine Vollmachterteilung an die Perspektiven-Asyl-Rechtsberatung der Caritas bekannt.
Am 04.12.2017 wurde der Beschwerdeführer abermals vor der belangten Behörde gehört. Er wiederholte seine Familienverhältnisse, seine Lebenssituation und seine Fluchtgründe. Er ergänzte, dass sein Bruder Q ca. ein Monat nach dem Begräbnis des ältesten Bruders N geflüchtet sei und seine Familie ein halbes Jahr später nach Pakistan ausgewandert sei. Sein Vater habe alle Grundstücke verkauft. Er habe nach dem Tod seines Bruders N psychische Probleme bekommen und sei auch in Pakistan krank gewesen sei. Er legte weitere Befunde (ua. Befund vom 27.11.2017) und Integrationsunterlagen vor.
Mit angefochtenem Bescheid vom 24.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 3 Abs. 1 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 24.07.2019 (Spruchpunkt III.).
Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führte die belangte Behörde aus, dass nicht habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Auch sei das Fluchtvorbringen seines Bruders Q von der belangten Behörde und vom Bundesverwaltungsgericht als nicht asylrelevant erkannt worden und sei ihm des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gewährt worden. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine Notlage entsprechend Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK gelangen könne. Der Beschwerdeführer habe ein Konvolut an medizinischen Befunden vorgelegt, aus denen seine mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit aufgrund seiner psychischen Beeinträchtigung hervorgehe. Da er weder in Kabul noch in einer anderen als sicher einzustufenden Region Afghanistans familiäre Anknüpfungspunkte habe, sei ihm eine Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Gesundheitszustandes derzeit nicht zumutbar.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsberaterin am 14.08.2018 zur Zahl XXXX Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit in Folge Verletzung von Verfahrensvorschriften und Rechtswidrigkeit des Inhaltes eingewendet wurde. In der Beschwerde wurde auf eine ergänzende Stellungnahme (ebenfalls zu Zahl XXXX ) verwiesen, in der der Beschwerdeführer über seine sexuelle Orientierung informiert habe, die im angefochtenen Bescheid nicht berücksichtigt worden sei.
Die belangte Behörde informierte die Rechtsvertreterin über die in der Beschwerde angegebene unrichtige IFA Zahl. Die Beschwerdevorlagen an das Bundesverwaltungsgericht erfolgte ebenfalls irrtümlich unter der in der Beschwerde genannten IFA Zahl.
Mit Verfügung vom 22.05.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien des Verfahrens die Ladungen zur Verhandlung sowie die im Beschwerdefall vorläufig als relevant erachteten Berichte zur Lage in Afghanistan.
Mit Schriftsatz vom 16.07.2020 legte der Beschwerdeführer aktuelle Integrationsnachweise (Dienstvertrag ab 02.06.2020, Kursbestätigung Erste Hilfe, Abschlusszeugnis „Heimhelfer“, psychotherapeutische Behandlungsbestätigung vom 13.07.2020, Bestätigung Freizeitclub Wagenrad) zur Vorbereitung der Beschwerdeverhandlung vor.
Am 28.07.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf § 20 AsylG eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsberaterin sowie eine Vertrauensperson teilnahmen und ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung legte der Beschwerdeführer dem erkennenden Gericht eine mit Fax vom 05.07.2018 an die belangte Behörde übermittelte Stellungnahme (siehe oben) bezugnehmend auf eine behauptete Bisexualität des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der Einstellung eines Strafverfahrens wegen § 201 StGB, das Protokoll über die schriftliche Einvernahme vor der belangten Behörde zur Überprüfung des subsidiären Schutzes, einen psychotherapeutischen Befundbericht vom 06.08.2019 sowie diverse EASO-Berichte zur Thematik der sexuellen Orientierung in Afghanistan („Country Guidance: Afghanistan June 2018“, „Country of Origin Report. Afghanistan Individuals targeted under societal und legal norms“) vor.
Die mündliche Beschwerdeverhandlung wurde vertagt.
Am 24.08.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf § 20 AsylG eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, dessen Vertrauensperson und seine Rechtsberaterin sowie ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern.
Der Beschwerdeführer wurde in der Verhandlung zu seinem bisherigen Leben, seinen Fluchtgründen und seinem Leben in Österreich befragt. Er legte weitere Unterlagen vor. Weiters wurde seitens der erkennenden Richterin auf die Länderberichte zum Herkunftsland des Beschwerdeführers sowie Informationen zu COVID-19 verwiesen. Von Beschwerdeseite wurde diesbezüglich auf das bisherige Vorbringen verwiesen.
Der Beschwerdeführer reichte im Rahmen der Beschwerdeverhandlung folgende Unterlagen nach:
? Dienstvertrag zwischen dem Beschwerdeführer und dem Wiener Hilfswerk vom 26.05.2020
? diverse Zeugnisse des Samariterbundes betreffend die Ausbildung des Beschwerdeführers zur Ausbildung als „Heimhelfer“
? Bestätigung der Teilnahme des Beschwerdeführers des Clubs „Wagenrad“
? Psychotherapeutischer Befundbericht vom 13.07.2020
Die Niederschrift der Verhandlungen samt den vorgelegten Unterlagen wurde der belangten Behörde zur Kenntnis übermittelt.
Mit Schreiben vom 04.09.2020 wurde von der belangten Behörde das Protokoll über die niederschriftliche Einvernahme vom 07.08.2019 über die Überprüfung des subsidiären Schutzes vorgelegt sowie ein Aktenvermerk über die Einstellung des Aberkennungsverfahren vorgelegt und keine weitere Stellungnahme abgegeben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie vor der belangten Behörde, der Beschwerde, der mündlichen Beschwerdeverhandlung, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, den Akt des Landesgerichtes für Strafsachen, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister, und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und der moslemisch sunnitischen Glaubensrichtung. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Paschtu und Deutsch. Er wurde in der Provinz XXXX geboren und lebte in seinem Heimatdorf bis zu seinem 18. Lebensjahr. Er reiste in der Folge nach Pakistan, wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr 2015 aufhältig war.
Der Beschwerdeführer hat lediglich familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan durch zwei Onkel, zu welchen jedoch kein Kontakt besteht. Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers leben in Pakistan und steht der Beschwerdeführers mit diesen Angehörigen in telefonischen Kontakt.
Durch ein Arrangement der Eltern wurde der Beschwerdeführer in Pakistan verlobt, er hat jedoch mit seiner Verlobten keinen Kontakt. Er hat keine Kinder.
Zur Situation in Österreich
Der Beschwerdeführer stellte am 12.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er hält sich seit der Antragstellung durchgehend in Österreich auf und bezieht Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer wird unter der IFA Zahl XXXX im zentralen Fremdenregister und Grundversorgungsregister geführt. Der angefochtene Bescheid trägt diese Zahl.
Der Beschwerdeführer hat Beschwerde und die in der Beschwerde genannte Stellungnahme zur IFA Zahl XXXX /Verfahrenszahl XXXX erhoben, die den Asylwerber A.A. betrifft.
Der Beschwerdeführer hat am 29.05.2020 die Ausbildung zum Heimhelfer erfolgreich bestanden. Der Beschwerdeführer steht seit 02.06.2020 in einem Dienstverhältnis im Ausmaß von 30 Stunde/Woche mit dem XXXX als Heimhelfer. Er hat Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht.
Der Beschwerdeführer leidet an einer komplexen schweren posttraumatischen Belastungsstörung. Er leidet insbesondere an Panikattacken und Schlafstörungen. Der Beschwerdeführer ist regelmäßig in psychotherapeutischer Behandlung und benötigt aufgrund seines Gesundheitszustandes regelmäßig Medikamente und fachärztliche Kontrolle.
Der Beschwerdeführer ist subsidiär schutzberechtigt.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
In Österreich lebt der Bruder Q als subsidiär Schutzberechtigter, mit diesem wohnt er gemeinsam in einer Wohnung.
Zum Fluchtgrund
Der Beschwerdeführer war in seiner Heimat keiner konkret und gezielt gegen seine Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ist der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.
Zum Nachfluchtgrund
Es kann nicht festgestellt werden, dass beim Beschwerdeführer eine überzeugende asylrelevante homo-, bzw. bisexuelle Orientierung vorliegt.
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Kurzinformation 21.07.2020 (LIB) unter Berücksichtigung der aktuellen Fassung vom 16.12.2020,
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
Aus dem LIB:
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1). Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1). Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
Paschtunen
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.
Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
Logar:
Logar liegt im Zentrum Afghanistans. Die Provinz besteht hauptsächlich aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara. Die Provinz hat 426.821 Einwohner (LIB, Kapitel 2.21).
Die Provinz Logar zählt zu den relativ instabilen Provinzen Afghanistans mit aktiven aufständischen Kämpfern. Aufständische sind in gewissen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten durch. Die Taliban sind in der Provinz präsent. Es werden regelmäßig Operationen zur Befreiung der Distrikte von Talibanaufständischen durchführt. Es werden Luftangriffe durchgeführt. Bei diesen werden Aufständische getötet, manchmal werden auch Zivilisten Opfer von Luftangriffen. Im Jahr 2019 gab es 218 zivile Opfer (95 Tote und 123 Verletzte) in der Provinz Logar. Dies entspricht einer Steigerung von 52% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Luftangriffe, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.21).
In der Provinz Logar kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Meldewesen
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig „gelbe Seiten” oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen (EASO 2.2018; vgl. BFA 13.6.2019). Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer (BFA 13.6.2019). Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 2.9.2019).
Sexuelle Orientierung / Homosexualität:
Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen desselben Geschlechtes (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.2.2019, MoJ 15.5.2017: Art. 645, 649). Der Geschlechtsverkehr zwischen Männern ist eine Straftat, die – laut afghanischem Strafgesetzbuch, Artikel 646 – mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, Geschlechtsverkehr zwischen Frauen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, geahndet wird (USDOS 11.3.2020).
Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, FH 4.2.2019). Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review (UPR)-Verfahrens im Jänner 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Beim UPR Afghanistans im Januar 2019 standen LGBTI [Anm. Lesbian, Gay, Bisexual, Transexuell/Transgender und Intersexual] nicht auf der Agenda. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden (AA 2.9.2019).
Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z.T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund (AA 2.9.2019).
Homosexualität wird weitverbreitet tabuisiert und als unanständig betrachtet. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft werden diskriminiert, misshandelt, vergewaltigt und verhaftet (USDOS 11.3.2020).
Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Vor allem aufgrund der starken Geschlechtertrennung kommt es immer wieder zu freiwilligen oder erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (AA 2.9.2019).
Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten. Die Scharia verbietet daher auch die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen (AA 2.9.2019). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 18.9.2017).
Gespräche über Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vgl. Bamik 7.2018) und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018).
Es besteht eine niedrige soziale Toleranz gegenüber Personen mit einer sexuellen Orientierung oder Genderidentität außerhalb der erwarteten Normen der Heterosexualität. Ein solches Bekenntnis ist ein soziales Tabu und wird als unislamisch betrachtet (EASO 12.2017).
Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 2.9.2019). Bacha Bazi sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653).
Bei den Bacha Push handelt es sich i. d. R. nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 2.9.2019; vgl. NGI 6.3.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt. Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (CAI 28.3.2019; vgl. OF 16.5.2018).
Sexueller Missbrauch und körperliche Züchtigung von Kindern
In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost (AA 2.9.2019). Obwohl gesetzlich verboten, bleibt die körperliche Bestrafung in Schulen, Rehabilitationszentren und anderen öffentlichen Einrichtungen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. APPRO 4.2018, STC 2017, UNSC 29.3.2019). Dem afghanischen Strafgesetzbuch zufolge, stehen Kindesmissbrauch und -vernachlässigung unter Strafe. Körperliche oder geistige Züchtigung sowie Misshandlung eines Kindes können wie folgt bestraft werden: eine Geldstrafe von 10.000 Afghanis (rund 130 USD) bis zu einem Jahr Gefängnis, vorausgesetzt das Kind erleidet keine schweren Verletzungen oder Behinderung. Die Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens eines Kindes wird mit einer Strafe von ein bis zwei Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von 60.000 bis 120.000 Afghanis (ca. 800 bis 1.600 USD) in bar geahndet (USDOS 11.3.2020).
Die afghanische Polizei war im Jahr 2018 nur begrenzt zur Bekämpfung von Sexualverbrechen fähig, teilweise aufgrund der niedrigen Anzahl von Frauen in der Polizei (rund 1.8% der Kräfte). Im Jahr 2018 dokumentierte die UNAMA in dieser Hinischt 37 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Fünf Vergewaltigungen und eine Zwangsheirat wurden von UNAMA bestätigt, welche von Konfliktparteien begangen wurden – unter anderem von Mitgliedern der Taliban sowie einer weiteren nicht identifizierten Person einer regierungsfeindlichen Gruppierung. In fünf von sechs Fällen wurden die Angeklagten von den Behörden belangt und verurteilt. UNAMA hat auch zwei Fälle von sexueller Gewalt gegen Buben durch Mitglieder der afghanischen Nationalpolizei überprüft; in einem Fall handelte es sich um Bacha Bazi (UNSC 29.3.2019). Obwohl Bacha Bazi kriminalisiert wurde, sind Verfolgungen von Fällen selten und die Praxis bleibt verbreitet (UNSC 29.3.2019).
Berichten zufolge schlug die Polizei Kinder und missbrauchte sie sexuell. Kinder, welche sich in Missbrauchsfällen an die Polizei wandten, berichteten von weiteren Belästigungen durch Exekutivbeamte – insbesondere bei Fällen von Bacha Bazi; und hielten die Kinder davon ab Vergehen zu melden (USDOS 11.3.2020). Es wird von sexuellen Übergriffen durch die Streitkräfte, der Afghan Local Police (ALP) und Afghan National Police (ANP) berichtet (HRC 28.1.2019; vgl. UNSG 30.6.2019; UNSC 29.3.2019; SIGAR 18.1.2018).
Situation für Rückkehrer/innen
Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 22).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22)
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).
Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 22).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
- Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
- Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Blutfehde
Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden und eine Alternative darstellen. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR, Kapitel III. A. 14)
COVID-19 Pandemie
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
In Afghanistan gibt es - Stand 24.02.2021 – 55.646 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 2435 Todesfälle bei ca. 35 Mio Einwohnern (im Vergleich dazu hat Österreich 448.371 bestätigte Infektionen und 8434 Todesfälle bei 8,8 Mio Einwohnern). Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die Informationen werden regelmäßig aktualisiert. 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt. In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020).
Die afghanische Regierung hat zu ihrer Bekämpfung eine Reihe von Maßnahmen erlassen, was zur Schließung ganzer Stadtteile und Bewegungseinschränkungen führt. Insbesondere Tagelöhner können aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten. Die Lebensmittelpreise sind gestiegen.
Im Juli kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).
Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).
Aus den EASO-Leitlinien:
„14. LGBT
This profile refers to persons who are perceived as not conforming to social norms because of their sexual orientation and/or gender identity.
COI summary
In Afghan society, sexuality is not a concept that is discussed. Therefore, little information can be obtained about LGBT individuals and their position in society [Society-based targeting, 4].
For issues related to the practice of bacha bazi, which is not considered homosexuality in Afghan society, please see the specific subsection Violence against children.
Both in the Penal Code and in Sharia, same-sex activity is punishable, including by death penalty. Although the Afghan State has not implemented the death penalty for consensual same-sex acts between adults in private, imprisonment and police harassment, including robbing and rape of gay men, is reported [Society-based targeting, 4.1].
Targeting and extrajudicial punishment by insurgent groups also take place. In 2015, it was reported that the Taliban had sentenced two men and a teenager to execution for homosexuality [Society-based targeting, 4.1].
LGBT individuals also face a threat by their family and society. Same-sex practices remain hidden and are highly stigmatised if mentioned publicly. Identifying as having a sexual orientation or identity outside the expected norms of heterosexuality is a societal taboo and is seen as un-Islamic. Sources report discrimination, including in health services and employment, assaults, threats, rape, blackmail and arrest [Society-based targeting, 4.2].
Although Afghanistan has traditions of a ‘third gender’, where individuals identify outside categories of male and female, these people are not legally recognised and function only at the margins of society [Society-based targeting, 4.2.1].
Risk analysis
The acts to which LGBT individuals could be exposed are of such severe nature that they would amount to persecution (e.g. rape, execution, killings).
The State could be considered an actor of persecution. Persecution could also be by insurgent groups, as well as by their family and/or the society in general, as there is a low societal tolerance in Afghanistan for individuals with sexual or gender identities deviating from the ‘norm’.
It has to be noted that an applicant cannot be expected to conceal their sexual orientation or gender identity.19
In the case of LGBT applicants, in general, well-founded fear of persecution would be substantiated.
Nexus to a reason for persecution
Available information indicates that the persecution of this profile is for reasons of membership of a particular social group, based on a shared characteristic or belief that is so fundamental to the identity of the applicant, that he or she should not be forced to renounce it; and based on their distinct identity in Afghanistan, because they are perceived as being different by the surrounding society.”
Aus den UNHCR-Richtlinien:
„Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten
[…]
Im Lichte der Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen und der starken gesellschaftlichen Tabus ist UNHCR der Ansicht, dass für Personen mit unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen und Geschlechtsidentitäten (SOGI) wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe besteht, da sie tatsächlich oder vermeintlich vorherrschenden rechtlichen, religiösen und gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen. Für sie kann auch aus anderen relevanten Konventionsgründen ein Bedarf an internationalem Schutz bestehen. Ähnlich besteht aus denselben Gründen für Personen mit vermeintlich unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen und Geschlechtsidentitäten wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz. Es ist zu berücksichtigen, dass von Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten nicht erwartet werden kann, dass sie ihre Identität ändern oder verbergen, um der Verfolgung zu entgehen. Außerdem stehen die erhebliche strafrechtliche Sanktionierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen einem Schutz von Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen durch den Staat entgegen, auch in solchen Fällen, in denen die Ve