TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/26 W159 2199509-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.02.2021
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Entscheidungsdatum

26.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W159 2199509-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.01.2021 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 und 9, 46 und 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsbürger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, gelangte spätestens am 05.01.2016 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 06.01.2016 erfolgte die Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion XXXX , wobei der Beschwerdeführer zu den Fluchtgründen angab, dass er Afghanistan wegen des Krieges dort verlassen habe, die generelle Lage sei dort sehr schlecht. Die Schiiten würden von den Taliban umgebracht, sein Leben wäre in Gefahr, deswegen sei er geflüchtet.

Am 27.08.2016 erfolgte eine Anzeige gegen den Beschwerdeführer (u.a. Täter) wegen Verdacht des Raubes und am 18.10.2016 wegen einer tätlichen Auseinandersetzung unter Asylwerbern. Weiters folgte am 06.02.2017 eine Anzeige gegen den Beschwerdeführer wegen Verdachts der Sachbeschädigung, am 07.03.2017 wurde wiederum eine Anzeige, diesmal wegen Verdachts nach § 27 Suchtmittelgesetz, gegen den Beschwerdeführer erstattet. Dieses Verfahren wurde mit Beschluss der Staatsanwaltschaft XXXX vom 28.03.2017 vorläufig unter einer Probezeit von zwei Jahren eingestellt.

Am 24.04.2018 wurde der Antragsteller nach Zulassung zum Asylverfahren durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab an, dass es ihm gesundheitlich gut gehe und er nicht in ärztlicher Behandlung sei. Er sei wegen „Schwarzfahrens“ bestraft worden. Er habe einen Deutschkurs besucht und sei derzeit auf Jobsuche. Der Antragsteller sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und sei Moslem/Schiit. In Afghanistan habe er neun Jahre lang die Grundschule besucht. Neben der Schule habe er Hilfsarbeiten auf Baustellen verrichtet und Autos gewaschen. Seine Familie befinde sich seit zweieinhalb Jahren im Iran. Er habe monatlich einmal mit seiner Familie Kontakt. Sie kämen aus der Provinz Bamiyan, hätten jedoch in der Provinz Herat im Distrikt XXXX gelebt. 2015 sei er mit seiner Familie in den Iran ausgereist. An Verwandten in Afghanistan habe er möglicherweise noch Großeltern, habe jedoch mit diesen keinen Kontakt. In Österreich bekomme er Hilfe vom Staat. Er würde gerne in der Landwirtschaft arbeiten oder als Automechaniker. In der Freizeit spiele er beim XXXX Fußball, einen Spielerpass habe er aber noch nicht. Er könne sich bereits auf Deutsch verständigen (Grundbildung). Hinsichtlich seiner Familienangehörigen führte er aus, dass sein leiblicher Vater schon verschollen sei, seit er ein Jahr alt sei. Er habe zwei Brüder namens XXXX und XXXX und eine Schwester namens XXXX . Auf Nachfrage bestätigte er nur, dass er nur diese Schwester habe. Über Vorhalt, dass er auch eine Schwester namens XXXX angegeben habe, bestätigte er dies. Diese lebe mit ihrem Ehemann in Afghanistan, während XXXX jetzt im XXXX im Iran verheiratet sei.

Er habe niemals Probleme mit den Behörden oder der Polizei gehabt. Es würden jedoch die Schiiten und Hazara von den Taliban bedroht. Gefragt nach den Ausreisegründen gab er an, dass die Taliban ihn an der rechten Hand geschlagen hätten und dass sie ihm gedroht hätten, ihn zu töten. Er sei mit einem Auto nach Hause unterwegs gewesen. Es sei schon dunkel gewesen. Die Taliban hätten das Fahrzeug gestoppt und ihn gefragt, ob er Schiit sei. Es seien vier Taliban mit Kalaschnikow bewaffnet gewesen. Einer habe auch ein großes Messer gehabt. Dieser habe ihn an der rechten Hand verletzt. Er habe große Angst gehabt und das Bewusstsein verloren und sei erst im Krankenhaus wieder wach geworden. In dem Auto seien zehn Personen gewesen. Was den anderen passiert sei, wisse er nicht. Er könne sich auch nicht erinnern, wer ihn ins Krankenhaus gebracht habe. Nach zwei Wochen im Krankenhaus sei er dann wieder nach Hause gekehrt. Seine Mutter habe dann gesagt, dass sie dort nicht mehr leben könnten und dass sie in den Iran flüchten müssten. Der Angriff habe ca. eineinhalb Monate vor der Ausreise Ende 2014 oder Anfang 2015 stattgefunden. Der Fahrer des Kraftfahrzeuges habe gesagt, dass es Taliban wären. Sie wären maskiert gewesen. Es habe nur diesen einen Vorfall gegeben, bezüglich anderer Familienmitglieder habe es keine Vorfälle gegeben.

Befragt nach dem fluchtauslösenden Grund gab er an, dass die Hazara in der Ortschaft mehrmals bedroht worden seien, aber der Angriff auf ihn der auslösende Grund gewesen sei. Seine Mutter habe entschieden, Afghanistan zu verlassen, in einer anderen Provinz könnten sie auch nicht leben. Befragt, warum seine Schwester mit dem Ehemann noch in Afghanistan leben könne, gab er an, dass er gar nicht wisse, wo sie aktuell lebe, er aber gesehen habe, dass an ihrem früheren Ort viele Menschen bei einem Anschlag getötet worden seien. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban. Im Iran könnte er auch nicht leben, dort würden die Afghanen unterdrückt und gezwungen, am Kampf in Syrien teilzunehmen. Dann würden sie allerdings einen Aufenthaltstitel bekommen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 24.05.2018, Zahl XXXX wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchteil II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und unter Spruchpunkt VI. eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Rückkehr festgelegt.

In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang einschließlich der Erstbefragung und der Einvernahme durch das BFA wiedergegeben und Feststellungen zur Person und zu Afghanistan getroffen. Beweiswürdigend wurde zunächst ausgeführt, dass mangels eines geeigneten unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments die Identität nicht feststehe, jedoch glaubhaft sei, dass er afghanischer Staatsbürger sei, der Volksgruppe der Hazara und der Religionsgemeinschaft der Schiiten angehöre und dass er aus Herat stamme. Die Feststellung, dass er gesund sei, ergebe sich aus seinen Angaben. Der Beschwerdeführer scheine mehrfach im kriminalpolizeilichen Index auf.

Sein Vorbringen sei gänzlich als unglaubwürdig anzusehen, weil er dieses von der Erstbefragung wesentlich gesteigert habe und er den Angriff auf seine Person und die daraus resultierende Verletzung bei der Erstbefragung mit keinem einzigen Wort erwähnt habe und dort lediglich allgemeine Gründe für die Ausreise angegeben habe. Weiter sei es widersprüchlich, dass er beim BFA zunächst von einem Schlag und erst später von einer Messerverletzung gesprochen habe und habe er auch widersprüchliche Angaben hinsichtlich seiner Schwestern gemacht. Der Beschwerdeführer habe weiters dezidiert angegeben, keine Probleme mit den Behörden oder der Polizei gehabt zu haben und hinsichtlich seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit lediglich pauschale und allgemeine Angaben gemacht. Die Behörde sei daher zu dem Schluss gelangt, dass das Vorbringen ein oberflächlich einstudiertes und demnach nicht tatsächlich zutreffendes Rahmenkonstrukt sei. Zu Spruchpunkt I. wurde nochmals auf die mangelnde Glaubwürdigkeit der behaupteten Verfolgungsgründe hingewiesen und darauf, dass sich auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan keine Asylgewährung ableiten lassen. Zu Spruchteil II. wurde zunächst ausgiebig die Bezug habende Judikatur zitiert und darauf hingewiesen, dass das Bestehen einer Gefährdungssituation bereits unter Spruchteil I. geprüft und verneint worden sei. Aufgrund der Arbeitsfähigkeit und Ausbildung würde der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Herat nicht in eine ausweglose Lage geraten. Die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz Herat sei grundsätzlich stabil. Die Behörde sei daher zur Ansicht gelangt, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK drohe und sei ihm daher der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zu zuzuerkennen gewesen. Zu Spruchteil III. wurde kurz dargelegt, dass keine der drei Voraussetzungen des § 57 AsylG vorlägen, zu Spruchpunkt IV, dass der Antragsteller über keinerlei zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigte Verwandtschaft verfüge und daher auch kein Familienleben in Österreich führe. Seine Familie befinde sich vielmehr in Afghanistan bzw. im Iran. Zum Privatleben des Beschwerdeführers wurde zunächst festgehalten, dass sich dieser seit Jänner 2016 in Österreich aufhalte, über mäßige Deutschkenntnisse verfüge, keiner Arbeit nachgehe und beim XXXX Fußball spiele. Sonstige nennenswerte private Bindungen habe er nicht. Außerdem sei er schon mehrfach in polizeilichen Ermittlungen involviert gewesen und habe gegen das Suchtmittelgesetz verstoßen. Es sei daher kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen gewesen und eine Rückkehrentscheidung als zulässig anzusehen. Es habe sich auch keine Bedrohung im Sinne des § 50 FPG ergeben und stehe einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegen und sei im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung eine Abschiebung in die Ukraine (?) zulässig (Spruchteil V. ). Schließlich wären auch keine Gründe für die Verlängerung der Frist zur freiwilligen Ausreise hervorgekommen (Spruchpunkt VI., im Bescheid irrtümlich als Spruchpunkt IV. bezeichnet).

Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller, vertreten durch die ARGE-Rechtsberatung, fristgerecht gegen alle Spruchteile Beschwerde. In dieser wurde zunächst das bisherige Vorbringen kursorisch wiedergegeben und darauf hingewiesen, dass die Behörde bei der Beweiswürdigung, die sich wesentlich auf Differenzen zur Erstbefragung stütze, außer Acht lasse, dass es bei der polizeilichen Befragung nicht gefordert sei, in die Tiefe zu gehen. Hinsichtlich der vorgebrachten schweren Messerverletzung werde die Vornahme einer ärztlichen Untersuchung beantragt. Weiters sei die Provinz Herat keineswegs ausreichend sicher und habe sich allgemein die Lage in Afghanistan weiter verschlechtert, insbesondere auch die Sicherheitslage in Kabul, wozu auf Gutachten der Sachverständigen Friederike STAHLMANN und Sarajuddin RASULY verwiesen wurde. Schließlich wurde auch noch die gute Integration in Ansehung des fast zweieinhalbjährigen Aufenthaltes hervorgestrichen.

Die ARGE-Rechtsberatung legte in der Folge weiters ein Empfehlungsschreiben des XXXX sowie der XXXX , weiters Kursbestätigungen für Deutschkurse A1 und A2, ein Deutschzertifikat A1 sowie Zertifikate hinsichtlich der Teilnahme an Workshops zur Menschenrechtsbildung und zur Gewaltprävention vor.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 05.01.2021 an, wobei der Beschwerdeführer zunächst eine Vollmacht des XXXX Österreich und sodann eine der XXXX vorlegte, welche weitere Integrationsdokumente, insbesondere über Teilnahme an einem Basisbildungskurs sowie hinsichtlich Mithilfe bei der XXXX vorlegte.

Der Beschwerdeführer erschien in der Beschwerdeverhandlung mit einer Mitarbeiterin der XXXX als Rechtsvertreterin sowie einer Vertrauensperson, die belangte Behörde ließ sich für ihre Nichtteilnahme entschuldigen. Die Rechtsvertreterin legte ein Unterstützungsschreiben der Fußballmannschaft in Plakatform sowie ein Unterstützungsschreiben des katholischen Pfarrers XXXX vor.

Der Beschwerdeführer hielt die Beschwerde und sein bisheriges Vorbringen aufrecht. Er wollte zwei Punkte korrigieren. Er habe beim letzten Interview nicht die Gelegenheit gehabt, seine Angaben ausführlich zu schildern und habe nur 15 Minuten Zeit gehabt und sei ihm auch ein Zettel vorgelegt worden, mit der Nationalität Iran. Diesen habe er nicht unterschrieben. Sein richtiger Name sei XXXX (dies im Hinblick auf eine Eingabe, aus der eine – nicht nachvollziehbare – Namensänderung zu entnehmen ist). Er sei afghanischer Staatsbürger, er halte es für möglich, dass seine Familie für ihn eine Tazkira beantragt habe, er wisse allerdings nichts davon. Er sei Hazara und Moslem/Schiit. Im Ramadan bete und faste er, sonst über er die Religion nicht aus. Er sei in XXXX im Iran geboren, wisse allerdings nicht wann. Derzeit sei er 21 Jahre. Über Vorhalt, dass er bei der Erstbefragung (AS 9) angegeben habe, in Herat in Afghanistan geboren zu sein, gab er an, dass dies nicht so stimme. Seine Eltern seien schon vor seiner Geburt im Iran gewesen. Dann sei sein Vater verschollen. Seine Mutter habe dann noch einmal geheiratet und dann wären sie nach Afghanistan gezogen. Nach Aufforderung, im Detail anzugeben, wo er im Laufe seines Lebens gelebt habe, gab er wiederum lediglich an, dass er im Iran geboren sei und dass seine Mutter, nachdem sein Vater verschollen sei, nochmals geheiratet habe und nach Herat gegangen sei. Er schloss dann an, dass er ungefähr fünf bis sechs Jahre alt gewesen sei, als er nach Afghanistan gekommen sei und selbst bis zu seiner Ausreise in Herat gelebt habe. Über Vorhalt, dass er beim BFA angegeben habe, dass die Familie aus Bamiyan stamme, bestätigte er dies, konkretisierte aber, dass er die ganze Zeit nur in Herat gelebt habe, aber sonst nirgends in Afghanistan. Gefragt, ob seine Eltern noch leben würden, gab er an, dass seine Mutter lebe, sein Vater aber verschollen sei. Seine Mutter habe ihn gesucht, aber er sei nicht zurückgekehrt. Seine Mutter sei nunmehr wieder nach XXXX zurückgekehrt. Sie lebe nach wie vor mit ihrem zweiten Mann zusammen und sie hätten vier gemeinsame Kinder. Er habe vier Vollgeschwister, zwei Schwestern und zwei Brüder und weiters vier Halbgeschwister. Die beiden Schwestern seien verheiratet und lebten im Iran. Eine Schwester habe bis vor kurzer Zeit in Herat gelebt, aber sei auch wieder in den Iran gegangen. Seine Mutter und sein Stiefvater hätten Probleme mit seinen Brüdern gehabt und hätten diese aus dem Haus geworfen. Ein Bruder sei dann in den Krieg nach Syrien gezogen und sei jetzt krank. Er nehme Drogen und es gehe ihm gesundheitlich schlecht. Seine Eltern hätten ihn psychisch fertiggemacht. Der andere lebe in Griechenland. Er sei dort in einem Asylverfahren.

Er habe in Afghanistan bis zur neunten Klasse die Schule besucht. Im Iran habe er, allerdings nicht regelmäßig, die Schule besucht. Neben der Schule habe er Autos gewaschen und sei auch als Verkäufer tätig gewesen und zwar habe er Getränke verkauft. Er habe schon im Alter von acht bis neun Jahren damit begonnen. Er habe gemeinsam mit seinem Bruder und seinem Stiefvater Autos gewaschen. Wirtschaftliche Probleme hätten sie nicht gehabt.

Er habe in Afghanistan auch keine Probleme mit staatlichen Behördenorganen gehabt; gefragt nach Problemen mit Privatpersonen, gab er an, dass er Probleme mit seinem Stiefvater gehabt habe. Er habe ihn und seine Vollgeschwister gehasst und schlecht behandelt. Er habe auch nicht gewollt, dass sie die Schule besuchen, sondern hätten sie den ganzen Tag arbeiten sollen. Wenn sie nichts verdient hätten, hätte er sie nicht ins Haus gelassen und hätten sie in der Moschee geschlafen. Er habe auch seine Mutter geschlagen.

Befragt, ob er in Afghanistan selbst konkrete Probleme mit bewaffneten Gruppierungen wie den Taliban gehabt habe, führte er zunächst aus, dass die Hazara und Schiiten überall in Afghanistan getötet würden. Dann gab er an, dass er mit weiteren zehn Personen in einem Fahrzeug unterwegs gewesen sei, als die Taliban oder die Al Quaida sie aufgehalten hätten. Ihre Gesichter wären verdeckt gewesen. Sie hätten sie nach den Familien und den Volksgruppen gefragt. Als sie bemerkt hätten, dass er ein Hazara sei, habe einer von ihnen seine Hand mit dem Messer verletzt. Er könne jetzt nicht mehr schreiben. Der Daumen sei nicht beweglich. Er versuche daher, mit der linken Hand zu schreiben. Die Hazara würden überall getötet, im Iran und auch in Pakistan. Dieser Vorfall habe sich vor sieben Jahren zugetragen und zwar in Herat. Aufgefordert näher zu beschreiben, wo, gab er an, dass dies im Ort XXXX gewesen sei. Dort hätte es immer wieder Gefechte zwischen der afghanischen Armee und den Taliban gegeben. Er sei in einem Kleinbus, welcher in Afghanistan XXXX genannt werde, unterwegs gewesen, und zwar habe er von der Arbeit zurück nach Hause fahren wollen. Es sei ungefähr halb sieben oder sieben am Abend gewesen. Es sei dunkel gewesen. Sechs oder sieben Personen hätten das Fahrzeug überfallen und hätten größere Augen und lange Haare gehabt, aber die Gesichter seien bedeckt gewesen. Über Vorhalt, dass er beim BFA ausdrücklich davon gesprochen habe, dass es Taliban gewesen wären (AS 243), nunmehr jedoch einräume, dass es entweder Taliban oder Mitglieder der Al Qaida gewesen wären, gab er an, dass er auch beim BFA gesagt habe, dass er sich nicht 100% sicher gewesen sei, ob es Taliban oder Mitglieder der Al Qaida gewesen seien. Die Personen hätten alle Kalaschnikows und auch ein Messer mit gehabt. Sie hätten ihn mit einem Messer verletzt. Sie hätten gesagt, sie wollten ihn nicht mehr sehen. Er sei dann ohnmächtig geworden und als er wieder zu sich gekommen sei, habe er sich im Krankenhaus befunden. Was mit den anderen passiert sei, wisse er nicht. Seine Hand sei im Krankenhaus genäht worden. Er habe zu diesem Zeitpunkt bei einer Getränkefirma gearbeitet und habe er danach Afghanistan verlassen. Durch den Überfall habe er eine Schnittverletzung an der rechten Hand bzw. am rechten Unterarm davongetragen. In welchem Krankenhaus er gewesen sei, könne er sich nicht erinnern. Er sei ca. 20 Tage im Krankenhaus gewesen. Da er sich einen weiteren Aufenthalt habe nicht leisten können, sei er vorzeitig entlassen worden.

Über Vorhalt, dass er beim BFA (AS 243) angegeben habe, dass er zunächst geschlagen worden sei und erst später mit einem Messer verletzt, gab er an, dass dies normal sei. Über Vorhalt, dass er bei der Erstbefragung (AS 19) lediglich die allgemeine schlechte Lage der Schiiten angegeben habe und überhaupt nichts von einem Überfall erwähnt habe, gab er an, dass er damals der Dolmetscherin auch seine Hand gezeigt habe und dass die ganze Befragung nur 15 Minuten gedauert habe. Er habe das Protokoll dann dem Betreuer seines Camps gezeigt und ihm sei aufgefallen, dass auch seine Nationalität falsch geschrieben worden sei. Über Vorhalt, dass bei der Erstbefragung als Staatsangehörigkeit richtigerweise Afghanistan protokolliert worden sei (AS 9), gab er an, dass dies später korrigiert worden sei. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus habe seine Mutter gesagt, dass das Land für sie nicht sicher sei und habe sie ihn in den Iran geschickt. Nach seiner Spitalsentlassung sei er noch ein bis zwei Monate in Afghanistan verblieben. Befragt, ob er in dieser Zeit noch Probleme mit bewaffneten Gruppierungen gehabt habe, gab er an, dass sich in der Zeit die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert habe. Dann sei er im Iran gewesen und hätte man ihn gefragt, ob er Interesse habe, in den Krieg nach Syrien zu ziehen. Sie seien alle gemeinsam in den Iran gegangen und dort habe ihnen die Polizei Probleme gemacht, darum sei er hierher geflüchtet. Bei dem erwähnten Vorfall sei nicht nur er, sondern seine ganze Familie bedroht worden.

Gefragt, aus welchen Gründen er den Iran verlassen habe, gab er an, dass er aufgefordert worden sei, in den Krieg nach Syrien zu gehen, da er keine Dokumente gehabt habe. Sie hätten ihm dann versprochen, dass sie der gesamten Familie Reisepässe bzw. Dokumente für den Iran geben würden. Er habe jedoch keineswegs in den Krieg ziehen wollen und deswegen beschlossen, nach Europa zu gehen. Nach seiner Flucht hätte man seinen jüngeren Bruder in den Krieg geschickt und seiner Familie auch einen Aufenthaltstitel gegeben. Sein Bruder sei aber später drogensüchtig geworden. Er melde sich nicht mehr und er mache sich Sorgen um ihn. An Verwandten in Afghanistan habe er auch noch Tanten mütterlicherseits gehabt. Diese würden jedoch auch zwischenzeitig im Iran leben. Außerdem habe er kein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt. Auch seine Freunde aus Afghanistan würden zurzeit im Iran leben. Einer sei nach Syrien geschickt worden und dort getötet worden. Befragt nach aktuellen gesundheitlichen oder psychischen Problemen gab er an, dass er im Alltag mit seiner Hand gehandikapt sei. Wenn er jemandem die Hand gebe, werde er ausgelacht, auch von Freunden aus Afghanistan.

Gefragt, was er derzeit in Österreich mache, gab er an, dass er die Sprache lerne und dreimal in der Woche zum Training gehe. Samstags würden sie spielen. Er habe durch den Fußball sowohl österreichische als auch afghanische Freunde gefunden. Nach dem Fußballspiel verbringe er auch mit diesen Zeit und würden sie gemeinsam ein Bier trinken. Er habe in Österreich den A1-Kurs mit Prüfung abgeschlossen, A2 leider nicht. Weiters habe er auch eine dreimonatige Ausbildung gemacht und vier Fächer, Englisch, Deutsch, EDV und Mathematik gehabt. Dies sei ein Basisbildungskurs gewesen. Den Pflichtschulabschluss habe er noch nicht absolviert, aufgrund seines Alters sei er dafür nicht genommen worden. Er habe in Österreich freiwillig in einer Asylunterkunft und in einem Altersheim gearbeitet und dafür auch ein Taschengeld bekommen. Er spiele beim XXXX Fußball. Aufgrund der Corona-Krise habe er seinen Spielerpass nicht holen können. Er könne diesen jedoch nachschicken (was in der Zwischenzeit nicht erfolgt ist). Er spiele als Stürmer links und rechts, der XXXX spiele in der Basisliga und da spiele er sowohl in der Reserve als auch in der Kampfmannschaft. Seine Mitspieler hätten für ihn unterschrieben, er habe auch andere österreichische Freunde, die nicht mit ihm Fußball spielen würden. Er habe auch eine österreichische Freundin gehabt, jetzt jedoch nicht mehr. Mit der anwesenden Vertrauensperson XXXX verbringe er Zeit. Er habe ihn durch einen Freund kennengelernt. Gefragt, ob er die Absicht habe, zum katholischen Glauben zu konvertieren, gab er an, dass er Respekt vor allen Religionen habe und für ihn die Menschlichkeit sehr wichtig sei. Er sei schon auch in der Kirche gewesen und er finde dies interessant. Befragt, ob er regelmäßig die Kirche besuchen würde, gab er an, dass er nur einmal beten gewesen sei.

Gefragt, was mit ihm geschehen würde, wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, gab er an, dass er dort niemanden mehr habe und er nicht wisse, wovon er leben solle. Außerdem habe er große Angst vor Terroristen. Viele Afghanen würden drogensüchtig werden. Er könne sich ein Leben dort nicht vorstellen und habe dort keine Zukunft. Hier in Österreich möchte er arbeiten und wie die anderen leben. Er möchte auch seine Hand operieren lassen, später eine Familie gründen und weiter hier leben. Über Vorhalt, dass er im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig sei, Schulausbildung und Berufserfahrung habe, ob er sich nicht vielleicht in Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen könne, gab er an, dass er niemanden mehr in Afghanistan habe. Er kenne sich in den anderen Provinzen nicht aus. Die Sicherheitslage in Mazar-e Sharif sei aber nicht besonders gut. In Afghanistan gebe es nur schwierige Arbeiten. Aufgrund seiner Handverletzung könne er solche nicht ausüben. In Österreich könne er sich vorstellen, im Reinigungsbereich zu arbeiten oder leichte Tätigkeiten auszuüben. Über Vorhalt des Strafregisterauszuges, in dem keine Verurteilung aufscheine, es jedoch im Akt mehrere Anzeigen wegen verschiedener Delikte gebe, führte er aus, dass die Jugendlichen in der Unterkunft viele Probleme gemacht hätten und er mit ihnen gemeinsam angezeigt worden sei. Viele würden jedoch gar nicht mehr in Österreich leben. Die Polizei habe ihm auch gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, weil er nichts getan habe. Die Rechtsvertreterin fragte, ob seine Familie, die im Iran lebe, ihn unterstützen könnte, wenn er in Afghanistan wäre. Dazu gab er an, dass er keine gute Beziehung zu seiner Familie habe und sie ihn nicht unterstützen würden. Ein weiteres Vorbringen habe er nicht.

Abschließend wurde den Verfahrensparteien das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (soweit verfahrensrelevant) zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt, wobei ausdrücklich noch weitere Integrationsdokumente vorgelegt werden könnten. Seitens der Beschwerdeführervertretung wurde eine Einstellungszusage der Firma XXXX für den Beschwerdeführer als Bodenleger-Lehrling vorgelegt. Weiters wurde eine Stellungnahme erstattet, wonach der Beschwerdeführer über keine familiären oder sonstigen Anknüpfungspunkte mehr in Afghanistan verfüge und dass hinsichtlich der aktuellen Situation in Afghanistan, insbesondere auch die COVID 19-Pandemie zu berücksichtigen sei. Auch sei zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Situation geraten würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist Moslem/Schiit. Er übt seine Religion zumindest im Ramadan aus. Er zeigt wohl Interesse am Christentum, ist aber nicht dabei, zu konvertieren. Der Beschwerdeführer wurde in XXXX im Iran geboren und ist, nachdem sein Vater verschwunden ist und seine Mutter nochmals geheiratet hat, im Alter von fünf bis sechs Jahren nach Herat gezogen, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan bis zur neunten Klasse die Schule besucht, weiters hat er verschiedene Hilfstätigkeiten, zum Beispiel Autowaschen, verrichtet. Er hatte in Afghanistan keine wirtschaftlichen Probleme. Auch mit staatlichen Behördenorganen hatte er keine Probleme in Afghanistan. Zu den Ausreisegründe können mangels glaubhafter Angaben keine Feststellungen getroffen werden. Eventualiter wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer familiäre Probleme mit seinem Stiefvater hatte und Opfer eines Überfalls der Taliban wurde, bei dem seine rechte Hand bzw. der rechte Unterarm verletzt wurden. Es ist jedoch keine persönliche Verfolgung des Beschwerdeführers in Afghanistan, auch nicht wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Religion, festzustellen.

Er hat Afghanistan gemeinsam mit seiner Familie (Mutter, Stiefvater, Halbgeschwister) etwa im November 2015 verlassen und reiste dann allein weiter nach Europa, weil er im Iran befürchtete, zwangsweise in den Krieg nach Syrien geschickt zu werden. Sein jüngerer Bruder verpflichtete sich für die Kriegsteilnahme in Syrien. Darauf bekam die Familie Aufenthaltsbewilligungen für den Iran. Der Bruder hat jedoch nunmehr Drogenprobleme. Ein weiterer Bruder hält sich in Griechenland auf. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan. Der Beschwerdeführer leidet unter keinen schwerwiegenden psychischen oder organischen Erkrankungen, er leidet jedoch darunter, dass er zum Beispiel von Afghanen ausgelacht werde, wenn er jemandem die rechte Hand gebe. Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse bis A2 absolviert und ein Deutsch-Diplom A1 erworben sowie einen Basisbildungslehrgang besucht, hat auch Freiwilligenarbeit in einem Altersheim und in einer Asylunterkunft geleistet und spielt beim XXXX Fußball, hat aber noch immer keinen Spielerpass. Der Beschwerdeführer wurde in Österreich nicht strafgerichtlich verurteilt, es gibt jedoch zahlreiche Anzeigen gegen den Beschwerdeführer wegen unterschiedlicher Delikte im Akt. Er pflegt freundschaftliche Kontakte mit Österreichern und gibt es für den Beschwerdeführer eine Einstellungszusage als Bodenleger-Lehrling.

Zu Afghanistan wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:

1. COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/
diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.
maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020.)

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020.

In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsrelevante_ LageIn_derIslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.pdf, Zugriff 20.9.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pandemic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020

•        F 24 (18.11.2020): https://www.flightradar24.com/38.14,61.2/4 , Zugriff 31.10.2020

•        Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-c ovid-19 , Zugriff 28.9.2020

•        IMPACCT - IMPortation And Customs Clearance Together (14.8.2020): COVID-19 Afghanistan Bulletin n° 7-CIQP: 14 August 2020, https://wiki.unece.org/download/attachments/101548399/Af ghanistan_-jCOVID-19j-jCIQPjBulletin_7.pdf?version=1&modificationDate=1597746065204&a pi=v2 , Zugriff 18.11.2020

•        IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html , Zugriff 17.11.2020

•        IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-1 9-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm _campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff

17.11.2020

•        Martin, Lucile / Parto, Saeed (11.2020): On Shaky Grounds - COVID-19 and Afghanistan's Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace, https://www.fes-asia.org/news/on-shaky -grounds/, Zugriff 18.11.2020

•        NH - The New Humanitarian (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid , Zugriff 18.11.2020

•        NYT - New York Times, The (31.7.2020): Border Clashes With Pakistan Leave 15 Afghan Civilians Dead, Officials Say, https://www.nytimes.com/2020/07/31/world/asia/afghanistan-pakistan-border. html , Zugriff 17.11.2020

•        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (21.8.2020): Pakistan Reopens Key Border Crossing With Afghanistan, https://gandhara.rferl.org/a/pakistan-reopens-key-border-crossing-with-afghani stan/30796100.html , Zugriff 17.11.2020

•        RW - Relief Web [Hall, Samuel] (9.2020): Brief report on the impact of COVID-19 on the situation of elderly people, https://www.ecoi.net/en/document-search/?asalt=8b1bb51cc9&country%5B% 5D=afg&countryOperator=should&useSynonyms=Y&sort_by=origPublicationDate&sort_order=d esc&content=Covid-19&page=5, Zugriff 17.11.2020

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM- Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html , Zugriff

17.9.2020

•        UNAMA- United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.8.2020): Afghanistan - PROTECTION OF CIVILIANS IN ARMED CONFLICT MIDYEAR REPORT: 1 JANUARY - 30 JUNE 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2020_-_27_july-revi sed_10_august.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (12.11.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-12-0, Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-15 , Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (30.6.2020): Humanitarian Response Plan Afghanistan 2018-2021, https://www.who.int/health-cluster/countries/a fghanistan/Afghanistan-Humanitarian-Response-Plan-COVID-19-June-2020.pdf?ua=1 , Zugriff

17.11.2020

•        WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-against- covid-19-afghanistan , Zugriff 19.11.2020

•        WHO - World Health Organisation (17.11.2020): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 17.11.2020

•        WHO - World Health Organization (8.2020): Situation Report August 2020, http://www.emro.whoj nt/images/stories/afghanistan/situation-report-august2020.pdf?ua=1,20.10.2020

•        WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 - SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports /documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 19.11.2020

2. Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN

17.5.2019) .

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ

21.4.2019) . Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Elec- tion Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigstenAkteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Ca- solino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.10.2020): Afghanistan: Politisches Porträt, https://www.au swaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/politisches-portraet/204718 , Zugriff

6.11.2020

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.

07.2020. pdf, Zugriff 22.10.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan's 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga, https://www.afghanistan-analysts.org/the-resul ts-of-afghanistans-2018-parliamentary-elections-a-new-but-incomplete-wolesi-jirga/, Zugriff

22.10.2020

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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