Entscheidungsdatum
26.02.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W140 2126699-2/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2016, Zl. 1098331707/151961885, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Herkunftsstaat der beschwerdeführenden Partei ist Afghanistan. Der Beschwerdeführer (BF) gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Islam an. Am 09.12.2015 stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 09.12.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV). Dagegen erhob der BF Beschwerde.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.12.2017 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ein Dolmetscher für die Sprache Dari und die Vertreterin des BF teilnahmen. Die Verhandlung gestaltete sich u. a. wie folgt:
„R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?
BF: Ich bin afghanischer Staatsbürger.
R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?
BF: Ich stamme aus Maidan Wardak.
R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.
BF: Ich heiße XXXX , bin am XXXX in der Provinz Maidan Wardak, im Distrikt XXXX geboren. Ich bin afghanischer Staatsangehöriger.
R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Hazara und in einer hazarischen Familie aufgewachsen.
R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin schiitischer Moslem.
R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin in AF verheiratet und habe ein Kind. Bei meinem Kind handelt es sich um ein Adoptivkind.
R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe in AF die 12. Schul-Klasse abgeschlossen. Ich habe nicht studiert und war am Bau tätig.
R: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Ich habe gearbeitet und Geld verdient. Auch meine Mutter war in der Landwirtschaft beschäftigt. Sie konnte ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.
R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo? Wovon lebt ihre Familie? Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?
BF: In AF leben meine Mutter, meine Ehefrau und mein Kind. Meine Mutter mit dem Kind leben in Maidan Wardak. Es ist schwierig mit ihr Kontakt aufzunehmen. Meine Gattin arbeitet im Verteidigungsministerium und hat dort auch eine Bleibe. Mit ihr stehe ich in Kontakt.
R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?
BF: Ich habe bereits eine Tazkira sowie eine Heiratsurkunde vorgelegt. Ich hatte eine Kopie der Tazkira.
Die Tazkira wird in Kopie zum Akt genommen. Das Original wird dem BF wieder ausgefolgt.
R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?
BF: Nein. Ich war lediglich für die Baufirma tätig.
Ermittlungsermächtigung:
R: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?
BF: Ja.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
R: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.
BF: Wir waren drei Brüder. Ein Bruder von mir wurde bei kriegerischen Auseinandersetzungen gegen die Kutschis in Maidan Wardak getötet. Ich begann bei der Firma XXXX zu arbeiten. Ich arbeitete an verschiednen Projekten an unterschiedlichen Orten mit. Mein Bruder XXXX wurde auf dem Weg nach Maidan Wardak ebenfalls getötet. Auf diesem Weg gibt es Kontrollstützpunkte der Taliban. Als mein Bruder von den Taliban angehalten wurde, trug er einen Ausweis der Firma XXXX bei sich. Ich setzte meine Arbeit für XXXX fort und nahme weiterhin an Projekten teil. Ich begann bei der Firma als einfacher Arbeiter, entwickeltee mich jedoch, bis ich zuletzt den Posten des Supervisors bekam. Zuletzt arbeitet ich an einem Projekt in Kabul. Ich war Vorarbeiter für die Fliesenleger. Gegen Ende des Projektes musste ich einige wenige Arbeiter entlassen.
R: Beschreiben Sie die Firma XXXX näher (Firmengebäude etc.).
BF: Bei XXXX handelt es sich um eine amerikanische Firma, welche auf militärische Projekte abzielte. Es ging um Projekte für die afghanische Nationalarmee, die amerikanischen Soldaten, den Flughafen etc. Der Hauptsitz der Firma war in der Stadt Kabul. Es ist ein erkennbares Gebäude in der XXXX . Fast jeder in Kabul kennt die Firma und weiß, dass es eine amerikanische Infrastrukturfirma für das Militär ist. Außerdem befindet sich vor dem Gebäude ein Firmenschild. Vor dem Firmeneingang steht Wachpersonal. Die Verträge wurden mit Amerikanern unterschrieben. Es hängt von der persönlichen Einstellung ab, ob man es als etwas Besonders ansieht, dass man für Amerikaner oder Christen arbeitet, oder nicht. Für manche ist es relevant, für manche weniger, für wen man arbeitet. Ich habe an verschiedenen Projekten mitgearbeitet. Diese wurden in unterschiedlichen Provinzen realisiert. Wie bereits erklärt, musste ich gegen Ende jedes Projektes Arbeiter entlassen. Das war die Anweisung meiner Vorgesetzen. Diese musste ich befolgen. Ich persönlich hatte sowohl tadschikische wie auch usbekische und paschtunische Arbeiter. Für mich ist die Volksgruppenzugehörigkeit oder der Glaube nicht wichtig. Hauptsache war, dass ich mit den Menschen gut zusammenarbeiten konnte. Es ist klar, dass man die Gedanken der Menschen nicht lesen kann, deshalb war mir die Denkweise meiner Mitarbeiter nicht bekannt. Ich hatte einige paschtunische Arbeiter, die mir gegenüber Drohungen äußerten und zwar sagten sie, dass sie mir dies und das antun würden, wenn ich sie von der Liste nehme, also entlassen sollte. Ich hatte aber keine andere Wahl, da ich mit etwa 50 Arbeitern ein Projekt begonnen, aber mit max. 3 bis 4 Personen das Projekt beendet habe. Ich befand mich in meinem Quartier (welches mir die Firma zur Verfügung stellte), als ich in der Früh aufwachte, fand ich einen Drohbrief vor. Zunächst hielt ich das Schreiben für nicht allzu wichtig und beachtete es nicht. Dann sprach ich mit meiner Mutter darüber. Sie sagte, dass dieses Schreiben nicht die einzige Sache sei, denn auch sie hatte unterschiedliche Sachen über mich gehört.
Damals waren ein Jahr und einige Monate nach dem Tod meines Bruders XXXX vergangen. Wie gesagt, war dieses Schreiben für mich zunächst nicht wichtig. Doch dann wurde der ganze Fall wichtiger. Ehrlich gesagt, kannte ich das Islamische Emirat nicht, aber dann versetzt mich die ganze Sache in Angst. Im Brief stand der Name meines getöteten Bruders XXXX . Außerdem stand darin, dass ich für Ungläubige arbeite, täglich Frauen sehe und ein Diener der Amerikaner sei. Ich sei selber ungläubig. Im Brief stand außerdem, dass mir das selbe Schicksal wiederfahren wird, wie meinem Bruder. Das hat mir wirklich Angst gemacht.
R an BFV: Haben Sie betreffend den BF noch etwas vorzubringen?
BFV: Ich lege erneut den „Drohbrief der Taliban“ und ersuche hinsichtlich der Bedrohungslage des BF ein Gutachten erstellen zu lassen. Der Drohbrief wird zum Akt genommen.
R: Ich werde ein Gutachten in Auftrag geben.“
Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.12.2017 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.
Mit Eingabe vom 10.08.2018 wurde seitens der Vertreterin des BF ein ergänzendes Vorbringen betreffend Konversion des BF erstattet. Eine Taufurkunde der „Freie Christengemeinde-Pfingstgemeinde XXXX “ vom 04.03.2018 sowie ein Schreiben der Freien Christengemeinde vom 03.12.2017 - in welchem ausgeführt wird, dass der BF regelmäßig Gottesdienste und Hauskreise besucht sowie am Taufunterricht teilnimmt - wurde vorgelegt.
Mit Eingabe vom 10.09.2018 wurde eine Bescheinigung der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 30.08.2018 über den Austritt des BF aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft vorgelegt.
Mit Eingabe vom 21.01.2021 wurde ein Schreiben der Freien Christengemeinde vom 21.01.2021 vorgelegt, aus welchem hervorgeht, dass der BF Mitglied dieser Kirche ist und vor dem ersten Lockdown regelmäßig Gottesdienste und Hauskreise besuchte. Seit der Pandemie finden Gottesdienste online statt. Der BF ist am 04.03.2018 beim Taufgottesdienst getauft worden und wurde an diesem Tag als Mitglied der Kirche aufgenommen. Der BF habe dem Islam öffentlich in der Freien Christengemeinde-Pfingstgemeinde XXXX abgesagt. Mit Eingabe vom 19.01.2021 wurde ein Zeugnis des BF über die Absolvierung der Pflichtschulabschluss-Prüfung an der Neuen NÖ Musik-Mittelschule XXXX vorgelegt.
Mit Eingabe vom 15.02.2021 erstattete die Sachverständige nachstehendes Gutachten:
„1. Einleitung
Das vorliegende Rechercheergebnis bezieht sich auf die Angaben des Beschwerdeführers, Herrn XXXX , welche er im Rahmen seines Asylverfahrens vor den zuständigen österreichischen Behörden und dem BVwG getätigt hat. Zunächst wird eine Zusammenfassung der Angaben des Beschwerdeführers wiedergegeben. Im Anschluss werden eingeholte Informationen über die vom Beschwerdeführer angegebene Firma „ XXXX “ eingearbeitet, gefolgt vom Ergebnis der Vorort-Recherchen bezüglich der Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund.
2. Zusammenfassung der Angaben zur Identität und Herkunft des Beschwerdeführers
Herr XXXX brachte in seinem Asylverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu seiner Identität vor, am XXXX geboren worden und afghanischer Staatsangehöriger zu sein. Im Einvernahmeprotokoll der Behörde (BFA) ist das Geburtsdatum des Herrn XXXX mit XXXX festgehalten. Er stamme aus der Provinz Maidan Wardak, dem XXXX . Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei Moslem shiitischer Glaubensrichtung. Er sei verheiratet und habe ein Adoptivkind. Zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab Herr XXXX an, dass er die 12. Schulklasse abgeschlossen habe, jedoch nicht an einer Universität studiert habe und am Bau tätig gewesen sei. Herr XXXX führte zudem aus, dass er Kontakt zu seiner Ehegattin habe, die im Verteidigungsministerium arbeite, wo ihr eine Bleibe zur Verfügung gestellt worden sei. Seine Mutter und sein Kind seien in Maidan Wardak aufhältig und es sei schwierig, mit diesen in Kontakt zu treten. Seine Mutter sei allerdings in der Lage den Lebensunterhalt für sich und für die Tochter des Herrn XXXX zu bestreiten, indem sie in der Landwirtschaft arbeitet. Zu seinem Berufsleben gab Herr XXXX überdies an, für die Firma XXXX zunächst als einfacher Arbeiter und später als Vorarbeiter für Fliesenleger tätig gewesen zu sein.
3. Zusammenfassung der Angaben zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Herr XXXX gab zu seinen Fluchtgründen an, dass er für die Firma XXXX tätig gewesen sei und an verschiedenen Projekten an unterschiedlichen Orten mitgearbeitet habe. Er führte aus, dass einer seiner zwei Brüder bei kriegerischen Auseinandersetzungen gegen die Kuchis getötet worden sei und sein zweiter Bruder auf dem Weg nach Maidan Wardak von den Taliban umgebracht worden sei, da dieser einen Ausweis der Firma XXXX mitgeführt habe. Nach dessen Ermordung habe Herr XXXX seine Arbeit für die Firma XXXX fortgesetzt und an Projekten teilgenommen. Er habe zuletzt den Posten des Supervisors bekommen. Er habe zunächst an einem Projekt in Kabul gearbeitet, wo er als Vorarbeiter für die Fliesenleger beschäftigt gewesen sei. Herr XXXX führte aus, dass er gegen Ende des Projektes auf Anweisung seines Vorgesetzten einige Arbeiter entlassen habe müssen. Herr XXXX gab ergänzend an, dass er nicht nur tadschikische, sondern auch usbekische und pashtunische Arbeiter gehabt habe und für ihn persönlich weder die Volksgruppenzugehörigkeit, noch die Religion eine Rolle gespielt habe. Allerdings hätten einige pashtunische Mitarbeiter Herrn XXXX gegenüber Drohungen geäußert, ihm etwas anzutun, falls er diese entlassen sollte. Herr XXXX hätte aber keine andere Wahl gehabt. Herr XXXX habe in seinem Quartier, zur Verfügung gestellt von der Firma, gewohnt. Eines Morgens habe er einen Drohbrief vorgefunden. Er habe mit seiner Mutter darüber gesprochen und diese erklärte Herrn XXXX , dass sie ebenfalls unterschiedliche Dinge über ihn gehört habe. Den Brief habe Herr XXXX zunächst nicht beachtet. Allerdings habe ihm dieser Angst gemacht, da der Name des getöteten Bruders des Herrn XXXX im Brief enthalten gewesen. Im Brief sei Herrn XXXX unterstellt worden, dass er ein Diener der Amerikaner sei, für Ungläubige arbeite und täglich Frauen sehe, sowie dass er selber ungläubig sei. Der Brief enthalte die Drohung, dass Herrn XXXX dasselbe Schicksal widerfahren werde, wie seinem Bruder, was Herrn XXXX tatsächlich in Angst versetzt habe.
Zur Firma XXXX gab Herr XXXX bei seiner Einvernahme vor dem BVwG an, dass es sich dabei um eine amerikanische Firma handele. Sie realisiere militärische Projekte, insbesondere Projekte für die afghanische Nationalarmee, für die amerikanischen Soldaten sowie Flughafenprojekte. Die Firma habe ihren Hauptsitz in der XXXX . Es handele sich bei XXXX um eine amerikanische Infrastrukturfirma für das Militär, bei der die Verträge für die einzelnen Projekte mit den Amerikanern unterschrieben worden seien.
4. Ergebnis der Vor-Ort-Recherche + Informationen über die Firma XXXX
Zur Durchführung der Recherchen hinsichtlich der Angaben des Herrn XXXX wurde meine Kontaktperson Herr (…) beauftragt, Informationen in Kabul-Stadt einzuholen. Laut Herrn (…) entsprechen die Angaben des Herrn XXXX zum Bestehen der Firma XXXX , deren Aufgabengebiet und Projekte der Wahrheit.
Die genaue Adresse der Firma lautet laut meiner Kontaktperson XXXX Laut den Angaben eines Mitarbeiters der Firma XXXX in Kabul, wurde das Unternehmen im Jahr XXXX gegründet und erwuchs durch die Fusion mit XXXX rasch zu einem globalen Anbieter mit Niederlassungen in Ägypten, Bahrain, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuweit, Afghanistan, Japan etc. Die Firma XXXX ist auch in Ländern mit kritischer Sicherheitslage tätig. Die Inlandteams bestehen aus vielen lokalen Mitarbeitern, die an den Projekten in Ihren Ländern arbeiten. Laut den erhaltenen Informationen realisierte die Firma XXXX mehrfach Bauprojekte in unterschiedlichen Provinzen von Afghanistan, unter anderem das Militärausbildungslager der Afghanischen Nationalarmee im Auftrag der US-Armee, sowie einzelne Projekte am Militärflughafen von Bagram. Im Zuge dieses Projektes bauten sie den Kontrollturm und eine östliche Flugbahn samt der gesamten Logistik und Infrastruktur, zum Beispiel Geschäfte, Transportwege und Cargo. Es konnte bestätigt werden, dass alle Verträge tatsächlich von den Amerikanern geprüft und unterschrieben werden und erst danach die Arbeit an einem Projekt begonnen werden kann. Das Budget für die einzelnen Projekte betrug laut dem Mitarbeiter der Firma mehrere Millionen US-Dollar.
Befragt, ob Mitarbeiter der Firma von Bedrohungen durch die Taliban betroffen waren und ob bekannt sei, dass Mitarbeiter der Firma getötet wurden bzw. Drohbriefe bekommen haben, gaben die befragten Personen, die für die Firma Tätig waren, an, dass immer wieder Mitarbeiter ihre Jobs gekündigt hätten, weil sie aufgrund ihrer Mitarbeit mit den Amerikanern bedroht worden wären. Sie ergänzten, dass es immerzu vorgekommen sei, dass Mitarbeiter, die aus gefährlichen Provinzen Afghanistans, in denen die Taliban präsent waren, gestammt haben, in das Visier der Taliban geraten seien und Drohanrufe bekommen haben. Die befragten Mitarbeiter gaben einstimmig an, dass sie persönlich weder Drohbriefe erhalten haben, noch von Mitarbeitern mitbekommen haben, dass sie Drohbriefe bekommen haben, sie jedoch nicht ausschließen können, dass die Mitarbeiter Drohbriefe erhalten haben. Sie gaben ergänzend an, dass die Taliban ständig Drohbriefe an Mitarbeiter von ausländischen Firmen, des Militärs, der staatlichen Behörden sowie ausländischen Hilfsorganisationen verschickt haben. Sie ergänzten, dass diese Briefe Forderungen, Ultimaten und Drohungen enthalten. Es sei mehrfach bekannt, dass wenn die Forderungen nicht erfüllt wurden, die in den Briefen angedrohten Strafen tatsächlich umgesetzt worden seien. Befragt, ob ihnen der Beschwerdeführer XXXX der zuletzt als Vorarbeiter der Fliesenleger tätig gewesen sei, bekannt sei, gaben die befragten Personen an, den Namen XXXX zu kennen, jedoch zum Familiennamen nichts angeben können, zumal in Afghanistan Familiennamen nicht wichtig seien. Befragt, ob sie etwas über die Probleme des Herrn XXXX wissen, gaben diese an, dass dieser einer jener Mitarbeiter gewesen sei, der aufgrund von Talibandrohungen mit der Arbeit aufgehört habe. Zur Frage, ob Herr XXXX jemals Drohbriefe bekommen habe, gaben die befragten Personen an, dass sie davon nichts gehört haben, es jedoch für sehr wahrscheinlich halten, da Herr XXXX gezwungen war, mit der Arbeit aufzuhören. Zu der Tötung des Bruders des Herrn XXXX , konnten die befragten Personen keinerlei Angaben machen. Auch bezüglich des Berufes der Ehegattin des Herrn XXXX und wo die Familie aktuell wohne, hatten die befragten Personen keine Informationen.“
Mit Parteiengehör vom 15.02.2021 wurde das Gutachten dem BFA mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Mit Eingabe vom 17.02.2021 erstattete das BFA eine Stellungnahme, in welcher u. a. Folgendes ausgeführt wird:
„(…)Zum Rechercheergebnis:
Eingangs führt die bB an, dass sich das bloß 6 seitige Rechercheergebnis zum größten Teil mit der Wiederholung des Vorbringens des BF beschäftigt, und nur auf den letzten 1,5 Seiten mit tatsächlichen Recherchen vor Ort befasst. Werden seitens der bB die Angaben in dem relevanten Teil des Rechercheergebnis beleuchtet, so ist klar erkennbar, dass bloß vage Ausführungen über Bedrohungen bzw. Drohbriefe getätigt wurden bzw. in keinster Weise von direkten Tätigkeiten gegen Firmenangehörige berichtet wurde. Zu den Ausführungen hinsichtlich der Firma XXXX wird angeführt, dass die Ausführungen seitens des BF von der bB in keinster Weise in Frage gestellt wurden. Eindeutig ist nach Analyse des Rechercheergebnis festzustellen, dass dieses keine tatsächliche, aktuelle oder gar individuelle Bedrohung des BF belegen kann. Diesbezüglich wird auch auf die Ausführungen im angefochtene Bescheid verwiesen, im speziellen hinsichtlich des Drohbriefes, welcher bloß eine Aufforderung die Tätigkeiten einzustellen darstellte, und dieser Aufforderung ist der BF nachgekommen, weshalb hieraus auch keine Bedrohung resultieren kann (Bescheid 17.03.2017 Seite 111). In toto ist somit das Fehlen einer wohlbegründeten Furcht vor einer aktuellen, individuellen Bedrohung/Verfolgung iSd GFK klar daliegend, weshalb schon deshalb eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist. Im Übrigen steht dem BF zumutbar eine IFA mit den Großstädten Herat und Masar-e Scharif zur Verfügung, da der BF jung, gesund, arbeitsfähig ist und somit nicht auf familiäre bzw. soziale Netzwerke angewiesen ist, wie dies auch die aktuellen EASO Richtlinien vom Dezember 2020 ausführen, weshalb der Status des Asylberechtigten auch gem. §3 Abs 3 Z1 AsylG abzuweisen ist.
Zum subsidiären Schutz:
Die bB erkennt in den aktualisierten LIB Afghanistan (Stand: 16.12.2020) sowie den aktuellen EASO- Richtlinien (Stand Dez 2020) keine Ausführungen, welche eine Änderung der getroffenen Feststellungen im angefochtenen Bescheid nach sich ziehen würden.
Es ist anzuführen, dass der BF bei einer Rückkehr keiner existentiellen Notlage iS der Art. 2/3 EMRK ausgesetzt wäre, zumal der BF auch nicht in eine spezielle vulnerable Gruppe nach den UNHCR oder EASO Richtlinien fällt.
Auch vor dem Hintergrund der COVID-19 Lage, ergeben aus Sicht der bB keine Änderung der getroffenen Feststellungen, dass eine Rückkehr nach Afghanistan für den BF zumutbar ist und keine Gefährdung iS der EMRK darstellt. Diesbezüglich verweist die bB auf die Judikatur der Höchstgerichte,wo der VfGH und der VwGH haben ausgeführt haben, dass COVID-19 zu keinem „real-risk" bei einer Rückkehr von grundsätzlich gesunden Afghanen führt (siehe VfGH E 2406/2020; 06.10.2020 sowie ua VwGH Ra 2020/20/0373; 09.11.2020).
Zu der aktuellen Situation des Privat- und Familienlebens:
Bezüglich strafrechtlich relevanter Vorfälle merkt die bB an, dass h.a. keine vorliegend sind. Das normgerechte Verhalten eines im BG aufhältigen Fremden stellt eine Grundvoraussetzung dar, so wie für jeden anderen auch, und ist in keinster Weise als eine besondere Integrationsleistung zu werten. Eine aktuelle Abfrage der Sozialversicherung ergab, dass der BF bisher noch nie arbeitstätig war. Überdies verweist die bB auf den Umstand, dass alle Integrationsmaßnahmen im Wissen des Status des unsicheren Aufenthalts erfolgt sind, und deshalb iSd §9 BFA-VG auch minder zu werten sind, zumal der BF nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens verfügte. Diesbezüglich ist auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte sowie auf die zahlreichen Stattgebungen von Amtsrevisionen zu verweisen.
Zusammenfassend stellt die Behörde daher den Antrag die Beschwerde in allen Punkten als unbegründet abzuweisen.“
Mit Parteiengehör vom 22.02.2021 wurde das Gutachten sowie die Stellungnahme des BFA der Vertreterin des BF mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Mit Eingabe vom 25.02.2021 erstattete die Vertreterin des BF eine Stellungnahme mit folgendem Inhalt:
„Das BFA führt an, dass das Rechercheergebnis nicht dazu geeignet gewesen sie, eine individuelle Bedrohung des BF zu belegen.
Dabei übersieht das BFA, dass der BF zum Nachweis der Individualität den an ihn gerichteten Drohbrief vorgelegt hat, in dem er namentlich genannt wird und auch auf die Ermordung seines Bruders (ebenfalls namentlich genannt) Bezug genommen wird. In Zusammenhang mit der Auskunft des Dienstgebers des BF, wonach dieser nach Bedrohungen seinen Dienst aufgegeben hätte ist der Nachweis der Individuellen Bedrohung gelungen.
Was die Frage der Aktualität angeht, so ist davon auszugehen, dass der BF den Taleban namentlich bekannt ist und als „Verräter“ wegen der Zusammenarbeit mit dem verhassten Westen bei den Taleban auch auf einer sog.: Blacklist vermerkt wurde. Es mag zwar sein, das der BF seine Arbeit aufgegeben hat, aber bei der Prüfung der Aktualität der Bedrohung ist auch auf das aktuelle Szenario einzugehen, somit im Falle des BF die Situation bei einer forcierten Außerlandesbringung nach Afghanistan.
Aus alles bekannten Quellen (wie UNHCR und EASO) ergibt sich, dass die Taleban, was ihre geheimdienstlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten angeht, sehr gut organisiert und an allen staatlichen Behörden und Kontrollstellen durch Spitzel vertreten sind.
Reiste der BF also über den Flughafen Kabul ein, so bliebe dies den Taleban nicht verborgen und es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass diese den BF als „Verräter“ schnell identifizieren können. Der BF liefe daher unmittelbar Gefahr, von den Taleban aufgesucht und zu zumindest befragt zu werden, was in der Regel mit schweren Misshandlungen, Drohungen oder sogar einer extralegalen Verhaftung oder Tötung einhergeht.
Darüber hinaus hat sich der BF in Österreich taufen lassen und besucht regelmäßig die Gottesdienste seiner Gemeinde. Er lebt seinen Glauben öffentlich.
Bei der Beurteilung, ob der BF im Falle seiner forcierten Außerlandesbringung nach Afghanistan Art 3 relevanten Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt wäre, ist aber, unabhängig von seiner inneren Überzeugung auch zu prüfen, ob er wegen seines in Österreich offen gelebten Glaubens, seiner Kirchenbesuche und wegen des Umstandes, dass er auch mit seinen Freunden afghanischer Herkunft über seinen neuen Glauben spricht, diesen also publik macht, in Afghanistan als Konvertit denunziert würde, was jedenfalls schon ausreichte, Art 3 relevante Verfolgung auszulösen.
Konversion wird als Apostasie angesehen und ist nach der Auslegung der Sharia durch die Gerichte mit dem Tod zu bestrafen. Das afghanische Strafgesetzbuch nennt Apostasie zwar nicht explizit und die afghanische Verfassung enthält zwar auch das nulla poena sine lege-Prinzip, allerdings verweist das Strafgesetzbuch hinsichtlich „ungeheuerlicher“ Straftaten, wozu auch Apostasie zählt, auf die Hanafi-Jurisdiktion. Konvertiten, die ihrem neuen Glauben nicht innerhalb von drei Tagen abschwören, droht neben dem familiären und gesellschaftlichen Verstoß die Annullierung ihrer Ehe und der Entzug jeglichen Besitzes. Die öffentliche Meinung ist gegenüber unislamischer Missionierung feindselig eingestellt. Anwälte, die der Apostasie Beschuldigte vertreten, haben deshalb auch selbst Anklagen wegen Apostasie und Todesdrohungen zu gewärtigen. Das Gesagte gilt in gleicher Weise für Blasphemie.
Vorurteile gegen Konvertiten sind in der Bevölkerung weit verbreitet und führen zu umfänglicher Verfolgung.
Im aktuellen Bericht von Accord zu diesem Thema (Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15. Juni 2020) wird ausgeführt, dass sogar die Familien von (vermeintlichen) Konvertiten enorm unter Druck gesetzt werden, die Irregeleiteten zu sanktionieren, sie werden dann aus dem Familienverband ausgeschlossen, müssen völlig isoliert leben und geraten so in eine vulnerable Situation.
Dem BF droht also über die fluchtauslösende Bedrohung hinaus, Verfolgung wegen seines in Österreich offen gelebten christlichen Glaubens, was zur Verfolgung im gesamten Staatsgebiet führte. Es steht ihm daher keine innerstattliche Fluchtalternative offen.
Aus all diesen Gründen werden die Beschwerdeanträge an dieser Stelle wiederholt und die Stattgabe der Beschwerde beantragt.“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die beschwerdeführende Partei ist afghanischer Staatsangehöriger. Der BF gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Islam an. Er stammt aus der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX . Der BF ist unbescholten. Der BF ist verheiratet und hat ein Adoptivkind. Der BF schloss in Afghanistan die zwölfte Schulklasse ab. Der BF war für die Firma XXXX - eine amerikanische Infrastrukturfirma für das Militär - tätig und arbeitete an verschiedenen Projekten an unterschiedlichen Orten. Ein Bruder des BF wurde auf dem Weg nach Maidan Wardak von den Taliban umgebracht, da er einen Ausweis der Firma XXXX mitführte. Nach dessen Ermordung setzte der BF seine Arbeit für die Firma XXXX fort. Zuletzt bekam er den Posten des Supervisors. Gegen Ende des Projektes musste der BF auf Anweisung seines Vorgesetzten Arbeiter entlassen. Einige paschtunische Mitarbeiter äußerten dem BF gegenüber Drohungen, ihm etwas anzutun, falls er diese entlassen sollte. Der BF hatte aber keine andere Wahl. Der BF wohnte in einem Quartier, welches ihm von der Firma zur Verfügung gestellt wurde. Eines Morgens fand er einen Drohbrief der Taliban vor. Dieser Brief machte dem BF Angst, da der Name des getöteten Bruders des BF im Brief angeführt war. In diesem Brief wurde dem BF unterstellt, dass er ein Diener der Amerikaner sei, für Ungläubige arbeite, selbst ungläubig sei sowie täglich Frauen sehe. Der Brief enthielt die Drohung, dass dem BF dasselbe Schicksal widerfahren werde, wie seinem Bruder. Der BF sah sich in weiterer Folge gezwungen mit dieser Arbeit aufzuhören und Afghanistan zu verlassen. Der BF wurde am 04.03.2018 beim Taufgottesdienst in der „Freie Christengemeinde-Pfingstgemeinde XXXX “ getauft und wurde an diesem Tag als Mitglied der Kirche aufgenommen. Der BF besucht regelmäßig Gottesdienste. Der BF trat am 30.08.2018 aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft aus. Der BF absolvierte die Pflichtschulabschluss-Prüfung an der Neuen NÖ Musik-Mittelschule XXXX . Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan besteht aktuell die Gefahr - aufgrund des Netzwerkes der Taliban - dass der BF von diesen identifiziert und bedroht/getötet wird. Asylausschließungsgründe sind keine zutage getreten.
1.2. Feststellungen zur Lage in der Islamischen Republik Afghanistan:
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 06.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.03.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt, um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.03.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004; USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist Personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Rgierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).
(Auszug Länderinformation 16.12.2020, Kapitel 4).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar Bewegungsfreiheit2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes HalbJahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).
Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.07.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kbul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020 vgl.; BBC 25.03.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020, USDOD 6.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020, AnA 28.07.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020).
Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020, RFE/RL 02.06.2020).
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Tali